§ 2. Die literarische Hetze und der Hep-hep!-Sturm (1815 bis 1819)

Vom Geiste der politischen Reaktion genährt und diesen wiederum mit ihrem spezifischen Gifte infizierend, verbreitete sich die Seuche des Judenhasses unaufhaltsam über ganz Deutschland. Die in den Jahren der Befreiungskriege hochgehenden Wogen des deutschen Patriotismus ließen jenes Zerrbild des nationalen Gefühls an die Oberfläche kommen, in dem die Liebe zur eigenen Nation unzertrennlich mit dem Hass gegen jede fremde verbunden ist. Die patriotischen Heißsporne gingen mit den Parteigängern des „christlichen Staates“, der Ausgeburt der reaktionären, sich in das Mittelalter zurücksehnenden Romantik, ein enges Bündnis ein, und das Judentum war es, gegen; das die Bundesgenossen mit vereinten Kräften zu Felde zogen. Die Juden waren schon darum verhasst, weil sie ihre Freiheit den Siegen der Revolution und des Napoleonischen Kaiserreiches verdankten, eine Erbsünde, von der sie sich trotz aller für das deutsche Vaterland an Gut und Blut gebrachten Opfer nicht reinwaschen konnten. Zum politischen Hass gesellte sich ferner ein Motiv wirtschaftlichen Charakters: man machte den Juden zum Vorwurf, dass sie in den Jahren der Napoleonischen Kriege durch Heereslieferungen, Kriegsanleiheoperationen sowie durch sonstige in den Zeiten finanzieller Krisen gedeihende Spekulationen große Reichtümer angehäuft hätten. Wiewohl es unter den Juden sicherlich auch solche gab, denen die wirtschaftliche Zerrüttung schwere Verluste verursacht hatte, fielen den durch die Not der Nachkriegszeit bedrängten christlichen Massen allein die jüdischen Kriegsgewinner auf, um derentwillen man die Juden samt und sonders zu Bundesgenossen der Zerstörer des Landes, der Franzosen, stempelte. Was half es, dass die Spitzen der jüdischen Gesellschaft unablässig bemüht waren, sich zu germanisieren, dass sie die Assimilation anstrebten: der entfesselte „christlich-deutsche“ Nationalismus brauchte eben die Judenheit als Zielscheibe seiner Pfeile, als ein Objekt, an dem er seine Wehrhaftigkeit erproben konnte.

Das Theater und die Literatur waren es, in denen diese reaktionäre Stimmung zuallererst zum Durchbruch kam. Im Jahre 1815 wurde auf den deutschen Bühnen mit großem Erfolg das minderwertige Possenspiel „Die Judenschule“ aufgeführt, in dem die Besonderheiten der jüdischen Lebensführung karikiert wurden. Der damals viel bewunderte Schauspieler Wurm, der in diesem Stück seine ganze Kunst aufbot, um die Juden und ihren „Jargon“ ins Lächerliche zu ziehen, wurde von dem christlichen Theaterpublikum mit stürmischem Beifall belohnt. Als man diese Verhöhnung der jüdischen Mitbürger auch in einem der Berliner Theater zu inszenieren gedachte, erwirkte Israel Jacobson, der nach dem Zusammenbruch des Königreichs Westfalen in die preußische Hauptstadt übergesiedelt war, durch die Vermittlung des Staatskanzlers Hardenberg ein Verbot der Aufführung. Dieses reizte aber das schaulustige Publikum nur noch mehr: Abend für Abend verlangte es laut nach dem amüsanten Stück, bis die Behörden schließlich nachgaben. Die Posse wurde unter einem neuen Titel („Unser Verkehr“) in Szene gesetzt, und Wurm erntete mit seiner Truppe auf den Bühnen aller größeren deutschen Städte die ersehnten Lorbeeren.


Gleichzeitig ließen die Vertreter der deutschen Wissenschaft schweres Geschütz gegen den „inneren Feind“ auffahren. Aus einer Reihe von Universitäten, die zu Hochburgen der reaktionären Bestrebungen geworden waren, ergingen unzweideutige Aufrufe zur Gegenemanzipation. Die Berliner „Historische Rechtsschule“ (Savigny), deren vornehmliche Aufgabe es war, für den Polizeistaat das wissenschaftliche Rüstzeug zu schmieden, regte die Einleitung einer antijüdischen Politik an. Den literarischen Feldzug gegen die Juden eröffnete der Berliner Geschichtsprofessor Friedrich Rühs. In seiner Schrift „Über die Ansprüche der Juden auf das deutsche Bürgerrecht“*) behandelte Rühs die jüdische Frage in Übereinstimmung mit der Lehre vom nationalen und christlichen Staat. Ein Vorbote der sich anbahnenden Reaktion, ließ der Verfasser seine Abhandlung mit einem Protest gegen das Werk Dohms beginnen, des ersten Pioniers der Emanzipation. Seine Hauptthese lautete, dass die Juden in Deutschland lediglich Untertanen sein könnten, wohingegen sie aus der deutschen bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen bleiben müßten. Baue sich doch diese auf der Einheit von Sprache, Religion und nationaler Gesinnung auf, während die Juden an ihrer eigenen Religion festhielten und sich durch scharf ausgeprägte Charaktereigenschaften auszeichneten. Sie bildeten eine über die ganze Welt zerstreute Sondernation, die sich als auserwähltes Volk betrachte, besäßen einen eigenen „Rabbineradel“ und zögen obendrein von jeher den Handel aller produktiven Arbeit vor. So dürfe man den Juden nur „Fremdenrechte“ einräumen; es sei angezeigt, eine besondere „Judensteuer“ für sie einzuführen, ihre Vermehrung und weitere Ausbreitung im Lande einzudämmen sowie ihre Beteiligung am wirtschaftlichen Leben streng zu überwachen; es wäre sogar wünschenswert, ihnen von neuem das mittelalterliche Abzeichen aufzuzwingen, etwa in Form einer „Volksschleife“, durch die der Jude auf den ersten Blick von dem Deutschen unterschieden werden könnte. Lediglich ein zum Christentum übergetretener Jude sei würdig, in den Stand der Bürger aufgenommen zu werden.

Diese barbarischen Gedankengänge entsprachen durchaus dem Geiste der Zeit, und so machte der Berliner Professor Schule. Im Jahre 1816 veröffentlichte der berühmte Philosoph J. F. Fries in den ,,Heidelberger Jahrbüchern der Literatur“ eine eingehende Besprechung des Buches von Rühs, die folgendermaßen überschrieben war: „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“ (gleichzeitig auch als Flugschrift herausgegeben). Der Philosoph hatte plötzlich den Gelehrtentalar abgelegt, um sich als ein geübter Pamphletist zu entpuppen. Die Forderung der Judenemanzipation hätten, so meinte er, allein die dem Kosmopolitismus huldigenden deutschen Gebildeten aufs Tapet gebracht, während das Volk für die Juden nichts als Hass empfinde. Diesem Volkstrieb müsse aber auch die Schicht der Gebildeten gehorchen. Zwar suchte sich der Verfasser hinter dem Sophismus zu verschanzen, dass er „nicht den Juden, sondern der Judenschaft den Krieg“ erkläre, doch beeilte er sich gleich darauf, dies dahin zu erläutern, dass unter „Judenschaft“ das Schmarotzertum des ihm verhassten Volkes zu verstehen sei, weshalb das von ihm aufgestellte Programm praktisch auf die „Ausrottung“ der lebendigen Träger des Judentums hinauslief: auf die Verminderung ihrer Zahl durch Normierung der Ehen, auf die Vertreibung der Juden aus den Dörfern, die Beschränkung ihrer Handelsfreiheit, die Erhebung einer „Schutzsteuer“ sowie die Brandmarkung der jüdischen Landesbewohner durch ein besonderes Abzeichen. Nur in dem Falle, dass sich der Deutsche Bund entschließen würde, die angeregten Maßnahmen durchzuführen, könnte die von selten der Juden drohende Gefahr gebannt werden; sonst würde den Deutschen, so prophezeite Fries, schon in vierzig Jahren nichts anderes übrigbleiben, als „sich bei den jüdischen Häusern als Packknechte“ zu verdingen.

*) Die Schrift erschien zuerst 1815 in der Berliner „Zeitschrift für neueste Geschichte, Völker- und Staatenkunde“; im darauffolgenden Jahre wurde sie in Buchform nebst einem Anhang: „Über die Geschichte der Juden in Spanien“ publiziert. Im gleichen Jahre brachte Rühs eine zweite Schrift heraus, betitelt: „Die Rechte des Christentums und des deutschen Volkes, verteidigt gegen die Ansprüche der Juden und ihre Verfechter“.

Den beiden Rufern im Streit schloss sich bald eine ganze Schar von Schriftstellern und Skribenten an, die mit ihren judenfeindlichen Schmähschriften den Büchermarkt geradezu überschwemmten. Ein Schwall von dummen und gehässigen Reden, von weltfremden Projekten und praktischen Vorschlägen ergoss sich über das deutsche Volk. Neben den überhitzten Verfechtern der „deutsch-christlichen“ Idee kamen aber hin und wieder auch diejenigen zu Worte, die der Vernunft und dem Humanitätsvermächtnis des XVIII. Jahrhunderts noch immer die Treue hielten. So trat der greise Johann Ewald, ein gelehrter badischer Pastor, in zwei Schriften der Rühs'schen Theorie von dem dem deutschen Staate innewohnenden Judenhasse entgegen („Ideen über die nötige Organisation der Israeliten in christlichen Staaten“, Karlsruhe 1816, und „Der Geist des Christentums und des echten deutschen Volkes“, 1817 — eine Widerlegung der zweiten Abhandlung des Rühs über „Die Rechte des Christentums und des deutschen Volkes“). Zwar empfahl auch Ewald die staatliche Bevormundung der Juden, doch gab er zugleich der Hoffnung Ausdruck, dass sie in Deutschland, ebenso wie in Frankreich und den anderen Ländern der Emanzipation, auf dem Wege der Aufklärung zu nützlichen Bürgern gemacht werden könnten. Eine entschiedenere Sprache führte der bayerische Publizist August Krämer in seiner Abhandlung: „Die Juden und ihre gerechten Ansprüche an die christlichen Staaten, ein Beitrag zur Milderung der harten Vorurteile über die jüdische Nation“ (1816). Die Juden, so führte er aus, seien nicht als heimatlose Wanderer, sondern als sesshafte Staatsangehörige zu betrachten, die faktisch bereits Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft geworden seien. Darum müsse auch der Staat alle billigen Forderungen der Juden erfüllen: er müsse ihnen die Möglichkeit gewährleisten, ihre Kräfte und Fähigkeiten voll zu entfalten, sie rechtlich den übrigen Bürgern gleichstellen, ihnen Zutritt zu allen Erwerbszweigen gewähren, ihre Religion achten und sie vor jedem Anschlag schützen. Hierbei dürfe freilich die Regierung ihrerseits den Juden bestimmte Forderungen und Bedingungen stellen, sie sei aber nicht befugt, sie zu erniedrigen und aus der bürgerlichen Gesellschaft auszustoßen.

Wie äußerten sich nun die Juden selbst zu diesem sie so nahe angehenden literarischen Streit? Die Kraft der Abwehr blieb hinter dem Ungestüm des Angriffs erheblich zurück. Noch waren die deutschen Juden nicht wehrhaft genug. Börne schärfte in diesen Jahren sein Schwert zum Kampfe gegen die allgemeine deutsche Reaktion und war im Begriff, sich vom Judentum zu trennen; Riesser war noch ein Kind. So fiel denn die Führung im Kampfe gegen den Judenhass den zaghaften Apologeten aus der Schule des Friedländer und Jacobson zu. In der von Michael Heß, einem Lehrer am Frankfurter „Philantropin“, 1816 veröffentlichten Abhandlung: „Freimütige Prüfung der Schrift des Herrn Professor Rühs“ verlegte sich der Verfasser mehr auf die Rechtfertigung der Juden als auf die Bloßstellung ihrer Widersacher. Gewiss seien den Juden, so meinte er, viele Fehler, Vorurteile und Unsitten eigen, wie sollten aber auch die traurigen Folgen jahrhundertelanger Unterdrückung in einem einzigen Jahrzehnt behoben werden können? Mögen nur die wohlwollenden Regierungen das Reformwerk in die Hand nehmen, und die soziale ebenso wie die geistige Wiedergeburt der Juden werde nicht lange auf sich warten lassen. Daneben suchte der Heidelberger cand. iuris Zimmern den an der dortigen Universität wirkenden Judenhasser Fries darüber aufzuklären, dass die „politische“ (nationale) Einheit der Juden ein Phantasieprodukt sei, da die Juden Deutschlands bereits laut ihre Bereitwilligkeit zu erkennen gegeben hätten, sich ganz der deutschen Bürgergemeinschaft anzuschließen; auch seien sie bestrebt, aus der Enge der ,,Handelskaste“, in die sie der alte Staat hineingezwängt habe, um jeden Preis herauszukommen; schon hätten sie die Macht der Rabbiner gebrochen und auf ihre abgesonderte Lebensordnung Verzicht geleistet. Gleichzeitig nahmen die Mitarbeiter der in Dessau erscheinenden Zeitschrift „Sulamith“, J. Wolff und G. Salomon, gegen die Anwürfe des Rühs und Fries den ,,Charakter“ des Judentums in Schutz, wobei sie zwischen dem alten und dem neueren, von allen Schlacken gereinigten, reformierten Judentum einen scharfen Trennungsstrich zogen (1817).

Diese Apologien von jüdischer Seite riefen erneut einen bedeutenderen christlichen Schriftsteller auf den Plan, den rationalistischen Theologen Heinrich Paulus aus Heidelberg, der später in der Literatur über die jüdische Frage einen hervorragenden Platz einnehmen sollte. In seinem Buche „Beiträge von jüdischen und christlichen Gelehrten zur Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens“ (Frankfurt a. M. 181 7) hob Paulus den Streit auf ein beträchtlich höheres Niveau und legte zugleich die verborgene Triebfeder der auch den Verfasser selbst beherrschenden antijüdischen Stimmung bloß. Alle Missverständnisse, meinte er, rührten daher, dass man über die bürgerliche oder politische Gleichstellung der Judenschaft überhaupt diskutiere, während die Rede allein von der bürgerlichen ,,Selbstgleichstellung“ des einzelnen Juden sein könne: soweit nämlich der eine oder andere Jude seiner Bildung und Lebensführung nach den Besten unter den Deutschen gleichgeworden sei, soweit er, anders gesagt, die Gleichheit de facto erlangt habe, müsse diese ihm auch von Rechts wegen zuerkannt werden; ohne innere Gleichstellung könne es hingegen auch keine äußere geben, und ein Staat, der allen Juden unterschiedslos das gleiche Recht bewilligen wollte, würde einen schreienden Widerspruch zwischen Gesetz und Leben heraufbeschwören. Die Absonderung der Juden werde nur gefördert, „wenn auch die Regierungen sie im guten oder im schlimmen Sinn als ein Ganzes zu behandeln fortfahren. Dieser Irrtum entsteht ohne Zweifel daraus, dass sie selbst, obgleich unter alle Völker zerstreut, doch als ein abgesondertes Volk sich zusammenhalten. Unterscheidet man hingegen die einzelnen, wie sie sind, und gewährt die Gerechtigkeit einem jeden, was sein erweisliches Betragen wert ist, so wird sich hierdurch jener Partikularismus durch die Tat auflösen und der Jude nicht dem Juden immer noch mehr als dem Christen angehören“. Paulus verlangte somit, dass die staatsbürgerliche Reife der Juden in jedem einzelnen Falle einer Sonderprüfung unterzogen werde; die „Selbstgleichstellung“ lief im Grunde auf die Selbstverneinung, auf die Ausmerzung aller Wesenszüge aus, durch die sich die jüdische Individualität von dem Durchschnittstypus des Deutschen unterschied. Diese Forderung des nationalen Selbstmordes, der vorbehaltlosen Assimilation, des vollständigen Bruches mit der geschichtlichen Vergangenheit war letzten Endes nichts als eine Schlussfolgerung aus jenem Dogma des christlich-nationalen Staates, das Rühs und seinen Gesinnungsgenossen ihre viel schroffer gehaltenen Veröffentlichungen diktiert hatte.

Die theoretischen Konstruktionen spiegelten aber nur die rohe Praxis des Alltags wider. Die Glut des deutschen Hyperpatriotismus verzehrte erbarmungslos die jungen Triebe der Humanität, der Gleichheit und Freiheit. Das Gerede vom „christlich-deutschen Staat“ umnebelte die Geister. Seinem Banne verfiel unter anderem auch die akademische Jugend, die damals aufkommenden „Burschenschaften“, in denen sich eine eigenartige Gärung bemerkbar machte, ein seltsames Gemisch von romantischer Sehnsucht nach den Zeiten des Rittertums und von oppositionellen Stimmungen gegen die Machthaber, die mit dem stürmisch vordringenden „Patriotismus“ nicht Schritt zu halten vermochten. Die skrupellose Reaktion hüllte sich in das Gewand der Revolution. In dieser stickigen, von mittelalterlichen Erinnerungen gesättigten Atmosphäre erscholl plötzlich der gleichsam aus dem alten Deutschland herübertönende Hetzruf: ,,Hep-hep!“ Im Frühjahr 1819 wurden nämlich die deutschen Lande durch einen politischen Mord in große Erregung versetzt: ein Vertreter der patriotisch-reaktionären Jugend, der Student Sand, erdolchte in Mannheim einen Vertreter der internationalen höfischen Reaktion und Geheimagenten Russlands, den Dichter Kotzebue. Die durch das Gespenst der Demagogie und des Terrors in Schrecken versetzten Regierungen begannen hierauf in ihrer zügellosen Wut jede Regung des Freiheitsdranges im öffentlichen Leben und in der Presse rücksichtslos zu unterdrücken. In seinem stürmischen Lauf jäh aufgehalten, grub sich nun der Strom der christlich-deutschen Leidenschaften ein neues Bett in der Linie des geringsten Widerstandes und stürzte sich mit seiner ganzen Wucht auf die Juden.

Im August 1819 stellten viele deutsche Städte ein lebendiges Sinnbild jener Rückkehr zum Mittelalter dar, von der die exaltierten Romantiker so sehnsuchtsvoll geträumt hatten: durch die Straßen zogen Scharen von Bürgern und Studenten, die mit dem Rufe „Hep-hep! Jude verreck!“ in die jüdischen Häuser einbrachen, ihre Bewohner misshandelten, alles kurz und klein schlugen und £Ui manchen Orten die an den Ruin Gebrachten zur Stadt hinausjagten. Die Ausschreitungen nahmen ihren Anfang in der bayerischen Universitätsstadt Würzburg. Am 2. August wurde dort Professor Brendel, der sich in seinen Schriften für die Juden eingesetzt hatte, von den „patriotisch“ gesinnten Studenten niedergeschrieen und aus dem Universitätsgebäude vertrieben, womit zugleich das Zeichen zu einer Judenhetze gegeben ward. Die Würzburger Bürger, die schon längst an ihren jüdischen Konkurrenten ihr Mütchen kühlen wollten, erstürmten deren Geschäfte und warfen die Waren auf die Straße. Als die Überfallenen, mit Steinen und Stöcken bewaffnet, zur Abwehr schritten, geriet die Menge vollends in Raserei und metzelte mehrere Juden nieder. Erst das herbeigeeilte Militär machte dem Blutvergießen ein Ende. Tags darauf erwirkten die Bürger bei den Behörden die restlose Ausweisung der Juden aus Würzburg. Vierhundert Menschen mußten Hals über Kopf ihre Häuser verlassen und im Freien kampieren oder in den nahegelegenen Dörfern Unterkunft suchen. Zu ähnlichen Ausschreitungen kam es auch in Bamberg und in anderen bayerischen Städten. Von dort her griff die antijüdische Bewegung auf Baden über. Auch Karlsruhe, Heidelberg und Mannheim hallten bald von den Rufen „Hephep! Jude verreck!“ wider, doch hielten sich hier die Tumulte im allgemeinen in bescheideneren Grenzen. Nur in Heidelberg, wo sich die Stadtwache geweigert hatte, die Juden zu schützen, wäre es beinahe zu einem Blutbad gekommen, wenn die Katastrophe nicht im letzten Augenblick durch das heldenmütige Eingreifen eines Häufleins gegen den Judenhass immuner Professoren und Studenten abgewendet worden wäre.

Besonders günstigen Boden fand die Hetzkampagne in Frankfurt a. M., wo der zwischen Bürgertum und Judenschaft wegen der Gleichberechtigung entbrannte Kampf noch in vollem Gange war (unten, § 3). Die Krawalle begannen hier damit, dass man die Fensterscheiben der jüdischen Häuser zertrümmerte und die Juden von den öffentlichen Promenaden vertrieb; dann drang aber eine Menge wild gewordener Handlungsgehilfen und Handwerksburschen auch in das Innere der Häuser und Läden der Ghettobewohner ein (10. August).

Hier und da fielen Schüsse, und da sich die Juden mit bewaffneter Hand zur Wehr setzten, gab es Verwundete auf beiden Seiten. Am heftigsten wurde das Haus der Rothschilds beschossen. Viele Juden beeilten sich, Frankfurt zu verlassen; zum Auszug rüstete sich auch Amschel Rothschild, der Sohn des Begründers jenes in raschem Aufstieg begriffenen Bankhauses, dessen Zweigniederlassungen ganz Europa in ihren Bereich gezogen hatten und von dem mehr als eine königliche Dynastie finanziell abhängig war. Die Frankfurter Behörden und insbesondere die Führer des in der freien Reichsstadt am Main residierenden und mit dem Hause Rothschild in geschäftlichen Beziehungen stehenden Bundestages gerieten in Unruhe. In einer schleunigst einberufenen Sitzung des Bundestages wurde der Beschluss gefasst, die Ordnung mit Waffengewalt wiederherzustellen, und der Sturm legte sich. — Auch die freie Stadt Hamburg, die den Juden inzwischen die ihnen vorübergehend zuteil gewordene Gleichberechtigung durch einen tapferen Handstreich wieder entrissen hatte, folgte dem Zuge der Zeit. An im voraus festgesetzten Tagen (21.— 24. August) schlugen die Hamburger Bürger die Fenster der jüdischen Häuser ein, rempelten alle ihnen in den Weg kommenden Juden an und verjagten sie aus den dem öffentlichen Verkehr dienenden Gebäuden. Als die Juden Widerstand zu leisten versuchten, forderte sie der Senat in schroffster Form auf, „keine Gelegenheit zu Streitigkeiten“ zu geben. — Am geringsten war der Erfolg der Hetzkampagne in Preußen, wo es nur zu ziemlich belanglosen Kundgebungen in Düsseldorf, Danzig und anderen Städten kam. Die reaktionäre Politik war hier ein Monopol der Regierung, die auch die Durchführung des judenfeindlichen Programms selbst in die Hand genommen hatte: die nicht beamteten Judenhasser konnten sich in Preußen getrost auf den Judenhass der Gesetzgeber verlassen.

Die Judenhetzen brachten auch die Hetzkampagne in der Literatur erneut in Schwung: ihre Sprache wurde nunmehr die des Straßenmobs. Ende 1819 erschien eine Schmähschrift unter dem Titel „Judenspiegel“, deren Verfasser, der sich als „Edelmann“ bezeichnende Undt-Radowsky, ganz unverhohlen zu Gewalttaten aufforderte. Die Maßnahmen, die er zur Bekämpfung des Judentums vorzuschlagen wusste, waren die folgenden: zunächst solle man möglichst viele Juden an die Engländer verkaufen, die sie an Stelle der Neger auf ihren überseeischen Plantagen gebrauchen könnten; hernach seien die noch übriggebliebenen Männer „zu entmannen und ihre Weiber und Töchter in Schandhäuser unterzubringen. Am besten werde es jedoch sein, man reinige das Land ganz von dem Ungeziefer, indem man sie entweder ganz vertilge oder sie, wie Pharao, die Meininger, Würzburger und Frankfurter es getan haben, zum Lande hinausjage“. Das Pamphlet des Hundt war so abscheulich, dass selbst die preußische Regierung nicht umhin konnte, es konfiszieren zu lassen. Gleichwohl fand das gemeine Elaborat sowie andere ähnliche, die niedrigsten Leidenschaften der Menge entfesselnde Geisteserzeugnisse weite Verbreitung. Der Judenhass war so sehr Mode geworden, dass der deutsche Übersetzer der „Hebräischen Melodien“ von Byron, der Pastor Theremin, sich im Vorwort ausdrücklich gegen den etwaigen Verdacht verwahren zu müssen glaubte, dass er eine antichristliche und pro jüdische Gesinnung hege (1820). Das deutsche Geistesleben jener Zeit war eben dermaßen verroht, dass das Christentum gleichsam zu einem anderen Ausdruck für Judenhass geworden war. Sprach doch der Verfasser eines die Heldentat des Sand verherrlichenden Büchleins geradezu von einem tätigen „christlichen“ Hass gegen die Juden, der gar bald den „Tag des Gerichtes“ über sie heraufbeschwören werde.

Die jüdische gebildete Welt sah sich durch die Ereignisse des Jahres 1819 völlig überrascht: einen so schnellen Übergang des Judenhasses vom Wort zur Tat hatte sie denn doch nicht erwartet. Der greise David Friedländer erhob seine Stimme lediglich gegen die „Verfolgung der Juden im XIX. Jahrhundert durch Schriftsteller“ (so war die von ihm 1820 publizierte Flugschrift betitelt), nicht aber gegen die blutigen Straßenexzesse. Er gedachte wehmutsvoll der entschwundenen Zeit der Humanität, ohne ein einziges Wort zu finden, das einen Ausweg aus der neugeschaffenen Lage gewiesen hätte. Henriette Herz und Rahel Varnhagen, die einst in den jüdischen Salons das Zepter geführt hatten, besiegelten kurz vor den Judenhetzen ihren Abfall vom Judentum durch den formellen Anschluss an die Kirche. Die Leiden des von ihnen verlassenen Volkes riefen in ihrer Seele nur vorübergehenden Schmerz hervor, den sie durch Selbsttäuschung zu verwinden suchten, durch die Annahme, dass das deutsche Volk für die Judenhetzen nicht verantwortlich sei: „Es ist — schrieb Rahel an ihren Bruder — nicht die Tat des Volkes, dem man Hep-hep! schreien lehrt: die Professoren Fries und Rühs . . . und noch höhere Personen mit Vorurteilen“ seien die eigentlich Schuldigen. Wohl gab es damals einen Mann, dessen mächtige Stimme die wild gewordenen Ritter des „christlichen Teutschtums“ hätte zur Besinnung rufen können, doch war dieser Mann, der dem Frankfurter Ghetto entstammende Ludwig Börne, um jene Zeit nicht mehr in der Lage, im Namen seines Volkes zu reden, da er ein Jahr vor den Judenhetzen, um im Kampfe gegen den Despotismus freie Hand zu haben, zum Christentum übergetreten war. Der Ton, auf den die Reden des flammenden Volkstribuns in diesem Jahr der deutschen Schmach und des jüdischen Märtyrertums gestimmt waren, war nicht der eines seinem Volkstum treuen Juden, sondern eines um sein Vaterland besorgten deutschen Revolutionärs (unten, § 11)— Und doch gingen die Ereignisse des schwarzen Jahres am jüdischen Selbstbewusstsein nicht spurlos vorüber. Die Feinfühligeren wurden nachdenklich. Gar viele, die, dem Zauber der deutschen Kultur verfallen und dem Judentum halb entfremdet, im Begriffe waren, ihr Volk zu verlassen, hielten inne. Es zeigte sich das Bestreben, das historische Judentum zu erforschen und dem zeitgenössischen zu einer Wiedergeburt zu verhelfen. Die Auswirkungen dieses Prozesses werden bei der Behandlung der geistigen Strömungen der geschilderten Epoche eingehende Würdigung finden.