§ 7. Der Kampf um die Emanzipation in Bayern

Am bedeutsamsten für die Emanzipationsbewegung im Deutschland dieser Zeit ist, wenn man von Preußen absieht, Bayern. Die verhältnismäßig zahlreiche jüdische Bevölkerung dieses Landes (50 bis 65.000 Seelen) stand unter der Herrschaft zweier verschiedener Rechtssysteme. In Altbayern war noch immer das Edikt von 1813 in Kraft, jenes harte „Erziehungsgesetz“, das in der Absicht, „die Zahl der Judenfamilien nach und nach zu vermindern“, deren Vermehrung und Freizügigkeit aufs äußerste beschränkte (Band VIII, § 82). In der nach dem Befreiungskriege mit Bayern wieder vereinigten Rheinpfalz hingegen blieb das alte französische Gesetz über die Gleichberechtigung in Geltung, die allerdings im Laufe der Zeit eine empfindliche Schmälerung erfuhr. Als nämlich im Jahre 1818 dem Königreich Bayern eine Verfassung oktroyiert wurde, wurde bekanntgegeben, dass nicht nur die Juden Altbayerns, sondern auch die der Rheinpfalz von der Vertretung in der Ständeversammlung ausgeschlossen blieben. In dem durch die Verleihung der Verfassung ausgelösten allgemeinen Jubel musste die Lage der Entrechteten besonders trostlos erscheinen. Noch im selben Jahre wurde ihnen eine neue schwere Beleidigung zugefügt: in Fürth, wo die Juden den fünften Teil der Einwohnerschaft ausmachten, wurde bei den Stadtverordnetenwahlen kein einziger Jude gewählt, während selbst unter der allen Ordnung die dortige jüdische Gemeinde zwei Vertreter in den Stadtrat entsenden durfte. Auf eine diesbezügliche Beschwerde der Gemeinde hin gab König Maximilian Joseph seinen Willen kund, dass der Magistrat von einem so ,,befremdenden Verfahren“ künftighin Abstand nehmen und in allen die jüdische Gemeinde betreffenden Angelegenheiten ihre Vertreter zu Rate ziehen solle. Voll Dank für das Wohlwollen des Königs richtete die Fürther Gemeinde an diesen eine Adresse, in der sie dem Gedanken Ausdruck gab, dass „die Religion, das Heiligtum der Herzen, keine Scheidewand bilde, welche Bürger von Bürgern, König und Untertan trennen könnte“. Die Adresse klang in den pathetischen Satz aus: „O, dass die Völker es nur auch so begriffen, fühlten und darnach handelten! Sie würden sich alsdann alle brüderlich umarmen, und der Unterschied der Religion würde alsdann nur an den Formen in den Bethäusern bemerkbar sein, und gewiss wären die Israeliten die Ersten, welche ihren christlichen Mitbrüdern den Bruderkuss aufrichtig darböten“.

Indessen beschränkten sich die Führer der bayerischen Judenheit keineswegs darauf, ihr Herz vor dem König auszuschütten, sondern waren zugleich bemüht, auch die Volksvertretung zu beeinflussen. Im April 1819 fand in München eine Konferenz jüdischer Notabeln statt, die den Beschluss fasste, den bayerischen Landtag um Ergänzung der neuen Verfassung durch einen die Gleichberechtigung der Juden gewährleistenden Artikel zu ersuchen. Die hierauf vom Rabbiner S. W. Rosenfeld verfasste und dem Landtag zugeleitete Eingabe trug den Titel: „Denkschrift an die hohe Ständeversammlung, die Lage der Israeliten und ihre bürgerliche Verfassung betreffend“. Nachdem die Denkschrift zur öffentlichen Kenntnis gelangt war, wandte sich die christliche Kaufmannschaft von München ihrerseits an die Volksvertreter mit einer Gegenpetition, in der sie die Aufrechterhaltung aller für ihre jüdischen Konkurrenten geltenden Rechtsbeschränkungen forderte. Zugleich wurde die jüdische Frage auch in der Literatur erörtert. Der Erlanger Professor A. Lips veröffentlichte im März 1819 eine Schrift „Über die künftige Stellung der Juden in den deutschen Bundesstaaten“, eine Untersuchung über die Ursachen der damals in Deutschland ausgebrochenen antijüdischen Bewegung. Darauf hinweisend, dass ein Judenhass rege geworden sei, „wie er kaum in den düsteren Zeiten des Mittelalters geherrscht haben mag“ (?), führte Lips ebenso wie Rühs und die übrigen preußischen Judenfeinde diesen Hass auf die Eigenart der ihre Anhänger von der christlichen Umwelt absondernden jüdischen Religion, auf die Einseitigkeit der Wirtschaftstätigkeit der Juden u. dgl. zurück; indessen lehnte es der Verfasser ab, den Schlussfolgerungen der Judenhasser beizustimmen: voller Achtung für das geschichtliche Martyrium der jüdischen Nation, gab er vielmehr dem Glauben an die Möglichkeit ihrer Besserung Ausdruck. Hierzu bedürfe es, meinte Lips, lediglich der „Ablegung ihrer nationalen Vorurteile, der Läuterung ihres Glaubens und ihrer Sitten, der Verschmelzung mit uns (den Deutschen) und unserer Denkart in politischer Hinsicht“, kurz ihres Verzichtes auf die nationale Existenz. Ein solches Ergebnis könne aber, wie der Verfasser weiter ausführte, eher auf dem Wege einer liberalen, als auf dem einer repressiven Gesetzgebung erzielt werden. Die Schrift von Lips wurde auch außerhalb Bayerns viel beachtet. Die assimilierten jüdischen Gebildeten beeilten sich zu erklären, dass sie mit den Ausführungen des liberalen Professors durchaus einverstanden seien.


Im Mai 1819 klärte sich auch die Stellungnahme des bayerischen Landtags zu den in der jüdischen Denkschrift ausgesprochenen Wünschen. Er beschloss, die Regierung zu ersuchen, zwecks Erweiterung der Rechte der Juden das Edikt von 1813 einer Revision zu unterziehen. Der König stimmte diesem Beschlüsse zu und versprach, dass das Innenministerium unverzüglich an die geforderte Revision gehen werde, um schon der nächsten Ständeversammlung einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen zu können (22. Juli). Noch waren indessen keine vierzehn Tage vergangen, als die Straßen der bayerischen Städte von jenem „Hep! Hep!“-Ruf widerhallten, der das Zeichen für die in verschiedenen Gegenden Deutschlands ausgebrochenen Judenhetzen gab (oben, § 2). In Würzburg, Bamberg und anderen Städten fielen die deutschen Krämer über ihre jüdischen Handelsrivalen her und gaben so ihren Protest gegen die in Aussicht genommene Gleichberechtigung zu erkennen. Eine Folgeerscheinung des das damalige Deutschland beherrschenden reaktionär-patriotischen Rausches, hatten die in Bayern ausgebrochenen Judenhetzen ihren Grund wohl nicht zuletzt auch in dem Bestreben der interessierten Berufsstände, die Juden und die Regierung durch das Gespenst der im Falle der Emanzipation unausbleiblichen „Volksrache“ einzuschüchtern. Der Erfolg blieb nicht aus: die Regierung vertagte die in Aussicht gestellte Revision des Judenedikts, während die bayerische Judenheit nicht wenig Zeit brauchte, um sich von dem brutalen Schlag zu erholen, der ihr als Erwiderung auf den dargebotenen „Bruderkuss“ versetzt worden war.

Ende 1821 trat in München erneut eine Versammlung jüdischer Notabein zusammen, die drei Mitgliedern des Münchener Gemeinde Vorstandes den Auftrag erteilte, beim König wegen „vollkommener Gleichstellung in Hinsicht der Rechte wie Pflichten“ vorstellig zu werden. In der Petition wurde darauf hingewiesen, dass die Entrechtung der Juden der eigentliche Nährboden der ihnen von christlicher Seite bekundeten Verachtung sei. So sprachen die Bittsteller unter anderem den Wunsch aus, dass die verletzenden Ausdrücke „Jude“ und „Schutz Jude“ aus dem amtlichen Sprachgebrauch verschwinden möchten, und erklärten zugleich, dass die „Israeliten“ bereit seien, für die Verbesserung ihrer inneren Lebensverhältnisse im Geiste neuzeitlicher Gesittung „die größten Opfer“ zu bringen. Die Regierung war jedoch nicht geneigt, den Wünschen der Juden noch weiter Rechnung zu tragen. Sie sprach vielmehr den Münchener Behörden ihre Unzufriedenheit darüber aus, dass sie in der Versammlung der jüdischen Notabeln Äußerungen geduldet hätten, „welche mit der Verfassungs-Urkunde nicht zu vereinbaren sind“, da man nicht zulassen dürfe, „dass die Judenschaft sich als eine Korporation betrachte“. Als dann im Mai 1822 das Landtagspräsidium sich an das Ministerium mit der Anfrage wandte, wann endlich der Entwurf des verheißenen Judengesetzes fertiggestellt sein würde, erfolgte die Antwort, dass der Regierung die Revision des Judenedikts „noch nicht zeitgemäß“ erscheine und „dass den Israeliten vorerst noch Wege genug offen stünden, in der begonnenen Bildung fortzuschreiten“. Dies besagte: mögen die Juden sich Mühe geben, der Gleichberechtigung dereinst würdig zu werden, ohne sich indessen über deren Durchführung schon in nächster Zukunft Illusionen zu machen.

Die Juden Ließen sich das nicht zweimal sagen. Ein Teil von ihnen gab die einseitige Betätigung im Handel auf und wandte sich dem Handwerk und der Landwirtschaft zu; die jüdischen Schulen wurden nicht allein in bezug auf die Unterrichtssprache, sondern auch auf das Lehrprogramm eifrig germanisiert; der Andrang der Juden zu den deutschen Mittel- und Hochschulen wurde immer größer; immer mehr wuchs die Zahl der jüdischen Advokaten, Ärzte und Gelehrten, doch blieben ihnen die Universitätslehrstühle ebenso wie alle öffentlichen Ämter überhaupt nach wie vor unzugänglich. So häufte sich denn innerhalb der bayerischen Judenheit allmählich ein Energievorrat an, der es ihr ermöglichte, nach dem Jahre 1830, als das Land zu neuem politischen Leben erwacht war, den Kampf ums Recht ohne Säumen wieder aufzunehmen. Schon im Jahre 1831 unterbreiteten die Gemeinden von Fürth, Ansbach und Würzburg dem bayerischen Landtag eine Petition, aus der mit aller Deutlichkeit ein Protest herauszuhören war: „Fünfzigtausend Einwohner des Reiches, welche mit den christlichen Glaubensgenossen und Staatsbürgern ganz gleiche Lasten tragen und alle Staatsbürgerpflichten erfüllen — so stand in der Petition zu lesen — entbehren noch immer des Genusses nicht nur der Staatsbürgerrechte, sondern sogar der wichtigsten, heiligsten und an sich unverletzbaren Menschenrechte, bloß darum, weil sie zu einer Konfession sich bekennen, welche die Mutter der christlichen ist . . . Fünfzigtausend Einwohner des Reiches seufzen unter dem schweren Drucke harter und ungerechter Ausnahmegesetze, deren Abänderung und Aufhebung seit zwölf Jahren feierlich zugesichert und seither oft, aber vergeblich von der Staatsregierung erfleht worden ist. Ein unveräußerliches, unverletzbares Menschenrecht ist es, ein Vaterland zu haben, seine Geistes- und Körperkräfte frei zu gebrauchen, Eigentum zu besitzen, sich ansässig zu machen und zu verehelichen, im Ehestande Kinder zu erzeugen und zu erziehen und diesen selbst ein Vaterland, einen eigenen Herd und den gesicherten Besitz und Genuss der Menschenrechte zu hinterlassen. Wo es aber geboten ist, die Zahl der Familien zu vermindern, wo ihre Vermehrung verboten und die Ansässigmachung auf eine gewisse Anzahl und auf einige Orte beschränkt, übrigens aber untersagt ist, da haben unsere Kinder kein Vaterland, kein Eigentum, keinen Erwerb, da sind sie verurteilt, ehelos zu bleiben, auf Vater- und Menschenrechte zu verzichten und physisch und sittlich zugrunde zu gehen . . .“.

Diese und ähnliche dem Landtag zugegangenen Petitionen wurden zunächst von einem Sonderausschuss geprüft, worauf dann am 5. November 1831 in der Abgeordnetenkammer die jüdische Frage zum Gegenstand einer eingehenden Aussprache gemacht wurde. Der Berichterstatter der Kommission, Dr. Lang, setzte sich rückhaltlos für die Erfüllung der von den Juden vorgebrachten Wünsche ein und legte hierbei den größten Nachdruck auf den prinzipiellen Hinweis, dass die Unterdrückung einer bestimmten Bürgergruppe mit dem Wesen des Rechtsstaates völlig unvereinbar sei. Er schlug der Kammer vor, den König zu bitten, die unverzügliche Nachprüfung der die Juden betreffenden Gesetze sowie die Einbringung eines auf dem Prinzip der Gleichheit der Bürger aufgebauten Gesetzentwurfes zu veranlassen. Zusammen mit der vom Berichterstatter beantragten Resolution wurde der Kammer eine Entschließung der Minderheit der Kommission vorgelegt, die zwar gleichfalls „die Beseitigung der gegründeten Beschwerden der Judenschaft und die Erleichterung ihrer bisherigen bürgerlichen Verhältnisse“ forderte, jedoch mit dem Vorbehalt, „dass die Bekenner der mosaischen Religion dem Talmud entsagen und die Sabbatfeier auf den Sonntag verlegen“. Diese ungeheuerliche Formel, die die Juden dazu aufforderte, Bürgerrechte durch Konzessionen im Bereiche der Religion zu erkaufen, wurde freilich mit allen Stimmen gegen eine abgelehnt. Außer Lang sprachen sich zugunsten der Gleichberechtigung auch mehrere andere Abgeordnete aus. „Machen Sie die Staatsverfassung zur Wahrheit! — rief der Abgeordnete Cullmann aus — sie ist es jetzt nicht. Sie spricht Glaubensfreiheit aus und gestattet noch die Unterdrückung der Juden; sie will volle Gleichheit vor dem Gesetze und gibt sie den Juden nur rücksichtlich der Lasten und Pflichten“. Einige Redner wiesen auf die immer größer werdende Zahl solcher Juden hin, die, statt sich mit Kleinhandel zu befassen, im Handwerk und der Landwirtschaft fortzukommen suchten, oder über die für die Ausübung freier Berufe erforderlichen Kenntnisse verfügten. Nach beendeter Aussprache nahm die Kammer die von Lang beantragte Resolution einstimmig an und erhielt hierauf von der Regierung das Versprechen, dass sie „eine umfassende Revision der über die Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen bestehenden Gesetze und Verordnungen“ vornehmen lassen werde.

Der Beschluss des bayerischen Landtags löste in den Reihen der Vorkämpfer der Emanzipation unbeschreiblichen Jubel aus. In einem besonderen Festartikel erklärte der temperamentvolle Riesser, dass der 5. November 1831 für die deutschen Juden ein ebenso denkwürdiger Tag werden würde, wie der 27. September 1791 für die französischen Juden. Die Freude war indessen verfrüht. Die mit der verheißenen „Revision“ beschäftigte bayerische Regierung ging so sehr in dieser Arbeit auf, dass sie an deren Ziel kaum noch dachte. Die von ihr eingeleiteten Nachforschungen betrafen weniger die soziale Lage der Juden als ihre inneren Lebensverhältnisse, den Aufbau der Gemeinden und sogar die jüdischen Glaubenslehren. Mit echt deutscher Gründlichkeit zog man Erkundigungen über das Leben der Juden in seiner ganzen Vielseitigkeit ein, und so nahm die amtliche Umfrage über drei Jahre in Anspruch. Nachdem das ganze Material beisammen war, sah sich die Regierung plötzlich vor einer neuen Schwierigkeit. Es stellte sich nämlich heraus, dass sich im Schoße der jüdischen Gemeinden verschiedene religiöse Strömungen bekämpften, und dass in der Auffassung des Judentums weitgehende Meinungsverschiedenheiten zwischen Orthodoxen und Neologen bestanden (unten, § 11 — 13). Der Regierung schien es daher angezeigt, sich zunächst Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern eine Reorganisation der gespaltenen jüdischen Gemeinden im Bereiche der Möglichkeit liege. Es war dies freilich nur ein bequemer Vorwand, um die Ausarbeitung des in Angriff genommenen Gesetzentwurfes weiter hinauszögern zu können, da ja zwischen der Durchführung der bürgerlichen Reform und dem religiösen Zwiespalt in den Gemeinden kaum ein innerer Zusammenhang bestand. Gleichwohl gab sich die Regierung den Anschein, als bereite ihr die Uneinigkeit der Juden schwere Sorgen, ja seelischen Kummer. Im November 1835 wandte sich das Ministerium des Innern mit einem Runderlass an die Provinzialbehörden, in dem diese angewiesen wurden, angesichts der unter den Juden in bezug auf die religiösen Dogmen, den Gottesdienst, die Erziehung und die „kirchliche Verfassung“ überhaupt herrschenden Unstimmigkeit sowie im Hinblick auf die geplante Ausarbeitung eines Normalstatuts für die jüdischen Gemeinden und ihre Vereinigung unter einer staatlich beaufsichtigten „Oberkirchenbehörde“ in allen Kreisen des Königreiches jüdische „Kirchenversammlungen“ einzuberufen.

In den ersten Monaten des Jahres 1836 traten in Ausführung des ministeriellen Erlasses in einer Reihe bayerischer Städte: in Würzburg, Bayreuth, Ansbach, Augsburg, Speyer, Regensburg und München von den jüdischen Gemeinden beschickte Kreisversammlungen zusammen. Es beteiligten sich an ihnen Rabbiner, Schullehrer und angesehene Kaufleute, insgesamt über 400 Delegierte. Wiewohl in den Versammlungen alle Parteirichtungen vertreten waren, führten in ihnen zumeist die der Rabbiner- und Lehrergruppe angehörenden Neologen das große Wort. Ihnen war die Einmischung der Regierungsgewalt in das religiöse Leben, von der sie die amtliche Anerkennung der von ihnen eingeführten Neuerungen erhofften, überaus willkommen. Jeder Kreisversammlung war ein Regierungskommissar beigegeben, der die Tagung zu überwachen hatte. Den Delegierten wurden umständlich ausgearbeitete Fragebogen vorgelegt, deren Inhalt in jedem Kreise der jeweiligen theologischen Gelehrsamkeit der zuständigen Behörde entsprach. Die Fragen bezogen sich auf alle Quellen, Dogmen und Gebräuche des Judentums, auf die Organisation der Gemeinden, des Rabbinats und der Schulen. Manche der vorgelegten Fragen muten recht komisch an: „Kennt, bekennt oder verwirft die Jüdische Lehre die vom Pentateuch begründete Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit?“ „Sind die Juden des Glaubens, dass nur sie allein von Adam und Eva abstammen?“ ,,Was ist unter den Wörtern ,Goi' bzw. ,Sabbat-Goi' zu verstehen?“ Es fehlte auch nicht an Fragen, die inhaltlich mit den seinerzeit vom bayerischen Landtag verworfenen Vorbedingungen der Gleichberechtigung übereinstimmten, wie etwa die, ob es angängig sei, die Sabbatfeier auf den Sonntag zu verlegen, und ob dem Talmud bindende Autorität zukomme. Viele der Fragen gaben in den Versammlungen zu leidenschaftlichen Debatten Anlass. Die der Regierung erteilten Antworten spiegelten die Meinungsverschiedenheiten zwischen Orthodoxen und Neologen wider. So glaubte die Mehrheil der Versammlungen im Bereiche der Dogmatik lediglich die dreigliedrige Glaubensformel des Joseph Albo (Gott, Offenbarung, Vergeltung) als bindend anerkennen zu müssen, während sich die Minderheit für die dreizehn Glaubensartikel des Maimonides einsetzte. Am schärfsten schieden sich die Geister in der das messianische Dogma betreffenden Frage: während die Neologen von einem nationalen Erlöser nichts wissen wollten und allein die Erneuerung der sittlichen Weltordnung für die Aufgabe des Messias hielten, betonten die Orthodoxen zugleich seine politische Mission: die Wiederherstellung des jüdischen Staates. Stark umstritten war daneben die Frage der Verbindlichkeit des Talmud. Die Würzburger Synode sprach sich dahin aus, dass nur die ältesten der vom Talmud überlieferten Vorschriften obligatorisch seien; auch die Bayreuther Versammlung stand nicht an, sich für die Aufhebung der „zweiten Feiertage“ und anderer vom Talmud eingeführter Gebräuche auszusprechen; in Ansbach und München siegte hingegen die Ansicht, dass die Grundlagen der talmudischen Gesetzgebung unantastbar seien. Mit nicht geringerer Schärfe tobte der Streit um die Fragen der gottesdienstlichen Zeremonien, um die deutsche Predigt, den Ausschluss der Gebete um die Entsendung des Messias u. dgl. m. Die Verlegung der Sabbatfeier auf den Sonntag wurde indessen von allen Synoden ohne Ausnahme mit Entschiedenheit abgelehnt. Was endlich die Zentralisation der Gemeindeselbstverwaltung durch die Errichtung eines Oberrabbinats anlangte, so wurde diese namentlich von der Reformpartei befürwortet. Die Uneinigkeit der Bezirksversammlungen hätte die Regierung normalerweise veranlassen sollen, zwecks Behebung der zutage getretenen Meinungsverschiedenheiten eine jüdische Generalsynode einzuberufen; indessen lag ihr gerade daran, die ergebnislosen Tagungen der Kreissynoden und die religiösen Parteiungen innerhalb der Judenheit als einen Beweis dafür auszuspielen, dass die bürgerliche Reform noch durchaus verfrüht sei. Die von der wortbrüchigen Regierung zum zweiten Mal betrogenen jüdischen Gemeinden begannen den König erneut mit Petitionen und Denkschriften zu bestürmen. Im Jahre 1887 bekam er von der Fürther, Ansbacher, Münchener und anderen Gemeinden bittere Klagen über die Unerträglichkeit der durch das Edikt von 1813 festgesetzten Normen zu hören. In den Petitionen wurde unter anderem betont, dass viele Juden, durch die „Matrikel“-Ordnung, die Normierung der Ehen und die Einschränkung der Freizügigkeit beengt, Bayern verließen und nach den Vereinigten Staaten Nordamerikas auswanderten. Unter Hinweis auf die unerfüllt gebliebenen Versprechungen baten die Gemeinden um „die Ausarbeitung eines dem Geiste der Verfassung und der fortgeschrittenen Bildung der Israeliten entsprechenden Gesetzentwurfes“. Die Eingaben wurden dem König zum Teil von jüdischen Deputationen unmittelbar in die Hand gelegt. Der König und seine Minister überflogen die ihnen unterbreiteten Petitionen, lobten zuweilen ihren Stil und legten sie zu den Akten, Das seit dem Jahre 1887 fest im Sattel sitzende konservativ-klerikale Ministerium Abel, das sogar die Protestanten rechtlich zurückzusetzen suchte, wollte von der jüdischen Gleichberechtigung nichts wissen. Unerfüllt blieben auch die von den Neologen auf die Regierung gesetzten Hoffnungen. Die frommen katholischen Machthaber ließen es sich nicht nehmen, zugleich auch über die jüdische Frömmigkeit zu wachen. Im Jahre 1838 ließ ein ministerielles Rundschreiben die jüdischen Gemeinden wissen, dass die Regierung „die alles verflachende rationalistische Kritik der israelitischen Grundlehren und Zeremonial-Satzungen“ ebenso wie die zu der „so verderblichen Neologie und dem religiösen Indifferentismus“ führende Aufklärung aufs schärfste missbillige. So scheute sich die den Juden die verheißenen Bürgerrechte vorenthaltende Regierung nicht, für sich selbst das Recht in Anspruch zu nehmen, ihnen auf dem Gebiete der Religion Verhaltungsmaßregeln zu diktieren.

Der Kampf um die Emanzipation wurde in Bayern erst nach einer längeren Ruhepause, im Jahre 1815 wieder aufgenommen, als auch in Preußen die liberale Bewegung Oberwasser zu gewinnen begann. Um die Wende dieses Jahres liefen beim bayerischen Landtag 26 Petitionen von verschiedenen jüdischen Gemeinden ein. Nunmehr waren es die Volksvertreter und nicht der König nebst seinen Ministern, von denen man in erster Linie Hilfe erwartete. Indessen sollten sich auch die auf den Landtag gesetzten Hoffnungen als trügerisch erweisen. Zwar machte sich bei der Besprechung der jüdischen Frage im Landtag eine starke liberale Strömung zugunsten der Juden bemerkbar, doch führte der bekannte Theologe Ignaz Döllinger, der in seiner Rede den kulturellen Zustand der Judenschaft in düsteren Farben schilderte, in der Gesinnung der Abgeordneten einen plötzlichen Umschwung herbei. Die am 7. Mai 1846 angenommene Resolution verlangte eine Revision des „Juden edikts“ nicht etwa zwecks Durchführung der Gleichberechtigung, sondern lediglich zum Zwecke der Beseitigung der beschwerlichsten Rechtsbeschränkungen. Die Regierung erklärte sich mit dieser Resolution einverstanden, zögerte aber noch immer, sie in die Tat umzusetzen. Alle Bemühungen der bayerischen Juden, wenigstens eine Erleichterung ihrer rechtlichen Lage zu erwirken, blieben somit völlig fruchtlos, und eine Änderung sollte erst mit der Revolution von 1848 eintreten.