§ 4. Der Triumph der Reaktion in Preußen (1815 — 1830)

An der Spitze der deutschen Reaktion marschierte Preußen. Dieses Land einer hochentwickelten geistigen Kultur hatte stets eine Neigung für die niedrigsten Formen der politischen Kultur. Es war gleichsam die geschichtliche Mission des führenden deutschen Staates, ein Hort des Absolutismus und später der engherzigsten unter den monarchistischen deutschen Verfassungen zu sein. Selbst die geistige Kultur kam hier den Bestrebungen der Reaktion nicht selten auf halbem Wege entgegen. War doch die neubegründete Berliner Universität die Geburtsstätte jener Ideologie des christlich-deutschen Staates, die Deutschland dreißig Jahre lang in ihrem Banne halten sollte. Hier in Berlin ließen von der Universitätskanzel herab (zuweilen auch in den Kanzleien der Ministerien) die reaktionären Schöpfer der „historischen Rechtsschule“, Savigny und Eichhorn, ihre Stimme laut werden; von hier aus verbreitete sich die von Professor Rühs ausgegebene Parole des Judenhasses über ganz Deutschland. Die Stimmung der maßgebenden Kreise der Gebildeten entsprach vollauf der Gesinnung des Königs Friedrich Wilhelm III,, der sich nach dem siegreichen Befreiungskriege auch von allen liberalen Versprechungen befreit glaubte, die er seinem Volke früher, in den Jahren der Erniedrigung und der Not, hatte geben müssen. Als die Preußen vor der „großen Völkerschlacht“ standen, spornte der König ihren Eifer durch das Gelöbnis an, nach Beendigung des Krieges eine parlamentarische Verfassung einzuführen; nachdem jedoch der Krieg zu Ende war, wurde die Einlösung des Versprechens immer wieder hinausgezögert, bis man sich endlich zur Einführung der vorwiegend aus Vertretern des Adels und der Geistlichkeit zusammengesetzten Provinziallandtage entschloss, eines elenden Zerrbildes der verheißenen Volksvertretung (1823), Ein treuer Schirmherr der Heiligen Allianz, verteidigte Friedrich Wilhelm als Selbstherrscher die Interessen der Monarchie gegen das Volk und als Oberhaupt eines „christlichen Staates“ die Interessen des Christentums gegen das Judentum.

Die Juden bekamen denn auch gar bald den Druck der Reaktion doppelt zu spüren: als preußische Bürger und als Juden. Das liberale Juden-Edikt von 1812 (Band VIII, § 30), das dem bedrängten König des zusammengeschrumpften Preußen abgerungen worden war, erschien dem zum Mitglied der Heiligen Allianz gewordenen Gebieter des erweiterten Preußen als eine lästige Fessel. Der 1815 erneut aufgerichtete Staat hatte nämlich nicht nur die an Napoleon verlorenen Provinzen zurückerhalten, sondern auch manche Gebiete neu erworben: Teile von Sachsen, vom Landbereiche des Herzogtums Warschau und des Königreichs Westfalen sowie die Rheinlande. Nach der Volkszählung von 1816 belief sich die Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung Preußens auf 128.823 Seelen*). Mit dem Fortschritt der Restauration wurde ihr Los immer unsicherer. Die den preußischen Juden vom regierenden König seinerzeit verliehene Gleichberechtigung kurzerhand wieder abzuerkennen, ging allerdings wegen des den Status quo garantierenden Artikels 16 der Bundesakte nicht an. Es blieb nichts anderes übrig, als das Gesetz zu umgehen. So statuierte denn die preußische Gesetzgebung durch eine Reihe von seit 1816 ergangenen und durch das zusammenfassende Dekret von 1830 bestätigten Entscheidungen einen prinzipiellen Unterschied zwischen alten und neu erworbenen Gebietsteilen: während in jenen das Emanzipationsedikt von 1812 seine Gültigkeit behielt, sollte in diesen die Rechtslage fortbestehen, in der die Juden durch die Angliederung dieser Gebiete an Preußen überrascht worden waren. Da nun aber die neu angegliederten Territorien ehedem dem Besitzstand verschiedener Staaten angehört hatten und auf Grund weit voneinander abweichender Gesetze, von den mittelalterlichen sächsischen angefangen bis zu den liberalen französischen, verwaltet worden waren, so stand nunmehr das Leben der Juden in Preußen unter der Herrschaft von nicht weniger als achtzehn verschiedenen Rechtssystemen. Während sie in der einen Provinz als „Staatsbürger“ galten und sich fast sämtlicher Bürgerrechte erfreuten, waren sie in der anderen nur mehr oder weniger geduldete „Schutzgenossen“, denen zuweilen sogar die Freizügigkeit und Gewerbefreiheit vorenthalten wurde. Man unterschied echt preußische Juden, für die das Gesetz von 1812 galt, ferner französisch-preußische, westfälisch-preußische, polnisch-preußische (im Gebiet von Posen) usf. In den Provinzen, die einen Bestandteil des Königreichs Westfalen gebildet hatten und deren jüdische Bevölkerung von König Jérôme emanzipiert worden war, glaubte man den Juden das gleiche Recht kraft der Bundesakte grundsätzlich nicht vorenthalten zu können, stand aber nicht an, „es nach und nach zu untergraben: wiewohl man den dortigen jüdischen Gemeinden die ihnen ehedem in der Form der Konsistorialverfassung zuerkannte Autonomie genommen hatte, verweigerte man ihnen das Recht, sich im Provinziallandtag vertreten zu lassen. In den von Frankreich abgetretenen Rheinlanden (Köln, Koblenz, Aachen usw.) verfügte die preußische Regierung über eine gesetzliche Handhabe zur Vereitelung der Gleichberechtigung: zur Zeit der Annexion war hier nämlich noch das „schändliche Dekret“ Napoleons vom Jahre 1808 in Kraft gewesen, wonach die Emanzipation für die Dauer von zehn Jahren ruhen sollte (Band VIII, § 28); als im Jahre 1818 diese Frist abgelaufen war, beschränkte sich nun die preußische Regierung darauf, die Wirkungsdauer des Dekrets auf unbestimmte Zeit zu verlängern. So sehr auch das Regime Napoleons den preußischen Machthabern verhasst gewesen war, zögerten sie nicht, die schlimmsten Auswüchse seines Despotismus, die ja ganz nach ihrem Geschmack waren, aufs liebevollste zu hegen.


Von etwa zwanzig „Judenverfassungen“ beherrscht, war die preußische Judenheit zugleich auf ebensoviele Gefängniszellen verteilt. Wurde doch für die jüdischen Landesbewohner die Bestimmung erlassen, dass sie aus einer Provinz Preußens in eine andere, ,,woselbst eine abweichende Judenverfassung besteht“, nicht übersiedeln durften (18. Februar 1818), so dass sie gewissermaßen an ihren jeweiligen Wohnbezirk gefesselt waren. Die Hauptsorge des Preußenkönigs und seiner Regierung galt aber der Neuregelung der Verhältnisse der Juden innerhalb der preußischen Stammlande selbst. Noch lastete auf dem christlichen Gewissen der Regierenden eine schwere Sünde: das Emanzipationsedikt von 181 2. Der leichtfertig erlassene Freiheitsbrief sollte um jeden Preis widerrufen, andererseits jedoch der Anschein aufrechterhalten werden, dass man den durch die Bundesakte eingegangenen Verpflichtungen in bezug auf den Status quo voll Genüge leiste. Die liberalen Staatsmänner der verflossenen Ära, wie Hardenberg oder Wilhelm von Humboldt, hatten nach dem Wiener Kongress ihren Einfluss bei Hofe eingebüßt und mussten ihre Ministersitze an entschiedene Reaktionäre abgeben. Als nun die preußische Regierung im Jahre 1816 die Frage in Erwägung zog, ob das liberale Edikt von 1812 auch fernerhin zur Anwendung kommen solle, wurde diese Frage von drei Ministern ohne Bedenken verneint. Der Innenminister Schuckman suchte in seinem „Votum“ zu beweisen, dass das in Frage stehende Edikt mit den von der Heiligen Allianz gutgeheißenen „christlichen Regierungs-Grundsätzen“ unvereinbar sei: es dürfe z. B. nicht geduldet werden, dass die Juden unbehindert Grundbesitz erwarben, da sie sich auf diese Weise den Weg in die höheren christlichen Kreise bahnen könnten. ,,Es gibt gewiss rechtliche und achtbare einzelne Juden — so führte der Minister weiter aus — und ich kenne dergleichen selbst; aber der Charakter dieses Volkes im ganzen ist doch noch fortwährend aus niederträchtiger Eitelkeit, schmutziger Habsucht und listiger Gaunerei zusammengesetzt, und es ist unmöglich, dass ein Volk, welches mit Nationalgeist sich selber achtet, sie für seinesgleichen achten kann. Wollte man dies erzwingen, so würde man entweder die Nation (die deutsche) zu ihnen herabwürdigen oder die Nichtachtung geht in Hass und Verfolgung über, wie sie sich schon merklich in dem Verlangen nach der erbärmlichen Posse „Unser Verkehr“ (s. oben, § 2) ausgesprochen hat“. Aus gleichen Erwägungen sprach sich der Vertreter des Finanzministeriums, Wohlfahrt, in dem von ihm abgegebenen Votum für die folgenden Grundsätze aus: „Es wäre zu wünschen, wir hätten gar keine Juden im Lande. Die wir einmal haben, müssen wir dulden, aber unablässig bemüht sein, sie möglichst unschädlich zu machen. Der Übertritt der Juden zur christlichen Religion muss erleichtert werden, und mit dem sind alle staatsbürgerlichen Rechte verknüpft. Solange der Jude aber Jude bleibt, kann er keine Stellung im Staate einnehmen, in welcher er als Repräsentant der Regierung über christliche Staatsbürger gebieten würde“. Das Edikt von 1812, meinte Wohlfahrt, dürfe allein für jene „Klasse“ von Juden in Geltung bleiben, die auf jede Art Handel verzichtet hätten und „bürgerlichen Gewerben“ nachgingen, wie etwa der Wissenschaft, der Kunst, der Landwirtschaft und der Fabrikindustrie ; hingegen sollten alle übrigen Juden in ihren Rechten beschränkt und zur Entrichtung einer Sondersteuer, des „Schutzgeldes“, angehalten werden, ein Vorschlag, der auf die Wiederherstellung des berüchtigten „Schutzjudentums“ hinauslief und nur einer kleinen Gruppe gewisse Vorrechte zuerkannt wissen wollte.

*) Gegen Ende des hier behandelten Zeitraumes stieg diese Zahl beträchtlich: nach der Zählung von 1847 gab es im preußischen Herrschaftsbereiche bereits 206.050 Juden. Hiervon lebten in der Provinz Posen 79.575, in der Mark Brandenburg 43.656 in Schlesien 28.606, in der Rheinprovinz 27.570, in Westfalen 14.405, in Pommern 7.716 und in der Provinz Sachsen 4.522. Beruflich waren die Juden folgendermaßen gegliedert: von je 1.000 Erwerbstätigen waren 431 im Handel tätig, 193 im Handwerk, 101 im Gesindedienst, 47 pro mille waren Gast- und Schankwirte, 42 0/00 Tagelöhner, 27 0/00 Rentiers, ebenso viele widmeten sich der Wissenschaft, 13 0/00 waren im Kommunaldienst angestellt, 10 0/00 befassten sich mit Landwirtschaft, 22 0/00 mit verschiedenen anderen Berufen und 87 0/00 waren ohne bestimmten Beruf. Die jüdische Bevölkerung von Berlin war inzwischen (bis 1847) auf 8.000 Seelen angewachsen; der Berliner Gemeinde folgte ihrer zahlenmäßigen Stärke nach die jüdische Bevölkerung von Posen (7.300), Breslau (6.000), Danzig (4.000) und Königsberg (1.600).

Zwar führten diese bureaukratischen Projekte nicht direkt zur Aufhebung des Emanzipationsediktes, doch waren die in ihnen zum Ausdruck gebrachten Tendenzen von entscheidendem Einfluss auf das ganze weitere Verhalten der Regierung in der jüdischen Frage. Durch gekünstelte Interpretation des Gesetzes, durch auf dem Verwaltungswege erlassene Rundschreiben und provisorische Bestimmungen wurde die Gleichberechtigung gleichsam stückweise zunichte gemacht. Die Aufräumungsarbeit begann mit der exponiertesten Position, mit der Verweigerung der politischen Rechte, die im Emanzipationsedikt selbst erst für die Zukunft in Aussicht gestellt waren (Band VIII, § 30). Gesuche von jüdischen Bewerbern um ein Staatsamt, selbst von solchen, die in der Armee Dienst getan hatten, wurden systematisch abgelehnt. Überaus charakteristisch ist der folgende Bescheid: „Wenn auch der mosaische Glaubensgenosse (es folgt der Name) durch die freiwillige Teilnahme an den Feldzügen 1813/14 gleiche Ansprüche auf die Versorgung im Staatsdienst erworben hat, kann er jedoch solche des jüdischen Glaubens wegen nicht geltend machen“. Verletzende Beschränkungen galten überdies für die Vertreter der freien Berufe: jüdische Juristen hatten keinen Zutritt zum Anwaltsstand und jüdische Ärzte durften im Kommunaldienst nicht angestellt werden. Zu den Magistraten wurden hingegen die Juden schon seit langem zugelassen, doch sprach man ihnen das Recht ab, das Bürgermeisteramt zu bekleiden, und zwar mit der Begründung, dass zu diesem Amte „nur diejenigen fähig sind, welche sich zur christlichen Religion bekennen“. Am rücksichtslosesten setzte sich die Regierung über jene Bestimmungen des Ediktes hinweg, die den Juden den Weg zu den ,, akademischen und Schulämtern“ geebnet hatten. Die Zahl der Juden mit Hochschulbildung war um diese Zeit bereits recht beträchtlich, und manche von ihnen (so der berühmte Rechtsgelehrte und Hegelianer Gans) gedachten die akademische Laufbahn einzuschlagen. Die Regierung witterte Gefahr und beeilte sich, die missliebigen Artikel zu widerrufen. Im Jahre 1822 wurde kundgetan, dass „Seine Majestät der König die Paragraphen 7 und 8 des Ediktes von 1812, wonach die für Einländer zu achtenden Juden zu akademischen Lehr- und Schulämtern zugelassen werden sollen, wegen der bei der Ausführung sich zeigenden Missverhältnisse aufgehoben haben“. Was unter diesen „Missverhältnissen“ zu verstehen war, ist aus anderen Regierungsverfügungen zu ersehen, in denen unverblümt darauf hingewiesen wird, dass dieser oder jener Kandidat zu einem akademischen Lehramt nicht zugelassen werden könne, solange er sich zum Judentum bekenne.

Der von Regierungswegen eingeleitete Feldzug gegen die jüdischen Gebildeten, deren Zusammenhang mit dem angestammten Glauben und Volkstum infolge der allgemeinen Kulturkrise bereits ohnedies stark gelockert war, leistete nur dem Renegatentum Vorschub. Der Übertritt zur Kirche wurde erneut zu einer häufigen Erscheinung, und manche hervorragende geistige Kraft ging dem Volke unwiederbringlich verloren. Um die ganze Schwere solcher Verluste vor Augen zu führen, genügt es, auf die vier Namen: Börne, Heine, Gans und Marx hinzuweisen, von denen die ersten drei sich in diesen Jahren (1818— 1825) selbst taufen ließen, während der letzte von seinen Eltern der Taufe zugeführt wurde. Mehr noch als alle Zweckmäßigkeitserwägungen gab hierbei in den Kreisen der jüdischen Gebildeten das Bestreben den Ausschlag, sich in den Besitz eines „Entreebilletts zur europäischen Kultur“ zu setzen, wie Heine den Taufakt gekennzeichnet hat. Mit erzwungenen Taufen allein wollten sich indessen die Gebieter des „christlichen Staates“ nicht zufriedengeben: es lag ihnen daran, auch aufrichtige Proselyten zu gewinnen. Zu diesem Zwecke wurde in Berlin im Jahre 1822 nach dem Vorbild der englischen Bibelgesellschaft eine „Gesellschaft zu Beförderung des Christentums unter den Juden“ ins Leben gerufen. In Anbetracht ihres „löblichen Endzweckes“ nahm der König die neu begründete Gesellschaft unter sein Ehrenprotektorat. Dieser Zweck war in den Satzungen der Gesellschaft dahin umschrieben, dass jüdische Proselyten durch überzeugende Predigt und nicht etwa durch Verheißung irdischer Güter gewonnen werden sollten. In Wirklichkeit war es indessen den tauflustigen Juden am allerwenigsten um die „himmlische“ Gnade, um so mehr aber um irdische Vorteile zu tun. Ein einziges die Rechte der Juden schmälerndes königliches Dekret oder ministerielles Rundschreiben führte der Kirche mehr „Getreue“ zu als die Statuten sämtlicher Missionsgesellschaften zusammengenommen*).

Werde Christ oder verharre in deiner Absonderung! — dies war die Wahl, vor die die preußische Regierung nunmehr den Juden gestellt hatte. Sie legte keinen Wert mehr auf jene ehedem systematisch geförderte Assimilation, die Deutsche jüdischer Konfession züchtete. Sie hatte die Schwäche des gebildeten Juden, sein Bestreben, die angestammte Nationalität zu maskieren und als Volldeutscher zu erscheinen, durchschaut und machte sich nun diese Schwäche zunutze. Bezeichnend hierfür sind die folgenden zwei Verfügungen. Im Jahre 1815, als die von Hardenberg geleitete Regierung noch an der Politik der ,,Verschmelzung“ festhielt, wurde angeordnet, dass in den Pässen der jüdischen Bürger das Wort „Jude“ durch die Bezeichnung „alttestamentlicher“ oder „mosaischer Glaubensgenosse“ ersetzt werde, d. h. durch jene „feineren“ Umschreibungen, die dem Geschmack der damaligen jüdischen Fortschrittler aus dem Kreise um Friedländer entsprachen. Zwanzig Jahre später erging aber im Namen des Königs eine direkt entgegengesetzte Verfügung, wonach man im amtlichen Schriftverkehr von ähnlichen umschreibenden Wendungen Abstand nehmen und sich von neuem der einfacheren Bezeichnungen ,,Jude“, „jüdische Religion“ u. dgl. bedienen solle (1836). Die germanisierten Juden empfanden diesen Erlass als schmerzliche Kränkung, und ein Berliner Fabrikant namens Mayer wandte sich an den König mit der flehentlichen Bitte, „ihn und seine Glaubensgenossen vor unverschuldeter Geringschätzung zu schützen“. Der Bescheid des Königs lautete dahin, dass er mit dem beanstandeten Erlass keineswegs eine Ehrverletzung beabsichtigt, sondern lediglich die Ersetzung der neumodischen Weitschweifigkeit durch die ältere und präzisere Ausdrucksweise bezweckt habe, und auch dies nur im amtlichen Sprachgebrauch. Die preußischen Staatsbeamten legten indessen die königliche Verordnung in erweiterndem Sinne aus, und es wurde Brauch, selbst bei gerichtlichen Vorladungen dem Namen des jüdischen Adressaten in demonstrativer Weise das Prädikat „Jude“ vorauszuschicken. Die Beschwerden der Gekränkten veranlassten den Justizminister, in einem besonderen Runderlass zu erklären, dass die Anredeform „Jude“ ebenso ungereimt sei wie etwa „Christ“ oder „Türke“, dass aber in amtlichen Schriftstücken, in denen es auf die Kenntlichmachung der Konfession ankomme, Bezeichnungen wie „Jude“ oder „jüdische Religion“ durchaus am Platze seien. „Dieser uralte Volksname — so ließ sich der Minister vernehmen — ist jedenfalls ehrwürdiger und treffender als der mosaischer ,alttestamentlicher Glaubensgenosse' und wie die Erfindungen der neueren Zeit alle heißen mögen, deren Gebrauch, weit entfernt, etwas Höheres auszudrücken, nur verletzend ist, da kein Jude und überhaupt kein vernünftiger Mensch zugeben wird, in der Benennung ,Jude' liege etwas, was man zu umschreiben nötig habe“. Obzwar in dieser Bemerkung des Justizministers die verletzende Nebenbedeutung des Wortes „Jude“ unbeachtet geblieben war, bedeutete sie, soweit sie aufrichtig gemeint war, eine gerechte Verurteilung der Leisetreterei, die in den assimilierten Kreisen der deutschen Judenheit an der Tagesordnung war.

In anderen Regierungsverfügungen trat hingegen unverkennbar die Absicht zutage, die äußeren Kennzeichen der Juden aufrechtzuerhalten, und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen man ihnen im Mittelalter das berüchtigte ,,Judenabzeichen“ aufgezwungen hatte. Durch die Kabinettsbefehle von 1828 und 1836 wurde es ihnen untersagt, jüdische Vornamen durch christliche zu ersetzen oder Neugeborenen christliche Namen zu geben, wobei die Polizei angewiesen wurde, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln diesem „Unfug“ zu steuern. Die die Assimilation anstrebenden Juden regten sich freilich weniger über das dem ergangenen Verbot zugrunde liegende mittelalterliche Motiv als darüber auf, dass sie sich nun in der unangenehmen Lage sahen, statt etwa auf den schönen Namen „Moritz“ wieder auf den altväterischen „Moses“ zu hören. Zu ihrem Glück stieß man bei der Durchführung der Verordnung auf eine unüberwindliche Schwierigkeit: auf die Tatsache, dass Christen wie Juden ihre Namen zum Teil aus einer gemeinsamen Quelle, der Bibel, schöpften. In einer speziellen Untersuchung über die „Namen der Juden“ (1837) wies der Gelehrte Zunz nach, dass sich im Laufe der mittelalterlichen und neueren Geschichte die Unterschiede zwischen christlichen und jüdischen Namen vielfach bis zur Unkenntlichkeit verwischt hätten. Daraufhin schränkte die Regierung das erlassene Verbot dahin ein, dass den jüdischen Neugeborenen lediglich solche Namen nicht gegeben werden dürften, die unmittelbar mit der christlichen Tradition zusammenhingen, wie etwa Peter, Baptist, Christian, Christoph u. dgl. (1841). Eine konsequent reaktionäre Haltung nahm die Regierung in bezug auf die jüdische Religionsgemeinde ein (von einer Gemeinde anderer Art konnte damals überhaupt nicht die Rede sein). Wiewohl sich die Regierung trotz des im Edikt von 1812 gegebenen Versprechens um die Reorganisation der Gemeinde nicht im geringsten kümmerte und diese nicht als juristische Person anerkennen wollte, stand sie nicht an, sich in rücksichtslosester Weise in die inneren Gemeindeangelegenheiten einzumischen, ja sogar die religiöse Gesinnung der Juden zu überwachen. Als in Berlin und einigen anderen Städten die jüdischen Fortschrittler, von der damaligen Reformbewegung mitgerissen, an die Reformierung des synagogalen Gottesdienstes gingen und neben der deutschen Predigt die Konfirmation der Jugend einführten (unten, § 11), beeilte sich Friedrich Wilhelm III. einzuschreiten und die Partei der Orthodoxen, der Hüter der Tradition, zu ergreifen. Die aus diesem Anlass im Jahre 1828 ergangene Kabinettsorder war in einem auffallend schroffen Tone gehalten: ,,Veranlasst durch die anliegende Vorstellung eines Teiles der hiesigen (Berliner) jüdischen Gemeinde — so hieß es im königlichen Befehl — bestimme ich hierdurch wiederholentlich, dass der Gottesdienst der Juden nur in der hiesigen Synagoge und nur nach dem hergebrachten Ritus, ohne die geringste Neuerung in der Sprache und in den Zeremonien, Gebeten und Gesängen, ganz nach dem alten Herkommen gehalten werden soll. Ich verpflichte Sie (die zuständigen Beamten), ganz besonders hierauf zu halten und durchaus keine Sekten unter der Judenschaft in meinen Staaten zu dulden“. Auf Grund dieser Instruktionen untersagten die Behörden den Rabbinern die Predigt in deutscher Sprache, obwohl diese bereits zur Umgangssprache der deutschen Juden geworden war; verboten wurde auch die nach protestantischem Vorbild eingeführte Konfirmation der Dreizehnjährigen mit der Begründung, dass „dieser Religionsgebrauch dem Judentum nicht angehört“. So lief denn die Weisheit der preußischen Regierung darauf hinaus, einerseits die Juden in die Kirche zu zerren, andererseits das alte Fundament der Synagoge zu festigen. Indessen trat hierin keineswegs ein Widerspruch, sondern im Gegenteil die Konsequenz einer stumpfsinnigen Reaktion zutage, die es in ihrer grenzenlosen Furcht vor jeder Neuerung und Fortentwicklung als ihren ureigentlichen Beruf erachtete, in ihrem ganzen Wirkungsbereiche eine Stütze der alten Lebensordnung und der herkömmlichen Frömmigkeit zu sein.

*) Der amtlichen Statistik zufolge ließen sich in Preußen in den Jahren 1812 bis 1846 insgesamt 8.770 Juden taufen. Die schwersten Verluste erlitten durch die Taufen die drei großen Gemeinden von Berlin, Breslau und Königsberg. Viele Juden führten ihre minderjährigen Kinder der Taufe zu in der allein gen Absicht, ihnen bessere Chancen für die Zukunft zu sichern. Die durch die Abtrünnigkeit verursachte Einbuße wurde jedoch durch den natürlichen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung (über 80.000 Seelen in dem gleichen Zeitraum) mehr als zwanzigfach kompensiert.

In vollem Einklang mit dem von ihr befolgten System untersagte die preußische Regierung im Jahre 1819 auch noch die Unterweisung christlicher Kinder in den von Juden ins Leben gerufenen Simultanschulen. Voller Trauer mußte der Leiter der Berliner „Freischule“, der bekannte Schriftsteller Lazarus Bendavid, zusehen, wie die von ihm gehegte Hoffnung, durch die Vermittlung der Schule die jüdische und christliche Jugend einander näher zubringen (Band VIII, § 34), in ein Nichts zerrann.