§ 5. Das Abflauen der Reaktion und der Kampf um die Gleichberechtigung (Riesser)

Wie in ganz Deutschland, so wütete die Reaktion auch in Preußen am heftigsten in der ersten Hälfte dieser Epoche, bis zum Jahre 1830. Mit dem Ausbruch der Julirevolution in Frankreich, die in die stickige politische Atmosphäre Europas einen frischeren Luftzug brachte, trat die Reaktion, zunächst allerdings nur im öffentlichen Leben, den Rückzug an. Das Phantom des christlichen Staates verblasste, die Völker begannen sich gegen die ihnen feindliche „Heilige Allianz“ der Regierungen aufzulehnen, und unaufhaltsam schritt die Sammlung der Kräfte für die Umwälzung von 1848 fort. Auch in der deutschen Judenheit regte sich neues Leben. Die unterwürfigen Bittsteller und Apologeten der verflossenen Epoche traten vor den neu erstandenen stolzen und mutigen Kämpfern ums Recht zurück. Neben das „junge Deutschland“ stellte sich das junge Israel. In denselben Jahren, in denen der Führer Jungdeutschlands, Ludwig Börne, in seinen „Briefen aus Paris“ die deutsche Bastille unter Feuer nahm, stürzte sich der Führer Jung-Israels, Gabriel Riesser, in den Kampf gegen die Reaktion für Ehre und Freiheit der Juden. Die Emanzipation wurde für Riesser gleichsam zur prophetischen Mission.

Aus Hamburg, der Stadt der judenfeindlichen Bürgerschaft, gebürtig, bekam Riesser (1806— 1863) die ganze Schwere der Rechtlosigkeit schon bei seinem Eintritt in das öffentliche Leben zu spüren. Ein hochbegabter Jurist, der es in der akademischen wie in der forensischen Laufbahn gleich weit hätte bringen können, stieß er nach Beendigung seiner Universitätsstudien auf die ihm den Weg versperrenden antijüdischen Gesetze: er wurde weder zur Rechtsanwaltschaft, noch zu einem akademischen Lehramt zugelassen. Der in deutschen Schulen erzogene Jüngling, der sich für die erhabensten Ideale der europäischen Kultur begeisterte und dessen Seele von unzähmbarem Freiheitsdrang erfüllt war, empfand diese Zurücksetzung als einen Schlag ins Gesicht. So leistete er denn schon im vierundzwanzigsten Lebensjahr den Hannibalschwur, nicht eher zu ruhen, bis der Kampf um die jüdische Gleichberechtigung siegreich zu Ende geführt sein würde. Zum Anwaltberuf nicht zugelassen, widmete er sich einer viel edleren Aufgabe: er wurde zum Anwalt des unterdrückten Volkes und zum Wegweiser im Kampf um die Emanzipation. Seine Grund Überzeugungen legte Riesser zuerst in der Schrift: „Über die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland“ (1830) nieder und sodann in der Abhandlung: „Verteidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Doktor Paulus“ (1831). In seiner Erstlingsschrift rief Riesser zum Kampf gegen den Judenhass im Namen der höchsten Ideale der Menschlichkeit auf, deren Endsieg über die reaktionäre Ideologie des deutsch-christlichen Staates für ihn von vornherein feststand. Er regte an, allenthalben Vereine zu begründen, die durch Druck auf die Regierung und die öffentliche Meinung für die Herbeiführung der Gleichberechtigung wirken sollten. Zugleich verurteilte er aufs schärfste den von einem Teil der Judenheit in der Emanzipationsfrage vertretenen materialistischen Standpunkt, die Taufen um der Karriere willen, diese „Vernunftehen mit der Kirche“, wie er sie bezeichnete, und insbesondere die Gepflogenheit der um das Glück ihrer Nachkommenschaft besorgten jüdischen Eltern, ihre minderjährigen Kinder der Kirche zuzuführen. Für diesen feigen Verrat am schwer bedrängten Judentum hatte Riesser nichts als Verachtung übrig. Die Jugend aber feuerte er zum Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit an: „Nach der bürgerlichen Freiheit, schrieb er, müssen auch alle, die sie schmerzlich vermissen, müssen wir Jüngeren insbesondere, die Söhne eines Jahrhunderts, dessen Atem die Freiheit ist, unablässig streben durch Wort und Tat . . . Der Glaube an die Macht und an den endlichen Sieg des Rechtes und des Guten ist unser Messiasglaube: lasst uns fest an ihm halten!“


*) Er war ein Enkel des berühmten Rabbiners von Hamburg-Altona Raphael Kohen, eines Einwanderers aus Litauen, der in Deutschland die Mendelssohnsche Aufklärung mit der gleichen Schärfe bekämpfte wie in seinem Geburtslande den Chassidismus.

Über seine Stellung zu der nationalen Seite der jüdischen Frage sprach sich Riesser in der gegen den Heidelberger Theologen Paulus (oben, § 2) gerichteten Streitschrift aus. Dieser war nämlich im Jahre 1830 in einem „Die jüdische Nationalabsonderung“ überschriebenen und „allen deutschen Staatsregierungen und landständischen Versammlungen“ gewidmeten Buch erneut gegen das Judentum zu Felde gezogen. Er suchte zu beweisen, dass man die Juden, solange sie an ihren religiösen Gesetzen, die zugleich nationale seien, unentwegt festhielten, als eine abgesonderte Nation zu betrachten habe, deren Angehörige wohl als geduldete ,,Schutz-“, nicht aber als vollwertige „Staatsbürger“ gelten könnten. Die Antwort, die Riesser hierauf erteilte, war die erwähnte leidenschaftliche Philippika, die er seinerseits den „gesetzgebenden Versammlungen Deutschlands“ widmete. Die jüdische Frage, so führte er aus, sei ausschließlich eine Frage der Gewissensfreiheit, des Rechts, sich zur angestammten Religion zu bekennen, ohne die Maske des herrschenden fremden Glaubens vorbinden zu müssen. Gewiss treffe es zu, dass man nicht zwei Nationen zugleich angehören, Bürger zweier Staaten sein könne. „Aber wo ist denn der andere Staat (neben dem deutschen), gegen den wir Pflichten zu erfüllen haben? Wo ist das andere Vaterland, das uns zur Verteidigung ruft? Uns vorzuhalten, dass unsere Väter vor Jahrhunderten oder vor Jahrtausenden eingewandert sind, ist so unmenschlich als es unsinnig ist. Wir sind nicht eingewandert, wir sind eingeboren, und weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf eine Heimat; wir sind entweder Deutsche oder wir sind heimatlos“. Mit Entrüstung weist ferner Riesser die von Paulus als ,, Garantie Deutscher Nationalität“ bezeichnete Taufe zurück: ,,Es gibt nur eine Taufe — so ruft er aus — , die zur Nationalität einweiht: das ist die Taufe des Blutes in dem gemeinsamen Kampf für Freiheit und Vaterland“. Das Buch Riessers klingt in eine Verherrlichung des Deutschtums aus: „Die kräftigen Klänge Deutscher Sprache, die Gesänge Deutscher Dichter haben in unserer Brust das heilige Feuer der Freiheit entzündet und genährt; der Hauch der Freiheit, der über die Deutschen Gaue zog, hat unsere schlummernden Freiheits-Hoffnungen geweckt . . . Wir wollen dem Deutschen Vaterlande angehören. Es kann und darf und mag von uns alles fordern, was es von seinen Bürgern zu fordern berechtigt ist; willig werden wir ihm alles opfern — nur Glauben und Treue, Wahrheit und Ehre nicht; denn Deutschlands Helden und Deutschlands Weise haben uns nicht gelehrt, dass man durch solche Opfer ein Deutscher wird!“ . . . Die aus Eigennutz angestrebte Assimilation verdammend, verherrlichte so Riesser zugleich ihre kulturellen Errungenschaften, ohne zu ahnen, dass die aus uneigennützigen, idealistischen Beweggründen herbeigesehnte Assimilation für das Judentum nicht weniger gefährlich ist als diejenige, zu der man sich um eines schnöden Lohnes, um der Gleichberechtigung willen hergibt. In der Folgezeit sah Riesser sich veranlasst, auf das nationale Problem zurückzukommen und sich hierzu mit noch größerer Deutlichkeit zu äußern.

Bald hatte Riesser Gelegenheit, als Verfechter der jüdischen Gleichberechtigung in Preußen auf den Plan zu treten. Es war dies zu Beginn der dreißiger Jahre, als die preußische Regierung eine neue Lösung der jüdischen Frage in Erwägung zog. Begründet wurde dieses Projekt in der Flugschrift: „Über das Verhältnis der Juden zu den christlichen Staaten“ (Halle 1833), deren Verfasser der Berliner Geheimrat Streckfuß war. Der neue Plan lief auf die Einteilung aller Juden in zwei Klassen hinaus: während die Reichen und Gebildeten unter manchen Vorbehalten als ,,Bürger“ gelten sollten, sollte der Rest, insbesondere die große Masse der Kleinhändler, zu einem Sonderstand von selbst in den elementarsten Rechten beschränkten „Schutzjuden“ zusammengeschlossen werden. Das diesem Projekt zugrunde liegende Leitprinzip der Verleihung des Bürgerrechts für besondere „Verdienste“ erregte bei den Juden schwersten Anstoß, da die beabsichtigte Neuerung in einem prinzipiellen Gegensatz zu dem bis dahin nur hin und wieder durchlöcherten Edikt von 1812 stand. Die eindrucksvollste Stimme, die sich gegen den Regierungsplan erhob, war die Riessers, der die angekündigte Maßnahme mit der Aufhebung des Edikts von Nantes verglich. In einer langen Reihe von Artikeln, die er in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Jude“ (erschien 1882 — 1 833) veröffentlichte, zählte Riesser alle Verbrechen auf, die die preußische Regierung gegen die durch das Edikt von 1812 gewährleistete Gewissensfreiheit verübt hatte, und kennzeichnete zugleich nach Gebühr die Rechts- und Geschichtsansicht des Vertreters der Regierungsideologie Streckfuß. Gleichzeitig traten dieser Ideologie auch der Geschichtsschreiber M. Jost und der Königsberger Arzt Johann Jacoby entgegen, der nachmalige radikale Vorkämpfer des konstitutionellen Deutschland. „Solange nur ein Recht dem Juden entzogen wird, bloß weil er Jude ist — so rief Jacoby in seiner Entgegnung aus —,solange bleibt er ein Sklav'“. Gleich Riesser forderte auch Jacoby zu einem unermüdlichen Kampfe ums Recht, um „die Gleichheit der jüdischen und christlichen Bürger“ auf.

Die Einmütigkeit der jüdischen Publizisten blieb nicht ohne Eindruck auf die preußische Regierung: statt das geplante Reglement im ganzen Lande einzuführen, beschränkte sie sich darauf, es lediglich in den polnischen Provinzen, im Großherzogtum Posen, in Kraft treten zu lassen, wo dichte und noch nicht germanisierte jüdische Massen in der Stärke von etwa 80.000 Seelen ansässig waren. Im Juni 1833 erging eine „Vorläufige Verordnung wegen des Judenwesens im Großherzogtum Posen“, die alle dort wohnenden Juden in die zwei Klassen der „Naturalisierten“ und der „zur Naturalisation nicht Geeigneten“ einteilte. Der ersten Klasse wurden die wohlhabenden Juden von unbescholtenem Lebenswandel zugezählt, soweit sie sich im Geschäftsverkehr der deutschen Sprache bedienten, während alle übrigen der zweiten Kategorie zugeteilt wurden. Den Naturalisierten wurde der Genuss aller Rechte zugesichert, deren sich die Juden Preußens auf Grund des inzwischen freilich stark beschnittenen Gesetzes vom Jahre 1812 erfreuten; die Nichtnaturalisierten mussten sich hingegen eine Schmälerung ihres Niederlassungsrechts und ihrer Gewerbefreiheit gefallen lassen: es wurde ihnen untersagt, sich auf dem platten Lande anzusiedeln, und auch in den Städten hatten die Händler keinen Anspruch, in den Kaufmannsstand aufgenommen zu werden. Andererseits wurden aber den jüdischen Gemeinden Posens die Rechte von „Korporationen“ verliehen, die sich unter Staatskontrolle selbst verwalten konnten. Der Militärdienst blieb für die Posener Juden im Gegensatz zu der in den preußischen Stammlanden seit 1812 geltenden Ordnung nach wie vor nicht obligatorisch, doch konnten sie, soweit sie sich in sittlicher und physischer Hinsicht dazu eigneten, als Freiwillige in die Armee aufgenommen werden. Wiewohl die von der neu ergangenen Verordnung bewilligten Freiheiten überaus kümmerlich waren und in der Fülle der verletzenden Rechtsbeschränkungen völlig verschwanden, glaubten die Posener Juden das jämmerliche Elaborat freudigst begrüßen zu müssen: sie veranstalteten eine feierliche Prozession und zogen durch die festlich beleuchtete Judengasse mit einem prächtig gebundenen, auf einem Samtkissen gebetteten Exemplar des „allergnädigsten“ Erlasses. Die preußische Regierung hatte aber die Genugtuung, wenigstens in einem Teil des Staatsgebietes dem von ihr so bevorzugten System der Rubrizierung der Bürger zur Geltung verholfen zu haben . . .

Nach dem Tode Friedrich Wilhelms III. war im preußischen öffentlichen Leben eine freiheitlichere Bewegung zu merken. In den ersten Monaten der Regierung des Königs Friedrich Wilhelm IV. (1840) wiegten sich die liberalen Kreise in der Hoffnung, dass die Staatsverfassung eine Umgestaltung in konstitutionellem Sinne erfahren würde. Auch die Juden blickten zu dem neuen Herrscher, der an die ihm in Berlin und Breslau huldigenden jüdischen Deputationen einige freundliche Worte gerichtet hatte, mit größter Zuversicht empor. Indessen sollten sie sich bald in ihren Erwartungen getäuscht sehen. Der von einem rein christlichen Staate träumende „Romantiker auf dem Throne“ vertrat in der Judenfrage einen eigenartigen Standpunkt. Indem er in der Judenschaft nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern zugleich eine selbständige „Korporation“ oder geschichtlich gewachsene Nation erblickte und es für die Pflicht des Staates hielt, dieser sich in autonome Gemeinden gliedernden Nation Entwicklungsfreiheit zu gewähren, zog er aus der richtigen Prämisse den falschen Schluss, dass die in kultureller Hinsicht autonome Judenheit aus dem politischen Leben Preußens, einer Ausdrucksform der christlichen Kultur, völlig ausgeschlossen bleiben müsse: staatsfremd wie sie seien, müssten die Juden nicht nur von den Staatsämtern ferngehalten, sondern auch vom Waffendienst befreit werden, der ja gleichfalls eine politische Funktion sei. Wiewohl Gegenstand geheimer Regierungsberatungen, blieben die Pläne des Königs der Öffentlichkeit nicht unbekannt; die Presse machte dunkle Andeutungen hierüber, und der führenden jüdischen Kreise bemächtigte sich große Unruhe. Die Vorkämpfer der Emanzipation waren empört. Stand doch die Ansicht des Königs, dass das Judentum, historisch betrachtet, eine abgesonderte „Korporation“ darstelle, in krassem Widerspruch zu jener Verleugnung des jüdischen Volkstums, die für die assimilierten jüdischen Kreise den Kernpunkt ihrer Verteidigung der Gleichberechtigung bildete; die praktischen Schlussfolgerungen aus der königlichen Grundauffassung ließen aber die Befürchtungen der jüdischen Wortführer nur allzu begründet erscheinen, dass die Juden, soweit sie nicht als Deutsche, auch nicht als Vollbürger anerkannt werden würden. Durch die Befreiung der Juden vom Militärdienst schien man beizeiten einen plausiblen Vorwand für die beabsichtigte bürgerliche Degradierung der jüdischen Bevölkerung vorbereiten zu wollen.

Die preußische Judenheit raffte sich auf: die ausgegebene Kampfparole forderte sie zu einem „patriotischen“ Protest auf. Die Leitung der Protestbewegung übernahm Ludwig Philippson, der tatkräftige Herausgeber der ,,Allgemeinen Zeitung des Judentums“. Unter die von ihm verfasste Petition, in der der König untertänigst gebeten wurde, den Juden die Pflicht und Ehre des Waffendienstes nicht nehmen zu wollen, setzten die Vertreter von 84 Gemeinden ihre Unterschrift. „Wir würden aufhören, Preußen zu sein — so führten die Bittsteller aus — , wenn wir aufhörten, vollständig zum Heere verpflichtet zu sein“. Gleichzeitig flehten Hunderte von Gemeinden den König an, durch Verwirklichung der Gleichberechtigung die erregten Gemüter zu beschwichtigen (1841/42). Die Regierung konnte sich nicht länger in Schweigen hüllen. Am 5. Mai 1842 eröffnete der Innenminister Rochow den Repräsentanten der Berliner Gemeinde, dass der König keineswegs eine Verschlechterung, sondern im Gegenteil eine Verbesserung der Lage der Juden anstrebe: die Beseitigung der sie am schwersten bedrückenden Rechtsbeschränkungen sowie die Erweiterung der Kompetenz der jüdischen ,,Korporationen“. „Seine Majestät erachten aber für notwendig — setzte der Minister hinzu — , dass die Gewährung alles dessen an die Bedingungen gekn?pft werde, die in dem Wesen eines christlichen Staates beruhen, nach welchem es nicht zulässig ist, den Juden irgendeine obrigkeitliche Gewalt über Christen einzuräumen oder Rechte zu bewilligen, welche das christliche Gemeinwesen beeinträchtigen könnten“. Die Erklärung schloss mit der wenig verheißungsvollen Mitteilung, dass die Regierung an die Ausarbeitung eines neuen, demnächst zu veröffentlichenden „Judengesetzes“ herangetreten sei. Die Kanzleien der zuständigen Ministerien standen in der Tat in lebhaftem Schriftverkehr mit den Provinzialbehörden, bei denen das einschlägige Material zur Judenfrage eingefordert worden war.

Die Erregung in der jüdischen Öffentlichkeit wollte sich nicht legen. Außer in den Petitionen kam sie in einer Fülle von Flugschriften und Zeitungsartikeln zum Ausdruck, in denen die Frage der Gleichberechtigung den Gegenstand leidenschaftlicher Erörterungen bildete. In diesem Chor erklang von neuem die weithin vernehmbare Stimme Riessers. In seiner Schrift: „Besorgnisse und Hoffnungen für die künftige Stellung der Juden in Preußen“ (November 1842) beleuchtete er die zur Debatte stehende Frage von ihrer wesentlichsten, auch im königlichen Projekt mitberücksichtigten Seite: der nationalen. Zum Ausgangspunkt seiner Ausführungen machte Riesser die Kritik eines von obrigkeitlicher Seite inspirierten Artikels, der die Begründung der neuen offiziellen Doktrin enthielt. Diese Doktrin wollte die „wunderbare“ Tatsache des Fortbestandes des Judentums damit erklärt wissen, dass in der jüdischen Lehre Religion und Nationalität unlöslich miteinander verbunden seien; daraus folgerte sie, dass es im ureigensten Interesse des Judentums und seiner Träger liege, alles zu befürworten, was diese lebensspendende Verbindung festigen könne, und dass der Staat seinerseits alles unterlassen müsse, was zur „Amalgamierung“ der Juden mit der Umwelt führen könne. Riesser unterzog nun diese Ansicht einer haarfeinen Analyse. Noch vor kurzem — so führte er aus — hätten die Regierenden auf die nationale Absonderung der Juden als auf das Haupthindernis für die jüdische Gleichberechtigung verwiesen, und alle Bemühungen der Verfechter der Emanzipation seien darauf gerichtet gewesen, dieses ,, Gespenst“ zu verscheuchen, während es nun gerade die Regierung sei, die sich für die Erhaltung der jüdischen Nationalität ereifere. Wohl treffe es zu, dass Religion und Nationalität im Judentum einst aufs engste miteinander verbunden gewesen seien, indessen hätte sich das Judentum im Laufe der Geschichte „nicht durch diesen Bund, sondern trotz desselben aufrechterhalten“. Nur darum sei es dem Judentum möglich gewesen, alle geschichtlichen Krisen zu überstehen, weil es das irdische Element der Nationalität stets dem geistigen der reinen Religion, der höchsten Gottesidee untergeordnet habe. So sei denn dem Volke nach dem Absterben seines nationalen Körpers die Seele, die Religion, erhalten geblieben. Ohne Land, Staat und Sprache gebe es keine Nation, weshalb auch das Judentum längst aufgehört habe, eine solche zu sein. Von den materiellen Gemeinschaftsbanden des Judentums sei nur noch die „Stammverwandtschaft“ intakt geblieben, die jedoch nicht dazu ausreiche, das zerstreute Volk sozial und kulturell selbständig zu machen. Soweit die innere Abgeschlossenheit in der Zerstreuung hin und wieder in Erscheinung getreten sei, sei sie nicht die Folge einer freien Wahl gewesen, sondern von außen her, durch den von der Umwelt ausgeübten Druck und durch die von ihr bekundete Verachtung aufgezwungen worden. Auch die an manchen Orten noch geltende „korporative“ Verfassung der Juden (ihre Gemeindeautonomie) sei nichts als ein Produkt der Entrechtung und Unterjochung, ein „fauler Fleck des jüdischen Lebens“. „Und gerade in dieser Misere — ruft Riesser aus — sollte das, Prinzip der Erhaltung und der ,wunderbaren' Lebenskraft des Judentums liegen?“ Nein, nach der Einbuße unserer politischen Selbständigkeit haben wir auf unsere Nationalität nie Wert gelegt; „die Kämpfe, die uns das Schicksal seitdem auferlegt hat, waren nicht Kämpfe zwischen Nation und Nation, sondern Kämpfe des unterdrückten Glaubens mit dem Fanatismus, der Geistesfreiheit mit der Gewalt, der Menschlichkeit und Gesittung mit der Barbarei“. Die Regierung ist angeblich um die Erhaltung der jüdischen Nationalität besorgt, warum sorgt sie aber nicht auch für die Erhaltung der polnischen Nationalität, die sie im Gegenteil bekämpft? Der Grund ist wohl der, dass die Polen eine lebendige, die Staatseinheit gefährdende Nation bilden, während man mit den Juden, „dem ohnmächtigen Schatten, sorglos spielen kann“. Man sagt uns, dass man die Amalgamierung der Juden mit den Deutschen nicht begünstigen wolle; gut, begünstigt sie nicht, aber leget ihr auch keine Hindernisse in den Weg! ,,Ich habe mich manchmal gern dem Traume hingegeben — so schloss Riesser — , dass dieser Entwurf (des geplanten Judengesetzes) eine Prüfung gewesen sein möge, nach deren Resultat man die Reife der Juden zur vollen Aufnahme in den Staatsverband, ihre Würdigkeit zum echten, vollen Bürgertume ermessen wollte . . . Wenn die Sache so gemeint ist, so wird man zugeben müssen, dass die Juden Preußens die Prüfung bestanden haben“.

Dies war die Art, in der der hervorragendste jüdische Publizist jener Zeit, der Führer der Freiheitsbewegung, mit dem nationalen Problem des Judentums fertig werden zu können glaubte. Er stand hierbei nicht an, den ganzen geschichtlichen Prozess geradezu auf den Kopf zu stellen. Wäre Riesser in die jüdische Geschichte tiefer eingedrungen, so hätte er erkannt, dass nicht die Nationalität die Umhüllung (oder den „Körper“) der Religion gebildet habe, sondern dass im Gegenteil die religiöse Praxis, die Ordnung des Ritus, die Schutzhülle des Kerns, des autonomen Volkes, gewesen ist. Er hätte eingesehen, dass in der „korporativen“ Verfassung, die ihm als von außen aufgezwungen und als ein „Fleck des jüdischen Lebens“ erschien, ein tiefwurzelndes Bedürfnis der nationalen Seele seine Befriedigung gefunden hatte. Die Generation Riessers konnte sich eben eine des staatlichen und territorialen Substrats entbehrende „Nationalität“ nicht denken, weshalb ihr auch die Verwandlung der Juden in einen Bestandteil der deutschen Nation unter der herrschenden bürgerlichen Ordnung als eine bereits vollendete Tatsache galt; das Problem des Nebeneinanderbestehens verschiedener Nationen innerhalb desselben Staatsverbandes wurde damals überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Dies war der Grund, warum sich der Streit zwischen dem König von Preußen und dem Führer der jüdischen Publizistik nicht um das Prinzip, sondern allein um das Faktum drehte: während jener davon ausging, dass die Juden eine Nation seien und daher im deutsch-christlichen Staate nicht als Vollbürger anerkannt werden könnten, behauptete dieser demgegenüber, dass die Juden keine Nation für sich, sondern lediglich eine Religionsgemeinschaft innerhalb der deutschen Nation seien und infolgedessen als ein durchaus vollwertiger Bestandteil des deutschen Staates zu gelten hätten. Der eine hatte aus einer richtig erkannten Tatsache einen falschen Schluss gezogen; der andere baute seine richtige Schlussfolgerung auf einer verkannten Tatsache auf. Es liegt geschichtliche Tragik darin, dass ein Vorkämpfer des Judentums im Interesse seiner „Glaubensgenossen“ eine verkehrte Auffassung der jüdischen Geschichte zum Ausgangspunkt nehmen musste . . .