§ 8. Die Erpressungspolitik gegen die Juden in Baden

Nirgends trat das Bestreben, die jüdische Religion in den Emanzipationskampf hineinzuziehen, so krass zutage wie im Großherzogtum Baden. In diesem Lande, dessen Verfassung damals die liberalste in ganz Deutschland war, trug man keine Bedenken, den Verzicht der Juden auf all ihre einer Verschmelzung mit den Deutschen im Wege stehenden national-religiösen Eigenheiten zur Vorbedingung der Emanzipation zu machen. Während sich in Bayern allein die Regierung eine solche Einmischung in das geistige Leben der Juden erlaubte, schreckten in Baden auch die Volksvertreter nicht davor zurück, und zwar selbst die fortschrittlichsten unter ihnen.

Für die 20.000 Seelen starke jüdische Bevölkerung des badischen Landes galt nach wie vor das Gesetz von 1809 (Band VIII, § 82), das das Bürgerrecht der Juden von ihrem Übergang zu einer „bürgerlichen Nahrungsart“ abhängig machte. Die 1815 einsetzende Reaktion blieb auch hier nicht ohne traurige Folgen. In dem Chor der Judenhasser, dessen Dirigent der Berliner Professor Rühs war, klang auch die schrille Stimme des gegen den „verwilderten Humanismus“ wetternden Heidelberger Professors Fries mit (oben, § 2). Zwar wurde die Schrift, in der Fries zur Ausrottung der Juden aufforderte, von der Polizei eingezogen und auch der Verfasser selbst seines Lehramtes enthoben, inzwischen war aber die von ihm und seinesgleichen ausgestreute Saat üppig ins Kraut geschossen. Die im Jahre 1819 in Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe ausbrechenden Judenhetzen waren die Frucht des reaktionären Überpatriotismus. Der Minister Sensburg, ein getaufter Jude, führte die Unruhen auf den Brotneid der Kleinbürger und Handwerker zurück, die es den Juden missgönnten, dass sie sich den ehedem geschlossenen Handwerken und der Landwirtschaft zugewandt hatten, d. h. eben jenen „bürgerlichen Nahrungsarten“, auf die man bis dahin die jüdische Bevölkerung als auf die unerlässliche Vorbedingung ihrer Gleichberechtigung verwiesen hatte. Jetzt stand der Regierung ein anderer Vorwand für die Verweigerung der Gleichberechtigung zur Verfügung: das Modeprinzip des „christlichen Staates“. Die neue badische Verfassung bestimmte ausdrücklich, dass ausschließlich Personen christlicher Konfession zu den Staats- und Kommunalämtern zugelassen werden sollten. Als diese Verfassungsbestimmung im Jahre 1819 im Landtag zur Sprache kam, gab ein Vertreter der reaktionären Kammermehrheit der diese beherrschenden Gesinnung in folgenden offenherzigen Worten Ausdruck: „Solange diese Nation (die Juden) so hartnäckig wie bisher auf ihren Zeremonialgesetzen, auf ihren Feiertagen, auf dem Genuss eigener Speisen und Getränke besteht, solange sie dadurch eine Scheidewand mit unseren Sitten und Gewohnheiten zieht, solange ist unser Entgegenkommen gegen solche eine übel verstandene Humanität“. Die gleiche Ansicht wurde von dem badischen Publizisten Paulus in seinem früher erwähnten Buche „Die jüdische Nationalabsonderung“ (oben, § 5) noch ein Jahrzehnt später vertreten, als infolge der Pariser Julirevolution der politische Himmel in Deutschland sich bereits aufzuheitern begann. „Die Judenschaft, solange sie wirklich im rabbinisch-mosaischen Sinn jüdisch sein zu müssen glaubt — meinte der Heidelberger Theologe — , kann deswegen nicht Staatsbürgerrechte bei irgendeiner anderen Nation erhalten, weil sie selbst eine abgesondert bestehende Nation bleiben will und es für ihre Religionsaufgabe hält, dass sie eine solche von allen Nationen, unter denen sie Schutz gefunden hat, immer geschiedene Nation bleiben müsse“. Durch derlei Argumente sollten die „deutschen Staatsregierungen und landständischen Versammlungen“ beeinflusst werden, denen, wie erwähnt, die Schrift des Paulus gewidmet war. Dessen Tendenzschrift rief den jungen Riesser und andere Verfechter der Emanzipation auf den Plan. Die Frankfurter Neologen Michael Creizenach und Michael Heß traten Paulus in einem Buche entgegen, dessen zweiter, von Heß verfasster Teil die Überschrift trug: „Epistel der Hebräer an Paulus“ (1831). Der witzige Titel krönte indessen einen recht oberflächlichen Gedankengang: die Verfasser bemühten sich nämlich zu beweisen, dass die nach Paulus der Emanzipation im Wege stehenden nationalgeschichtlichen Besonderheiten des Judentums im Schwinden begriffene Rudimente seien. Solche Apologien von jüdischer Seite waren freilich nicht dazu angetan, den Eindruck, den das Pamphlet des Paulus auf die deutsche Leserwelt gemacht hatte, irgendwie abzuschwächen. Die Epistel des Apostels des liberalen Judenhasses an die Regierungen und Landstände gelangte prompt an die richtige Adresse.


Als im Juni 1831 die zweite Kammer des badischen Landtags mit der Besprechung einer Reihe jüdischer Petitionen um Gewährung der Gleichberechtigung begann, zeigte sich sogleich, dass Paulus mit seiner Anregung, die Emanzipation an die Beseitigung der nationalen Elemente des Judentums zu knüpfen, Schule gemacht hatte. Die Kammer einigte sich auf den Beschluss, die Regierung zu bitten, „eine Versammlung von Abgeordneten der Israeliten des Landes zu veranlassen und ihr diejenigen Vorlagen zu machen, welche die Regierung selbst für zweckmäßig findet, um die der weiteren Zivilisation der Juden und ihrer Gleichstellung mit den Christen entgegenstehenden Hindernisse nach Tunlichkeit zu beseitigen“. So wurde in Erwiderung auf die von den Juden vorgebrachte Forderung der bürgerlichen Emanzipation, wenn auch in verschleierter Form, die Forderung laut, dass die Juden sich vom Judentum emanzipieren sollten. Das Ministerium übermittelte die Entschließung des Landtags dem „Oberrat der Israeliten“ und forderte diesen auf, die Einberufung einer jüdischen Abgeordnetenversammlung in die Wege zu leiten. Der Oberrat gab indessen auf die Zumutung, um der Erlangung der Gleichberechtigung willen mit dem Gewissen Schacher zu treiben, die gebührende Antwort: „Wir halten dafür — schrieb er — , dass solche Angelegenheiten, welche dem Inneren des Menschen angehören, sich überhaupt nicht für das Gebiet politischer Verhandlungen eignen . . . Wohl mögen religiöse Meinungen und Gefühle nach dem weltgeschichtlichen Gange der Entwicklung des menschlichen Geistes und Gemütes ihren äußeren Ausdruck verändern und eine andere Gestalt annehmen . . . Eine Verleugnung der höheren Menschennatur und ein Todeskeim für alle religiösen Gefühle wäre es aber, wenn Änderungen in dem Religions- und Kirchensystem in der Absicht zur Erreichung zeitlicher Vorteile, und seien sie auch von der höchsten politischen Wichtigkeit, vorgenommen würden“. Aus diesen Erwägungen schlug der Oberrat vor, auf die Tagesordnung der in Aussicht genommenen Versammlung nicht religiöse, sondern allein das bürgerliche und soziale Leben berührende Fragen, wie etwa die der Verbesserung der rechtlichen und wirtschaftlichen Lage der Juden, des Schulwesens u. dgl., zu setzen (1882). Da nun dieser Vorschlag eine Schmälerung des vom Landtag aufgestellten Programms bedeutete, beschloss die Regierung, von der Einberufung einer jüdischen Abgeordnetenversammlung überhaupt Abstand zu nehmen.

Die Wiederaufnahme des Kampfes ums Recht erfolgte im Jahre 1833. Der rasche Fortschritt des Liberalismus in Raden bewog die Juden, den geraden Weg der Einwirkung auf die Volksvertretung einzuschlagen. Zur Begründung ihres Anspruchs auf die Gleichberechtigung überreichten sie dem Landtag eine umfangreiche Denkschrift, deren Verfasser Gabriel Riesser war. Unter Hinweis darauf, dass alle gegen die Gleichberechtigung vorgebrachten Argumente sich entweder auf die Religion oder auf die Moral oder auf die Nationalität bezögen, setzte sich Riesser mit diesen Gegengründen der Reihe nach auseinander. Indem er klarzumachen suchte, dass weder die Dogmen und Gebräuche noch die Moral des Judentums der modernen Zivilisation, der sich die Juden in immer steigendem Maße anpassten, in irgendeinem Punkte widersprächen, stellte er zugleich mit nicht geringerem Nachdruck unter Hinweis auf seine oben schon dargelegten Beweisgründe auch die ,,uns aufgebürdete Nationalität“ in Abrede. Von dem zuständigen Landtagsausschuss als durchaus beachtenswert befunden, wurde die Denkschrift zum Gegenstand einer Aussprache in der Ersten Kammer. Viele der Kammermitglieder äußerten sich hierbei in lobender Weise über die Fortschritte der Bildung unter den Juden, über ihren immer fester werdenden Anschluss an die deutsche Kultur sowie über ihr offensichtliches Bestreben, durch Förderung des Großhandels, des Handwerks und der freien Berufe das jüdische Wirtschaftsleben auf Kosten des Kleinhandels in neue Bahnen zu lenken, woraus sie den Schluss zogen, dass die jüdische Bevölkerung bereits für die Emanzipation reif sei. Anderen Rednern schien hingegen die unverzügliche Gewährung der Gleichberechtigung unzweckmäßig zu sein. Die Aussprache in der Ersten Kammer schloss mit der Annahme einer Resolution, in der die Petition der Juden dem Ministerium zur Weiterveranlassung dringend empfohlen wurde.

Eine andere Wendung nahmen die Debatten, die am 27. September 1833 in der Zweiten Kammer stattfanden. Den Bericht der sich mit der Judenfrage befassenden Kommission erstattete hier der Führer der liberalen Partei, der bekannte Geschichtsschreiber Karl v. Rotteck. Er teilte mit, dass sich die Mehrheit der Kommission für die Ablehnung der jüdischen Petition ausgesprochen habe, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Es ginge nicht an, die Juden zu einer Zeit zu emanzipieren, da noch viele Christen der politischen Rechte beraubt seien; 2. den Juden fehle ohnehin nur wenig zur vollen Gleichberechtigung; und 3. die Erfüllung ihrer Wünsche würde eine Verfassungsänderung voraussetzen; obendrein harrten wichtigere Fragen der Entscheidung. Die sophistische Art, in der die Liberalen im Laufe der Debatte diese Scheingründe zu verteidigen suchten, war womöglich noch widerwärtiger als die zynische Offenherzigkeit der Verfechter des „christlichen Staates“. Rotteck und seine Gesinnungsgenossen suchten unter anderem zu beweisen, dass der Staat keineswegs an der Gewissensfreiheit rüttele, wenn er einer konfessionellen Gruppe die Gleichberechtigung nur gegen bestimmte Konzessionen auf religiösem Gebiete zu bewilligen entschlossen sei, und dass die Juden in Baden, wie aus ihrem raschen kulturellen Aufschwung ersichtlich sei, überhaupt keinen Grund zur Unzufriedenheit hätten. Nach ausgedehnten Debatten bestätigte schließlich die Zweite Kammer die Landtagsresolution von 1831, die die Emanzipation von der Beseitigung der ihr entgegenstehenden Hindernisse durch die Juden selbst abhängig machte, und sprach zugleich die Erwartung aus, dass die jüdische Bevölkerung zur Erreichung des von ihr ersehnten Zieles den einzigen dahin führenden Weg einschlagen, d. h. sich zu Konzessionen auf dem Gebiete des geistigen Lebens bereit finden werde.

Da sich indessen die badischen Juden durch diese Erpressungspolitik, die gegen ihre Religion gerichtet war, nicht mürbe machen ließen, so wurde die Emanzipation auf unbestimmte Zeit vertagt. Zwar wurde durch die von den unermüdlichen jüdischen Gemeinden auch später wiederholt eingereichten Petitionen das Gespenst der Judenfrage in den Landtagskammern immer aufs neue heraufbeschworen, doch gingen diese jedesmal nach Kenntnisnahme der vorgebrachten Wünsche kurzerhand zur Tagesordnung über. Erst im Jahre 1846, als der liberale Gegner der Gleichberechtigung Rotteck nicht mehr am Leben war, hatte sich die Zweite Kammer zu der Erkenntnis durchgerungen, dass ein das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz nicht anerkennender Liberalismus eine Inkonsequenz sei, und fasste mit einer Mehrheit von 36 Stimmen gegen 18 den Beschluss, alle die Gleichberechtigung der Juden betreffenden Petitionen der Regierung zur wohlwollenden Prüfung zu empfehlen. Noch waren die badischen Gesetzgeber mit dieser Prüfung beschäftigt, als sie von der Umwälzung des Jahres 1848 überrascht wurden.