§ 1. Die jüdische Frage auf dem Wiener Kongress

Die allgemeine politische Reaktion, die Europa mehr als dreißig Jahre in ihrem Banne hielt (1815 — 1848), war die Gegenwirkung gegen die beiden treibenden Kräfte der vorhergehenden Epoche: gegen die Revolution und den Napoleonischen Kriegsfuror. An der Stirn der neuen Epoche stand das Losungswort: „Restauration“. Die durch den Ungestüm Napoleons zerstückelten Staaten wurden eiligst wiederhergestellt, und im ganzen Machtbereiche des kriegerischen Imperiums gelangten die depossedierten Könige und Fürsten erneut zur „legitimen“ Herrschaft. Die Hülle der Restauration barg aber die reife Frucht der Reaktion. Die Festigung von „Thron und Altar“, die vollständige oder teilweise Rückkehr zur absoluten Monarchie, die Förderung der klerikalen Strömungen — dies waren die Gebote der Reaktion, deren Spitze nicht allein gegen die politischen Ideen der Revolution, sondern auch gegen alle Tendenzen des Freidenkertums des XVIII. Jahrhunderts überhaupt gerichtet war. Diese Gebote eben bildeten die Grundlage der „Heiligen Allianz“, bei deren Geburt die drei Herrscher, die auf dem Wiener Kongress von 1814 — 1815 über das Los Europas zu entscheiden hatten: die von Russland, Preußen und Österreich, Pate standen. Der Bund der drei Monarchen brachte die Politik in engsten Zusammenhang mit der Religion und rückte das theokratische Dogma von der Oberherrschaft Christi über die universale „christliche Nation“ erneut in den Vordergrund. Das Dogma verdichtete sich zum Ideal eines „christlichen Staates“, um dessen Aufbau sich die Begründer der Heiligen Allianz unablässig bemühten. Zu diesem von den Herrschern aufgerichteten Ideal einer christlichen Staatlichkeit trat ferner das Ideal eines Nationalstaates hinzu, dessen Verfechter aus den reaktionär gesinnten Gesellschaftskreisen hervorgingen. Die durch die Napoleonischen Kriege ausgelöste patriotische Begeisterung ließ nämlich in der gebildeten Welt die kosmopolitische Idee vor der nationalen gänzlich in den Hintergrund treten. Diese wurde durch einen sich an die Staatsgewalt klammernden Nationalismus repräsentiert, der der herrschenden Nation das Recht zuerkannte, die von ihr abhängigen unselbständigen Nationalitäten zu unterdrücken und gewaltsam zu assimilieren. Gleichwie der christliche Staat dem Andersgläubigen, war der Nationalstaat dem Fremdstämmigen feindlich gesinnt, und da nun der Jude allenthalben sowohl Andersgläubiger als Fremdstämmiger war, so hatte er unter dem Drucke der europäischen Reaktion doppelt zu leiden. Das neue Regime mußte auf die jüdische Bevölkerung Europas umso verhängnisvoller zurückwirken, als sie sich zu neun Zehnteln gerade auf die drei Staaten verteilte, deren Gebieter die Schöpfer der Heiligen Allianz waren. Der Geist christlich-nationaler Staatlichkeit drückte denn auch allen geschichtlichen Erscheinungen dieser Epoche seinen Stempel auf: der Gegenemanzipation in dem nachmaligen Deutschland nicht minder als der erniedrigenden Rechtlosigkeit der Juden in Österreich und ihrer Knechtung in dem noch nicht reformierten Russland.

Als nach der „Völkerschlacht“ bei Leipzig (Oktober 1813) der deutsche Freiheitskrieg zum siegreichen Ende gelangt war und die Restauration der von Napoleon durcheinandergewürfelten deutschen Territorien in Angriff genommen wurde, nahm man in den Plan dieser Restauration auch die Wiedereinführung der jüdischen Rechtlosigkeit auf. Die Befreiung Deutschlands von dem Joche der Fremdherrschaft leitete so für die Juden, die dieser Herrschaft die vollständige oder teilweise Emanzipation zu verdanken hatten, erneut eine Zeit der Unterjochung ein. Den Reigen der Reaktion eröffnete, gleich nachdem es seine „Freiheiten“ zurückerhalten hatte, Frankfurt a. M., der alte Hort der jüdischen Sklaverei. Kaum war das von Napoleon errichtete und der Regierung Karl Dalbergs anvertraute Großherzogtum Frankfurt zusammengestürzt, als der Senat der Freien Stadt den Juden zu wissen gab, dass zugleich mit der französischen Herrschaft auch die von den Juden so teuer erkaufte Gleichberechtigung (Band VIII, § 31) verschwinden müsse und dass sie fortan wieder der ehedem für sie geltenden Verfassung unterstellt seien. Die Juden legten zwar gegen diese Verletzung des Vertrages von 1811 Verwahrung ein, vermochten jedoch bei der provisorischen Regierung nichts auszurichten. Daraufhin entsandte die Gemeinde von Frankfurt zwei Bevollmächtigte (darunter den alterprobten Sachwalter der Gemeinde Jakob Baruch, den Vater Ludwig Börnes) nach Wien mit dem Auftrag, die gerechte Sache der Juden vor dem gesamteuropäischen Kongress zu vertreten. Im Oktober 1814 überreichten die Deputierten dem Kongress eine Petition, in der es unter anderem hieß: „Die Frage ist jetzt, ob 3.000 geborene Deutsche, die alle Bürgerpflichten reichlich erfüllt, deren Söhne für die Errettung Deutschlands mitgefochten, im Besitz des ihnen feierlich verliehenen Bürgerrechts geschützt oder in den früheren Zustand der Unterdrückung zurückgeworfen werden sollen“. Bald ging dem Kongress eine ähnlich lautende Beschwerde auch von der großen jüdischen Gemeinde in Hamburg zu. Wohl setzte sich hier der seinen liberalen Traditionen treue Senat für die Beibehaltung der jüdischen Gleichberechtigung ein, doch vermochte er den Widerstand der Bürgerschaft, die die Interessen der christlichen Handelskonkurrenten gegen die Juden vertrat, nicht zu brechen. Noch weiter gingen die Pläne der Bürgerschaft der zwei anderen Hansestädte Lübeck und Bremen, deren Regierungen den Beschluss fassten, die gute alte Ordnung in vollem Umfange wiederherzustellen und die Juden aus den ihnen ehedem verwehrten Städten restlos zu vertreiben. Dies veranlasste die jüdischen Gemeinden der drei Hansestädte, einen gemeinsamen Vertreter, den christlichen Rechtsanwalt Karl August Buchholz, nach Wien zu entsenden, der dem Kongress im Dezember 1814 eine ausführliche Denkschrift zugunsten der Gleichberechtigung überreichte und hernach seine Apologie unter dem Titel: „Über die Aufnahme der jüdischen Glaubensgenossen zum Bürgerrecht“ auch im Drucke erscheinen ließ. Zugleich entfalteten die jüdischen Bevollmächtigten eine energische Agitation in verschiedenen dem Wiener Kongress nahestehenden Kreisen, so unter anderem in dem zu einem Treffpunkt der Kongressmitglieder gewordenen Salon der jüdischen Freifrau Fanny von Arnstein (Band VIII, § 89). Es gelang ihnen bald, die beiden Leiter des Kongresses, den preußischen Staatskanzler Hardenberg und den österreichischen Metternich, für ihre Sache zu gewinnen und sie zu veranlassen, die Behörden der Hansestädte vor einer Verletzung der Gleichberechtigung der dortigen Juden dringend zu warnen. In den Ermahnungen wurde darauf hingewiesen, dass der Kongress im Interesse der deutschen Volkswirtschaft und im Hinblick auf den „Einfluss, den die jüdischen Häuser auf das Kreditwesen und den Handel der einzelnen deutschen Staaten geltend machen“, die Absicht habe, den Juden das gleiche Recht ausdrücklich zuzusichern (Januar— Februar 1815). Bei all ihrer Tatkraft waren indessen die jüdischen Sachwalter der Geschäftigkeit der christlichen Delegierten der freien Städte, die ihre Agitation unmittelbar in den Sitzungen des Kongresses treiben und sich hierbei auf den Beistand der Vertreter anderer an der Wiederherstellung der jüdischen Rechtlosigkeit interessierter Staaten (Sachsens, Bayerns, Württembergs) stützen konnten, nicht gewachsen.


Auf die Tagesordnung des Kongresses kam die jüdische Frage im Frühjahr 1815, und zwar im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Gründung eines deutschen Staatenbundes unter Führung Österreichs und Preußens. Nach langwierigen Debatten, an denen unter anderen der Miturheber der Verfassung des Deutschen Bundes, Wilhelm von Humboldt, regsten Anteil nahm, wurde die folgende Kompromissentschließung in Vorschlag gebracht (17. Mai): „Den Bekennern des jüdischen Glaubens werden, insofern sie sich der Leistung aller Bürgerpflichten unterziehen, die denselben entsprechenden Bürgerrechte eingeräumt, und wo dieser Reform Landesverfassungen entgegenstehen, erklären die Mitglieder des Bundes, diese Hindernisse soviel als möglich hinwegräumen zu wollen“. Für diese Fassung sprachen sich sowohl die Vertreter Preußens als die Österreichs aus. Sie fand seltsamerweise nicht nur die Zustimmung des liberalen Hardenberg, sondern auch die des reaktionär gesinnten Metternich, der an dem „Hinwegräumen“ der Hindernisse, die der Gleichberechtigung der österreichischen Juden im Wege standen, nicht das geringste Interesse hatte. Diese befremdliche Tatsache wird auf gesellschaftliche Einflüsse und namentlich auf die engen Beziehungen zurückgeführt, die Metternich mit den jüdischen Bankhäusern von Berlin und Wien verbanden. Allein gegen die, wenn auch nur verklausuliert, zur Einführung der Gleichberechtigung verpflichtende Bestimmung lehnten sich die Bevollmächtigten Bayerns, Sachsens und mancher anderen deutschen Staaten auf. Man sah sich genötigt, ihnen Zugeständnisse zu machen, und so wurde dem Kongress der „Judenparagraph“ der Bundesverfassung in der folgenden neuen Formulierung vorgelegt: „Die Bundesversammlung wird in Beratung ziehen, wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirken sei und wie insonderheit denselben der Genuss der bürgerlichen Rechte gegen die Übernahme aller Bürgerpflichten in den Bundesstaaten werde gesichert werden können; jedoch werden den Bekennern dieses Glaubens bis dahin die denselben in den einzelnen Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte erhalten“.

Obzwar der Kongress auf diese Weise die Verpflichtung, die jüdische Frage zur Lösung zu bringen, auf das erst noch zu bestellende Bundesorgan abgewälzt hatte, gewährleistete er immerhin in der von ihm angenommenen Resolution die Unverletzlichkeit der Rechte, die den Juden bereits früher, unter französischer Herrschaft, zuteil geworden waren. Dies beunruhigte namentlich die Vertreter Frankfurts, Hamburgs, Lübecks und Bremens, jener vier „freien“ Städte, denen die Gleichberechtigung der Juden von der fremden Macht abgetrotzt worden war und die nun, nach Erlösung von der Franzosenherrschaft, auch die emanzipierten Juden loswerden wollten. Es begann ein raffiniertes Ränkespiel hinter den Kulissen, und die Folge dieser Winkelzüge der Vertreter der freien Städte war, dass die eben angeführte Resolution in den Artikel 16 der „Bundesakte“ mit einer anscheinend geringfügigen, jedoch überaus einschneidenden Abänderung übernommen wurde. Im Schlusspassus wurde nämlich in dem Satzglied: „in den Bundesstaaten“ an Stelle des Wortes „in“ das Wort „von“ gesetzt. Dadurch gewann man die Möglichkeit, den Artikel in dem Sinne auszulegen, dass den Juden ausschließlich die ihnen „von“ den einzelnen Bundesstaaten, d. h. von deren legitimen Herrschern, eingeräumten Rechte gewährleistet seien, nicht aber diejenigen, die sie „in“ dem einen oder anderen Staate einer provisorischen oder gar fremden Regierung zu verdanken hatten; da aber von den „legitimen“ Regierungen nur die preußische und badische den Juden noch vor dem Wiener Kongress partielle Gleichberechtigung zuerkannt hatten, so war nunmehr allen übrigen deutschen Staaten eine Handhabe geboten, die ergangenen Emanzipationsurkunden für null und nichtig zu erklären, worauf eben die Feinde der Gleichberechtigung letzten Endes ausgingen.

Nach der am 8. Juni 1815 erfolgten Unterzeichnung der „Bundesakte“ gingen alle Kongressteilnehmer mit dem Bewusstsein auseinander, die ihnen obliegende Stabilisierung Europas glücklich zu Ende geführt zu haben. Diejenigen unter ihnen, die den Auftrag hatten, die jüdische Gleichberechtigung zu hintertreiben, hatten die Genugtuung, ihre Auftraggeber auf Artikel i6 der Bundesakte verweisen zu können, der den Widersachern der Emanzipation die verheißungsvollsten Möglichkeiten eröffnete. So begann man denn mit den Juden von Gesetzes wegen abzurechnen, und zugleich setzte eine Judenhetze ein, wie sie die deutschen Lande seit langem nicht mehr erlebt hatten.