§ 6. Die Vorzeichen der Emanzipation: die Entschließungen der preußischen Provinziallandtage und das Gesetz von 1847

Gegen Ende der hier behandelten Epoche, in den Jahren 1813 bis 1847, erfolgte in der öffentlichen Meinung Preußens ein unverkennbarer Umschwung zugunsten der Emanzipation. Ein Exponent der Freiheitsbewegung, die die Märzrevolution vorbereitete, kam dieser Umschwung sowohl in der politischen Literatur als auch in der Stimmung der Provinziallandtage zum Vorschein. Ein Zeichen der Zeit war es, dass derselbe Geheimrat Streckfuß, der im Jahre 1833 durch die von ihm befürwortete Einteilung der Juden in des Bürgerrechtes Würdige und seiner Unwürdige den Gesetzgebungseifer der Regierung beflügelt und die Juden in Schrecken versetzt hatte, nun im Jahre 1843 den von ihm vertretenen Standpunkt off entheb abschwor und sich in seiner „Zweiten Schrift über das Verhältnis der Juden zu den christlichen Staaten“ als Anhänger der Gleichberechtigung bekannte. In der zu einem maßgebenden Faktor der deutschen öffentlichen Meinung gewordenen Presse wehte ein neuer Geist. Auch die Emanzipationsfrage wurde nunmehr in Zeitungen, Zeitschriften und in besonderen Flugschriften von den verschiedensten Standpunkten aus als ein aktuelles, baldigster Entscheidung harrendes Problem erörtert. Die von dem bekannten Linkshegelianer Bruno Bauer publizierte Abhandlung „Die Judenfrage“ (1842 — 1843), die sich gleichzeitig gegen die Idee des christlichen Staates und die des nationalen Judentums wandte, löste eine heftige Polemik aus, an der sich neben anderen auch der junge Karl Marx beteiligte (unten, § 15). Die Mehrzahl der sich zu Worte meldenden Publizisten setzte sich für vorbehaltlose Emanzipation ein. Überaus bezeichnend war die Schwenkung, die in der jüdischen Frage einige preußische Provinziallandtage vollzogen. Ehedem Hochburgen der adligen und bürgerlichen Reaktion, waren sie inzwischen zu Trägern des liberalen Gedankens geworden. Die emanzipationsfreundliche Bewegung setzte in der Rheinprovinz ein, deren seinerzeit emanzipierte Judenheit noch immer unter dem Druck des Napoleonischen, von der preußischen Regierung 1818 erneuerten Suspensionsdekrets stöhnte (oben, § 4). Dem Rheinischen Landtag gingen nämlich von den jüdischen Gemeinden und von mehreren Magistraten (denen von Köln, Bonn, Düsseldorf und anderen Städten) Petitionen zu, in denen er um die Außerkraftsetzung des aus einem befristeten zu einem unbefristeten gewordenen Dekrets und um die Wiederherstellung der Gleichberechtigung gebeten wurde. Im Sommer 1843 nahm der in Düsseldorf zusammengetretene Landtag einen diesbezüglichen Kommissionsbericht entgegen, in dem die Forderung der Gleichberechtigung mit dem historischen Hinweis begründet wurde, dass „die Juden am Rhein schon lange nicht mehr Fremdlinge waren, als unsere Vorfahren seine Ufer von den römischen Fesseln befreiten und ihre Herrschaft dort begründeten“. In der anschließenden Debatte sprachen sich sämtliche Vertreter der Städte für die Gleichstellung der Juden aus, und nur ein Teil der Abgeordneten der „Ritterschaft“ glaubte sich gegen die Ausstattung der „fremden Nationalität“ mit dem Vollbürgerrecht wehren zu müssen. Bei der darauffolgenden Abstimmung wurde die Entschließung über die Aufhebung des Suspensionsdekrets mit einer Mehrheit von 68 Stimmen gegen 5 angenommen; sodann wurde mit einer Mehrheit von 54 Stimmen gegen 19 auch noch der die Gleichberechtigung betreffende Beschluss gefasst, den König zu bitten, „die Wegräumung aller noch bestehenden Hindernisse zur völligen Gleichstellung der Juden in bürgerlicher und politischer Hinsicht mit den christlichen Untertanen vorzubereiten und deren Beseitigung herbeiführen zu wollen“ (16. Juli). Diese erste von einem deutschen Provinzialparlament zugunsten der Gleichberechtigung erhobene Stimme rief unter den Juden im ganzen preußischen Lande helle Begeisterung hervor, der sie in einer Fülle von an den Landtag gerichteten Dankadressen beredten Ausdruck verliehen. Da indessen die Zentralregierung den vorgebrachten Bitten kein Gehör schenkte, wurde zu Beginn des Jahres 1845, als der Rheinische Landtag zu einer neuen Session einberufen worden war, die eingeleitete Aktion erneut aufgenommen. Die Bürgerschaft von Köln forderte die versammelten Stände auf, „noch einmal laut ihre Stimme für die heiligsten Interessen der in den Juden noch unterdrückten Menschheit, der Freiheit und Humanität zu erheben und bei Seiner Majestät dem König den Antrag auf völlige politische und bürgerliche Gleichstellung der Juden zu erneuern und um baldige gnädige Erfüllung zu bitten“. Daraufhin bestätigte der Landtag aufs neue die schon einmal angenommene Resolution, und zwar mit einer Mehrheit von 56 Stimmen gegen 16. Diesmal gab die preußische Regierung in einer Beziehung nach: das für die Rheinlande geltende „schändliche Dekret“ wurde im März 1845 durch Kabinettsorder außer Kraft gesetzt.

Um dieselbe Zeit trat auch der Landtag der preußischen Stammlande mit einer Entschließung zur jüdischen Frage hervor. Von den Juden und ihren christlichen Fürsprechern mit Petitionen bestürmt, beschloss nämlich der Landtag, sich an den König mit der Bitte zu wenden, das Edikt von 1812 auf ganz Preußen (mit Einschluss der 1815 neuerworbenen Provinzen) zu erstrecken, die Juden zu akademischen sowie zu allen sonstigen Staatsämtern zuzulassen und den jüdischen Gemeinden Korporationsrechte einzuräumen. Zwar ging die Resolution nicht so weit, auch eine jüdische Vertretung in den Landtagen zu befürworten, doch enthielt sie immerhin Forderungen, die das Durchschnittsmaß des preußischen Liberalismus nicht unerheblich überschritten. Eine ähnlich lautende Resolution nahm ferner, trotz des hartnäckigen Widerstandes seitens der Adepten des „christlichen Staates“, der Landtag der Provinz Brandenburg an. Außerdem sprachen sich zugunsten der jüdischen Gleichberechtigung, wenn auch mit manchen Vorbehalten, die Landtage von Schlesien und Posen aus. Die meisten Resolutionen wiesen unter anderem darauf hin, dass der rasche kulturelle Aufschwung der Judenschaft mit der bürgerlichen Degradierung unvereinbar sei. Auf entschiedene Gegnerschaft stieß die Forderung der Emanzipation lediglich im Landtag der Provinz Sachsen, dem reaktionärsten in ganz Preußen.


Die Antwort der Regierung auf all diese Resolutionen lautete dahin, dass man noch immer mit der Ausarbeitung eines besonderen „Judengesetzes“ beschäftigt sei, wobei die Regierungsvertreter zugleich durchblicken ließen, dass der König keineswegs geneigt sei, die Juden in ihren politischen Rechten den anderen Staatsbürgern völlig gleichzustellen. Endlich gelangte der seit langem angekündigte Gesetzentwurf vor das Forum der öffentlichen Meinung, und zwar unter für Preußen ganz ungewöhnlichen Umständen. Im Frühjahr 1847 wurden nämlich von den Provinziallandtagen gewählte Delegationen in Berlin zu einem „Vereinigten Landtag“ versammelt, der als ein nur beratendes Organ das Surrogat eines Parlamentes darstellte. Zusammen mit anderen Regierungsvorlagen wurde nun dem Vereinigten Landtag auch der Entwurf eines neuen grundlegenden Gesetzes über die Juden vorgelegt. Der Entwurf spiegelte in getreuer Weise die damalige offizielle Grundauffassung wider: einerseits war man entschlossen, dem Emanzipationsgesetz von 1812 für den Gesamtbereich der privatrechtlichen Verhältnisse volle Geltung zu verschaffen, andererseits hielt man aber im Bereiche des öffentlichen Rechts unentwegt an dem Prinzip des „christlichen Staates“ fest. Die leidenschaftlichen Debatten, zu denen es bei der Erörterung des Gesetzentwurfes in den beiden Kammern des Landtages, in der „Herrenkurie“ und in der „Kurie der drei Stände“, kam (14.— 18. Juni), zeigten, dass das ehemals zwischen der reaktionären Regierung und der öffentlichen Meinung herrschende Einvernehmen sich stark getrübt hatte. Billigung fanden die Pläne der Regierung nur in der „Herrenkurie“, während sie in der zweiten Kammer auf heftigste Opposition stießen. Der Minister Thiele vertrat die Ansicht, dass den Juden jedenfalls keine „obrigkeitlichen Rechte“ eingeräumt werden dürften, da ,,sie dann berufen sein würden, eine von christlichem Geiste durchwehte Gesetzgebung entweder fördern oder verwalten zu helfen, und beides müsste gegen ihr Gewissen sein . . . Der Jude kann an und für sich — meinte er ferner — kein Vaterland haben als das, worauf ihn sein Glaube hinweist: Zion ist das Vaterland der Juden“. Der Abgeordnete Bismarck-Schönhausen, der nachmalige Begründer des Deutschen Reiches, der damals noch am Anfang seiner Laufbahn stand, nahm gleichfalls die Gelegenheit wahr, um zum ersten Mal seinen entschieden konservativen Standpunkt in der jüdischen Frage darzulegen: „Ich bin — so versicherte er — kein Feind der Juden. Ich liebe sie sogar unter Umständen. Ich gönne ihnen auch alle Rechte, nur nicht das, in einem christlichen Staate ein obrigkeitliches Amt zu bekleiden . . . Ich gestehe ein, dass ich voller Vorurteile stecke; ich habe sie mit der Muttermilch eingesogen . . . Und wenn ich mir als Repräsentanten einen Juden denke, dem ich gehorchen soll, so muss ich bekennen, dass ich mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen würde“. Demgegenüber suchte die liberale Opposition Bismarck, Thiele und ihren Gesinnungsgenossen klarzumachen, dass man mit mittelalterlichen Vorurteilen im modernen Staatsleben nicht gut vorwärts kommen könne. Nach längerem Hin und Her und den unausbleiblichen Kompromissen wurde endlich die „Verordnung die Verhältnisse der Juden betreffend“ vom Landtag angenommen, um sodann auch die königliche Sanktion zu erhalten (28. Juni 1847).

Die neue Verordnung, durch die das Edikt von 1812 angeblich „verbessert“ werden sollte, strotzte von Klauseln, die die rechtliche Stellung der Juden nur noch verschlimmerten. Schon der erste Artikel, der allen jüdischen Untertanen der preußischen Monarchie die gleichen Pflichten und Rechte „wie den christlichen Untertanen“ zuerkannte, enthielt den Vorbehalt: „Soweit dieses Gesetz nicht ein Anderes bestimmt“. Hierauf folgten die Ausnahmebestimmungen. Im Staats- und Kommunaldienst sollten die Juden nur zu solchen Ämtern zugelassen werden, die nicht mit der Ausübung von gerichtlichen, polizeilichen oder sonstigen Verwaltungsfunktionen verbunden waren. An den Universitäten durften Juden, soweit dies den Universitätstatuten nicht widersprach, lediglich als Privatdozenten oder außerordentliche Professoren der Medizin, Philologie, Mathematik und Naturwissenschaft wirken, jedoch nicht zu Mitgliedern des akademischen Senats, zu Rektoren oder Dekanen gewählt werden. Daneben wurde für das Großherzogtum Posen die im Statut von 1833 durchgeführte Einteilung der Juden in Naturalisierte und Nichtnaturalisierte in Kraft belassen. Gleichsam als Entschädigung für die Schmälerung ihrer politischen Rechte wurde den Juden gleichzeitig eine neue Gemeindeverfassung verheben.

Das Gesetz von 1847 räumte den jüdischen Gemeinden die Rechte von „Korporationen“, von juristischen Personen, ein, beschränkte aber zugleich ihre Autonomie ausschließlich auf die geistlichen Angelegenheiten. „Synagogengemeinden“ — dies war der neue Name für die jüdischen Selbstverwaltungskörperschaften, ganz nach dem Sinne der assimilierten Juden, denen schon die leiseste Anspielung auf eine nationale Gemeindeautonomie ein Gräuel war. Jede Gemeinde erlangte das Recht, einen Vorstand und eine Repräsentantenversammlung frei zu wählen. Die Regierung durfte sich nunmehr in die jüdischen Kultusangelegenheiten nicht einmischen und überließ es den Gemeinden selbst, der inneren Religionskämpfe Herr zu werden. Schulen durften die Gemeinden ausschließlich zwecks religiöser Unterweisung der Jugend gründen, da die allgemeine Bildung den jüdischen Kindern in den christlichen Schulen vermittelt wurde; die Genehmigung zur Gründung einer speziell jüdischen Elementarschule mit einem allgemeine Bildung einschließenden Programm sollte nur in Ausnahmefällen erteilt werden. Alle mit der Selbstverwaltung verbundenen Unkosten hatten die Gemeinden aus eigenen Kräften, ohne Unterstützung der Regierung aufzubringen, der jedoch die Kontrolle über die Gemeindefinanzen vorbehalten blieb. Alles in allem war es den preußischen Gesetzgebern bei der offiziellen Anerkennung der „Synagogengemeinden“ lediglich um die Aufrechterhaltung der „Ordnung“ im jüdischen Leben, keineswegs aber um eine Festigung der Autonomie zu tun, um die sich übrigens auch die germanisierten Führer der Judenheit selbst kaum noch kümmerten. Dies erklärt zugleich den Grundzug des Statuts von 1847, die in ihm durchgeführte Dezentralisation der Gemeindeselbstverwaltung. Durch das neue Gesetz wurde die jüdische Bevölkerung in eine Fülle von Einzelzellen zerlegt, von Sondergemeinden ohne eine sie vereinigende Oberinstanz, etwa in der Art des französischen Zentralkonsistoriums. In der Praxis sollte allerdings das preußische Zerstückelungssystem, das mit dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Gemeindeangelegenheiten verbunden war, viel weniger Schaden stiften als das französische System der bürokratischen Zentralisation.

So kam am Vorabend der Revolution von 1848 ein Gesetzgebungskompromiss zustande, die Frucht des Zusammenwirkens der konservativen Regierung und der liberalen Öffentlichkeit. Nach Ausbruch der Revolution sollten zwar die Grundlagen des neuergangenen Gesetzes eine wesentliche Änderung erfahren, doch blieben seine die Gemeindeselbstverwaltung betreffenden Bestimmungen auch in dem nachmärzlichen, erneuerten Preußen in Kraft.