§ 14. Die literarische Renaissance: die „Wissenschaft des Judentums“

Der Geist der freien Forschung, eine natürliche Begleiterscheinung der Reformation, zeitigte viel wertvollere Ergebnisse als die Reformation selbst. Die angestrebte Erneuerung des Judentums setzte die Kenntnis seiner geschichtlichen Entwicklung, die Erforschung der Geschichte des jüdischen Volkes voraus. Dieses Bedürfnis nach Selbsterkenntnis wurzelte letzten Endes in dem die edelsten Geister jener Epoche beseelenden Bestreben, die jüdische Kultur mit der europäischen zu versöhnen. So kam innerhalb der deutschen Judenheit eine wissenschaftlich-literarische Bewegung zur Entstehung, die unverkennbar eine Renaissance ankündigte. Nach der Erstarrung der rabbinischen Wissenschaft einerseits und dem für die Epoche der ,,ersten Emanzipation“ bezeichnenden Versiegen des weltlichen literarischen Schaffens andererseits tritt nunmehr eine Schar von Schriftstellern mit europäischer Bildung auf den Plan, um das geistige Erbe des Judentums, allerdings nicht in der nationalen, sondern in der deutschen Sprache, einer kritischen Bearbeitung zu unterziehen. Es waren dies die Väter der „Wissenschaft des Judentums“, die den Grundstein zu der viel umfassenderen Wissenschaft vom jüdischen Volke gelegt hat.

Die literarische Bewegung setzte gleichzeitig mit dem ersten Reformversuch im Bereiche der Religion ein. Zu derselben Zeit, als in Berlin die reifen Männer aus dem Kreise um Jacobson und Friedländer sich gleich Kindern an dem gleißnerischen Glanz der Kultusreform ergötzten, trug sich dort eine Schar von Jünglingen mit einem viel tiefer angelegten Plan der Erneuerung der jüdischen Kultur. An einem düsteren Herbstabend des Jahres 1819, des Jahres der Judenhetzen und des hemmungslosen Wütens der deutschen Reaktion, kamen drei junge Männer zu einer Beratung zusammen: der eben erst mit dem juristischen Doktorgrad ausgezeichnete Jünger der Hegelschen Philosophie Eduard Gans (1798 — 1889), der gleichfalls für Hegel schwärmende Privatgelehrte Moses Moser (1796 — 1 838) und der später als jüdischer Geschichtsforscher berühmt gewordene Schullehrer Leopold Zunz (1794 — 1886). Von der Beratung darüber, mit welchen Mitteln die Reaktion, die die Juden ins Mittelalter zurückzuwerfen drohte, bekämpft werden könne, gingen die drei Freunde zum Problem der inneren Wiedergeburt der deutschen Judenheit über, deren beide Flügel, die verknöcherte Orthodoxie und die dem Renegatentum zuneigende Gebildetenschicht, der Gefahr des Untergangs ausgesetzt zu sein schienen. Man kam überein, einen ,, Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden“ zu gründen. „Das Missverhältnis des ganzen inneren Zustandes der Juden zu ihrer äußeren Stellung unter den Nationen — so hieß es in den Vereinssatzungen — fordert dringend eine gänzliche Umarbeitung der bis jetzt unter den Juden bestandenen eigentümlichen Bildung und Lebensbestimmung . . . Diese Umarbeitung muss die geistesverwandten Gebildeteren zu Urhebern haben. Für diese Zwecke wirksam zu sein, beabsichtigt ein Verein, welcher sonach vorstellt: eine Verbindung derjenigen Männer, welche in sich Kraft und Beruf zu diesem Unternehmen fühlen, um die Juden durch einen von innen heraus sich entwickelnden Bildungsgang mit dem Zeitalter und den Staaten, in denen sie leben, in Harmonie zu setzen“. Dem Gründertriumvirat schloss sich eine Reihe zukunftsfroher, aus den deutschen Universitäten hervorgegangener Gesinnungsgenossen an: der Orientalist Ludwig Markus, der Pädagoge und Prediger Immanuel Wohlwill und etwas später auch der zweiundzwanzigjährige, damals als Dichter noch nicht bekannte Heinrich Heine. Die praktischen Ziele des Vereins waren ursprünglich recht weit gesteckt: man nahm sich vor, ein „wissenschaftliches Institut“ zu gründen, an dem systematische Vorträge über jüdische Geschichte gehalten werden sollten, eine der jüdischen Wissenschaft gewidmete Zeitschrift herauszugeben, Schulen und Seminare zu eröffnen, die Literatur zu fördern, ja selbst Handwerk und Ackerbau unter den Juden zu verbreiten. Bei der Verwirklichung dieses hoch gespannten Programms war man indessen über die Gründung einiger Elementarschulen für arme Kinder, die Veranstaltung vereinzelter wissenschaftlicher Vorlesungen und die Veröffentlichung einiger weniger Hefte einer wissenschaftlichen Zeitschrift nicht hinausgekommen. In diesem Organ, der 1822 bis 1828 von Zunz herausgegebenen „Zeitschrift für Wissenschaft des Judentums“, gelangten die öffentlichen Vorlesungen und sonstige Artikel der Mitglieder des Vereins zum Abdruck. Gans, der Vorsitzende des Vereins, publizierte darin die von ihm gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte der römischen Gesetzgebung in bezug auf die Juden; Zunz breitete in seinen Artikeln die Schätze der jüdischen Literatur im mittelalterlichen Spanien und Frankreich aus; Moser stellte die Prinzipien der jüdischen Geschichte im Lichte der Hegelschen Philosophie dar; David Friedländer und Lazarus Bendavid, beide hochbetagt, setzten sich wiederum für die Ziele ein, die jedem von ihnen die wichtigsten waren: der erste suchte die heilsame Wirkung der deutschen Lehrbücher der jüdischen Geschichte und Moral vor Augen zu führen, der andere die Entbehrlichkeit der messianischen Idee in einem Zeitalter, in dem die Monarchen die Juden gnädigst den übrigen Bürgern gleichstellten. Diese Stimmen der beiden greisenhaften jüdischen Wortführer klangen angesichts der in Preußen herrschenden antijüdischen Reaktion recht sonderbar, um so mehr, als sie gerade im Chore der „Jungen“ ertönten, die sich sowohl gegen den reaktionären Staat, als auch gegen den Servilismus der längst überholten Aufklärer auflehnten.


Indessen waren sich auch die jüngeren Führer des Vereins keineswegs im klaren darüber, auf welchem Wege das von ihnen angestrebte Ziel am sichersten zu erreichen sei. Waren sie doch alle (abgesehen von Zunz) an die ihnen vorschwebende Aufgabe, die Synthese von Judentum und Europäertum, mit von der Hegelschen Philosophie geblendeten Augen herangetreten, ohne mit der Weltanschauung und den Lebensverhältnissen ihres Volkes, dem ihre Erziehung sie entfremdet hatte, näher vertraut zu sein. Der Vorsitzende des „Kulturvereins“, Gans, verlegte sich darauf, in seinen Jahresberichten eine nebulose Philosophie im Geiste seines Meisters Hegel zu entwickeln: der Begriff des heutigen Europa sei, meinte er, „der der Vielheit, deren Einheit allein im Ganzen ist“; das jüdische Leben aber sei eine Einheit, die zur Vielheit noch gar nicht gekommen sei. Daraus zog er nun den folgenden Schluss: „Die Juden können weder untergehen, noch kann sich das Judentum auflösen. Aber in der großen Bewegung des Ganzen soll es untergegangen scheinen und dennoch fortleben, wie der Strom fortlebt in dem Ozean“. Sobald jedoch diese verschrobenen „Kultur“-Träger von ihren in die Wolken ragenden Höhen in das Jammertal des Lebens hinabstiegen, beschlich sie Verzweiflung. Sie durchschauten die geistige Verödung der deutschen Judenheit, „jene verneinende Aufklärung, die in der Verachtung und Schmähung des Vorgefundenen bestand, ohne dass man sich die Mühe gegeben hätte, jener leeren Abstraktion einen anderen Inhalt zu geben“ (Äußerung von Gans im Jahresbericht für 1828). Die völlige Gleichgültigkeit der jüdischen Öffentlichkeit den Zielen und der Wirksamkeit des nur wenige Mitglieder zählenden Vereins gegenüber sollte ihm und der von ihm herausgegebenen Zeitschrift bald zum Verhängnis werden (1824). Seine Führer gaben jede Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Judentums endgültig auf. Das traurige Ende des Vereins wurde noch durch eine Verzweiflungstat seines Vorsitzenden unterstrichen: der sich vergeblich um einen Lehrstuhl an der Berliner Universität bemühende Gans entschloss sich nämlich im Jahre 1825, die Taufe zu nehmen^ und kam auf diesem Umwege zu dem von ihm begehrten Lehramt. Wie schmachvoll war dieser Abfall des Hauptes einer Organisation, zu deren Aufgaben nicht zuletzt die Bekämpfung des Renegatentums gehört hatte! Heine, der um die gleiche Zeit dem Beispiel des Gans gefolgt war, den übereilten Schritt jedoch bald wieder bereute, hat in der Folgezeit die Apostasie seines Jugendfreundes aufs schärfste verurteilt: ,,Es ist hergebrachte Pflicht — schrieb er — , dass der Kapitän immer der letzte sei, der das Schiff verlässt, wenn dasselbe scheitert — Gans aber rettete sich selbst zuerst“. Wie hoch man auch die Verdienste Gans' um die deutsche Wissenschaft, seinen Kampf gegen „die Lakaien des altrömischen Rechts“ und die von Savigny und anderen Ideologen des „christlich-deutschen“ Staates begründete historische Rechtsschule veranschlagen mag („Wie wimmert unter seinen Fußtritten die arme Seele des Herrn von Savigny!“ rief Heine einmal aus) — seine Schuld gegen das Judentum bleibt unbeglichen. Seine Abtrünnigkeit ist das Schandmal einer Generation, deren Bannerträger zum Teil kaum noch die Willenskraft besaßen, an der das Judentum von der Umwelt trennenden Grenzscheide haltzumachen.

Der Zusammenbruch des „Kulturvereins“ brachte für eine Zeitlang sogar denjenigen seiner Führer um das seelische Gleichgewicht ,,dem es beschieden war, dereinst zum Apostel der jüdischen Wissenschaft zu werden. Im Jahre der Krise ließ sich auch L. Zunz in seiner Verzweiflung zu den folgenden Worten hinreißen: „Die Juden und das Judentum, das wir rekonstruieren wollten, ist zerrissen und die Beute der Barbaren, Narren, Geldwechsler, Idioten und Parnassim (Gemeindeältesten). Noch manche Sonnenwende wird über dieses Geschlecht hinwegrollen und es finden wie heut: zerrissen, überfließend in die christliche Notreligion, ohne Halt und Prinzip, zum Teil im alten Schmutz, von Europa beiseite geschoben, fortvegetierend, mit dem trockenen Auge nach dem Esel des Messias oder einem anderen Langohr hinschauend, zum Teil blätternd in Staatspapieren . . . Dahin bin ich gekommen, an eine Judenreformation nimmermehr zu glauben; der Stein muss auf dieses Gespenst geworfen und dasselbe verscheucht werden“. Aber selbst in der Stunde der Verzweiflung rief Zunz ahnungsvoll aus: „Was allein aus diesem Mabbul (Sintflut) unvergänglich auftaucht, das ist die Wissenschaft des Judentums; denn sie lebt, auch wenn Jahrhunderte lang sich kein Finger für sie regte. Ich gestehe, dass, nächst der Ergebung in das Gericht Gottes, die Beschäftigung mit dieser Wissenschaft mein Trost und Halt ist“. Die Vertiefung in die jüdische Geschichte sollte ihn in der Tat von dem inneren Zwiespalt erlösen. Schon in seinen ersten drei in der Zeitschrift des „Kulturvereins“ veröffentlichten Untersuchungen zeigte er eine außerordentliche Begabung für die Entschleierung der Geheimnisse der damals noch gänzlich unerforschten jüdischen Geschichte. Seine Abhandlung über das Leben Raschis warf ein helles Licht auf die Entstehungsgeschichte des rabbinischen Schrifttums im mittelalterlichen Frankreich. In dem Aufsatz „Grundlinien zu einer künftigen Statistik der Juden“ entwarf Zunz einen umfassenden Plan der für die jüdische Historiographie notwendigen Vorarbeiten. In der Einleitung zu einer anderen Untersuchung („Über hispanische Ortsnamen im jüdischen Schrifttum“) sprach er als erster die Ansicht aus, dass sich die Geschichte der Diaspora aus zwei Elementen: aus der Leidens- und Geistesgeschichte aufbaue, und dass sich die ganze nationale Aktivität im Denken und im Schaffen literarischer Werte erschöpft habe — eine Auffassung, die, wiewohl einseitig, da sie das sozial-wirtschaftliche Element der Geschichte sowie die Bedeutung der autonomen Verfassung für die Erhaltung der Nation gänzlich außer acht lässt, für die spätere jüdische Historiographie in Westeuropa wegweisend werden sollte.

Zunzens wissenschaftliche Tätigkeit bewegte sich fortan in den beiden von ihm vorgezeichneten Bahnen, in denen der Geschichte der Literatur und der Geschichte des Märtyrertums, die von ihm stets im Rahmen der Entwicklung der jüdischen Religion behandelt wurden. Im Jahre 1882 veröffentlichte Zunz sein erstes größeres Werk, hinter dessen bescheidenem Titel: ,,Gottesdienstliche Vorträge der Juden“ neben einer umfassenden Geschichte des jüdischen Gottesdienstes von den Zeilen Esras bis zum Ausgang des Mittelalters sich eine tiefschürfende Analyse der gesamten Literatur der Haggada, der Targumim und Midraschim verbarg. Das zwischen Titel und Inhalt des Buches obwaltende Missverhältnis geht auf das Bestreben des Verfassers zurück, zu dem damals in Preußen ergangenen Verbot der deutschen Synagogenpredigt Stellung zu nehmen und der Regierung zu beweisen, dass sich die Juden in der Synagoge von jeher der Landessprache bedient hätten. Zwar vermochte er die preußischen Machthaber nicht eines Besseren zu belehren, doch leistete er der Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst, indem er über den dunkelsten Abschnitt der Geschichte des Judentums helles Licht verbreitete. Eine politische Tendenz verfolgte auch das zweite von Zunz veröffentlichte Werk: „Namen der Juden“ (1837), in dem er der preußischen Regierung, die den jüdischen Landesbewohnern verboten hatte, sich ,,christliche Namen“ beizulegen, klarzumachen suchte, dass ein Volk, dessen Angehörige schon im Altertum und im Mittelalter griechische, römische, arabische, spanische, gallische und germanische Vornamen geführt hallen, diese Freiheit auch im neuzeitlichen Preußen beanspruchen dürfe, ohne sich dadurch einer Abweichung von der den preußischen Behörden so sehr am Herzen liegenden Tradition schuldig zu machen. Die Berliner Juden waren von dem Schlussergebnis des Buches so sehr entzückt, dass sie dem unbemittelten Verfasser, der sich als Schullehrer durchs Leben schlug, ein Geldgeschenk machten. Wie erinnerlich, trug die Untersuchung des Zunz nicht zuletzt dazu bei, dass die die Namen betreffende Verordnung aufgehoben wurde (oben, § 4). Als die Reformbewegung ihren Höhepunkt erreicht halte, ließ Zunz ein großangelegtes Werk über das rabbinische Schrifttum in Europa erscheinen (,,Zur Geschichte und Literatur“ 1845), wohl in der heimlichen Absicht, die Widersacher des Rabbinismus auf dessen reiche Schätze namentlich im Bereiche der Ethik und der Religionsphilosophie aufmerksam zu machen. Die späteren, erst nach 1848 erschienenen Werke von Zunz haben vornehmlich das zweite von ihm hervorgehobene Grundelement der jüdischen Geschichte, das Martyrologium, zum Gegenstand. In seiner der synagogalen Poesie des Mittelalters gewidmeten Trilogie*) brachte er die Geschichte des ,,Piut“ in all seinen Abwandlungen zur Darstellung; besonders liebevoll behandelte der Verfasser die das Märtyrertum verherrlichende Poesie, jene Elegien und Trauerhymnen (,,Selichoth“, „Kinoth“), von denen die Synagogen in älterer und neuerer Zeit in den Jahren der Volksnot widerhallten. Der Historiker schwingt sich hierbei unversehens zu einer hinreißenden Apotheose des jüdischen Märtyrertums auf: „Wenn es eine Stufenleiter vom Leiden gibt — ruft er aus — so hat Israel die höchste Staffel erstiegen; wenn die Dauer der Schmerzen und die Geduld, mit welcher sie ertragen werden, adeln, so nehmen es die Juden mit den Hochgeborenen aller Länder auf; wenn eine Literatur reich genannt wird, die wenige klassische Trauerspiele besitzt, welcher Platz gebührt dann einer Tragödie, die anderthalb Jahrtausende währt, gedichtet und dargestellt von den Helden selber?“ Diese Ehrfurcht vor der Geschichte machte es Zunz trotz des von ihm der Idee der religiösen Erneuerung entgegengebrachten Verständnisses unmöglich, sich den streitbaren Reformern anzuschließen, die nur zu oft in der Geschichte verankerte Institutionen, die Frucht Jahrhunderte alten Schaffens und Strebens, leichten Herzens über Bord warfen. Darum zögerte denn auch Zunz nicht, in den Augenblicken, da dem Bollwerk des Judentums die Gefahr drohte, von den angriffslustigen Parteigängern der Reform überrannt zu werden, diesen mit Entschiedenheit entgegenzutreten: im Jahre 1845 erklärte er Geiger, dass der Schlachtruf gegen den Talmud schon an und für sich den künftigen Apostaten verrate und dass man bestrebt sein müsse, sich selbst, nicht aber die Religion zu reformieren, die Missbräuche und nicht das ererbte Heiligtum zu bekämpfen.

*) „Die synagogale Poesie im Mittelalter“ (1855), „Ritus des synagogalen Gottesdienstes“ (1858), „Literaturgeschichte der synagogalen Poesie“ (1805).

Während so Zunz zyklopische Steinblöcke für die künftigen Baumeister der jüdischen Historiographie zurechthieb, wagte es sein Schulfreund Isaak Markus Jost (1793— 1860), zunächst Lehrer in Berlin und sodann am Frankfurter „Philanthropin“, das Gebäude der Geschichte aus noch unbearbeitetem Material zu errichten. Schon im ersten Jahrzehnt der neuen jüdischen Wissenschaft (1820— 1829) vermochte er neun Bände seiner „Geschichte der Israeliten, von der Makkabäerzeit bis zur Gegenwart“ zu publizieren, ein Werk, das sich kaum über das Niveau einer pragmatischen Chronik erhebt. Der des kritischen Sinnes ermangelnde Verfasser legte seiner allgemeinen Geschichte der Juden veraltete, lückenhafte und keiner wissenschaftlichen Prüfung unterzogene Quellen zugrunde. Ein Kind seiner Zeit, gemäßigter Anhänger der Assimilation, ebenso gemäßigter Reformfreund und wenig eindrucksvoller Apologet (er polemisierte gegen Streckfuß und andere Judenhasser), drückte er allen seinen historischen Werken den Stempel dieser lauen Gesinnung auf. Als loyaler Untertan sah sich Jost veranlasst, die gegen Rom kämpfenden Zeloten des alten Judäa zu verdammen und die Behauptung aufzustellen, dass die Mehrheit des Volkes mit diesen ,, Aufrührern“ nichts gemein gehabt habe; sein Rationalismus wiederum verleitete ihn, die Absonderung des talmudischen Judentums zuverurteilen und völlig außer acht zu lassen, dass diesem geschichtlichen Prozess der Kampf des Volkes um seine Existenz zugrunde lag; Haggada und Midrasch, die unverwüstlichen Denkmäler der Weltanschauung des Volkes, waren ihm nichts als eine Sammlung von inhaltslosen Märchen; die von den Juden erlittenen Qualen und Verfolgungen suchte der Historiker in möglichst mildem Lichte erscheinen zu lassen, während er die geringfügigsten Erleichterungen des Loses der Verfolgten den „weisen und gnädigen Monarchen“ als hohes Verdienst anrechnete*). Alles in allem ist die „Geschichte der Israeliten“ ein getreues Spiegelbild der Unterwürfigkeit eines Frankfurter ,,israelitischen Bürgers“. Nach der Veröffentlichung der Untersuchungen von Zunz, Geiger, Frankel und der Werke der späteren Geschichtsforscher hat die seinerzeit von Juden und Christen viel gelesene „Geschichte“ des Jost ihre Bedeutung gänzlich eingebüßt. Übrigens hat der Verfasser selbst sein Werk in der Folgezeit in treffender Weise mit einem mitten in der Wüste aufgeschlagenen Zelllager verglichen. Die von ihm gegen Ende seines Lebens veröffentlichte „Geschichte des Judentums und seiner Sekten“ (Band I — III, 1857— 1859) zeichnet sich zwar durch größere Reife aus, reicht aber noch immer nicht an das wissenschaftliche Niveau der Zeit heran, in der bereits Graetz als Geschichtsschreiber zu wirken begann. Lediglich die „Neuere Geschichte der Israeliten von 1815 bis 1845“ (Band I — III, 1846 — 1847), in der Jost mit der Umständlichkeit eines Chronisten die Ereignisse der von ihm selbst miterlebten Epoche zur Darstellung gebracht hat, behält nach wie vor ihre Bedeutung als eine Sammlung von Quellenmaterial, das allerdings mehr vom publizistischen als vom historischen Standpunkte aus beleuchtet erscheint.

*) Vgl. Band VIII dieser Geschichte, Note 1, S. 409 f.

Der für den Forscherberuf geschaffene Abraham Geiger wurde zunächst durch die Reformationskämpfe von wissenschaftlicher Tätigkeit abgelenkt. Nachdem er in den dreißiger Jahren seine Dissertation über die Abhängigkeit des Islam vom Judentum, sowie seine Kampfartikel in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie“ (1835 bis 1839) veröffentlicht hatte, kam er in dem folgenden Jahrzehnt nur noch dazu, vereinzelte historische Aufsätze*) und ein „Lehrbuch zur Sprache der Mischna“ (1845) auszuarbeiten. Die Entstehung der großen Werke Geigers fällt in die auf das Jahr 1848 folgende Epoche, in der die Reformationsbewegung zu einem gewissen Abschluss gelangt war und der Parteiführer sich endlich der Wissenschaft zuwenden konnte (unten, § 38). — Ähnlich gestaltete sich die literarische Laufbahn seines Parteigegners Zacharias Frankel. In der hier geschilderten Epoche stand Frankels wissenschaftliche Tätigkeit in engstem Zusammenhang teils mit den Emanzipations-, teils mit den Reformationskämpfen. So sein Erstlingswerk: ,,Die Eidesleistung der Juden in theologischer und historischer Beziehung“ (1839), das er während des Kampfes der sächsischen Juden um die Abschaffung der erniedrigenden mittelalterlichen Eidesformel erscheinen ließ. Bald begann Frankel mit der Erforschung der Septuaginta im Rahmen der jüdischhellenistischen Kulturgeschichte, doch sollte er nicht über die Veröffentlichung von „Vorstudien zu der Septuaginta“ hinauskommen, da er stark von der Reformationsbewegung in Anspruch genommen wurde, in deren Verlauf er zwischen zwei Feuer, zwischen die Radikalen und die Orthodoxen, geriet. In den Jahren 1844 — 1846 gab er die „Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums“ heraus, in der er seine ,,positiv-historische“ Einstellung zu den Fragen der Erneuerung des Judentums zum Ausdruck brachte. Seine Forscherarbeit sollte auch er erst nach dem Jahre 1848 wieder aufnehmen.

*) Abgedruckt in hebräischer und deutscher Sprache in der 1840 erschienenen Sammlung „Melo cbofnaim“; der bedeutendste dieser Aufsätze ist eine Biographie eines Denkers des XVII. Jahrhunderts, J. S. Delmedigo (Band VI, § 19)

Auch die in dieser Epoche der Religionskämpfe entstandenen Systeme der Philosophie des Judentums verraten deutlich den Zug ihrer Zeit. Ebenso wie Samson Raphael Hirsch in seinen „Neunzehn Briefen“ und im „Choreb“ die von ihm geschaffene Doktrin der Neo-Orthodoxie begründete (oben, § 12), stellten die Ideologen der Reform Systeme der Theologie im Geiste der von ihnen vertretenen Partei auf. So der sich an den Reformerversammlungen eifrig beteiligende Rabbiner von Dessau, Samuel Hirsch, der in seinem Werke „Die Religionsphilosophie der Juden“ (1842) die Weltanschauung des Judaismus sowie dessen Verhältnis zum Christentum und zur Philosophie dargestellt hat. In reformistischem Geiste war auch das Werk des Offenbacher Rabbiners S. Formsiecher, ,,Die Religion des Geistes“ (1842), gehalten. Außerhalb der theologischen Parteien stand der philosophisch gebildete Hamburger Arzt Salomon Ludwig Steinheim (1789— 1866), ein Freund Gabriel Riessers. Steinheim war es nicht um den Erfolg der einen oder anderen Partei, sondern um die allgemeinere Frage zu tun, auf welche Weise das Judentum der neuen, im Geiste der christlichen oder freidenkerischen Philosophie erzogenen Generation mundgerecht gemacht werden könnte. Schon als junger Mann brachte er die in ihm durch die Massentaufen ausgelösten Gefühle in einer Dichtung zum Ausdruck, der er den bezeichnenden Titel gab: ,, Gesänge aus der Verbannung, welche sang Obadiah ben Amos“ (1829; 2, Aufl. 1887). „Ich fürchte nicht die Zeiten des allgemeinen Drangsals — so ruft der Dichter aus — , dann halten, wie unterm Joche die Rinder, die gemeinschaftlich Leidenden zusammen. Audi die Zeilen, da allgemein die Freiheit herrscht, fürchte ich nicht . . . Nur diejenigen Zeiten sind gefährlich, da der Druck gemäßigt, aber nicht gehoben; oder die Freiheit nahe, aber nicht völlig erreicht ist. In diesen Zeiten wird das Ablassen von der Väter Sitte ehrenvoll und vorteilhaft, während Lust am Vergänglichen lau fürs Ewige macht“. In eine solche Zeit der mit der Freiheit gepaarten Sklaverei hineingeboren, litt Steinheim selbst an einem seelischen Zwiespalt, schwankte zwischen der angestammten und der europäischen Kultur und spähte sehnsuchtsvoll nach einer festen philosophischen Synthese aus. Den Versuch, diese Synthese zustande zu bringen, unternahm er in dem großangelegten Werk ,,Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge“ (der erste Band erschien 1835, die zwei folgenden 1856 und 1865), ohne jedoch das ihm vorschwebende Ziel erreichen zu können. Mit den Urquellen der jüdischen Lehren nur ungenügend vertraut, verirrte er sich im Labyrinth der nichtjüdischen religionsphilosophischen Systeme, um schließlich zu der mystischen Schlussfolgerung zu gelangen: Credo quia absurdum. In den letzten Jahren seines Lebens, die er in Italien und in der Schweiz zubrachte, neigte Steinheim anscheinend einem religiösen Synkretismus zu: im zweiten Band seines eben genannten Werkes betont er geflissentlich den Unterschied zwischen der ,,christlichen Religion“ und der ,,Religion Christi“. Er starb in der Schweiz und wurde, da er keiner jüdischen Gemeinde angehörte, auf einem christlichen Friedhof bestattet.

In der Publizistik der dreißiger und vierziger Jahre führte Riesser das Zepter, der uns ebenso wie bisher auch weiterhin häufig als Vorkämpfer der Emanzipation begegnen wird. Sein Kampforgan ,,Der Jude“ (i832—i 833) war die erste jüdische politische Zeitschrift, hinter der jedoch kein Gemeinschaftswille, sondern lediglich die Persönlichkeit ihres Leiters stand. Der eigentliche Begründer der jüdischen politischen Journalistik war der Magdeburger Rabbiner und Prediger Ludwig Philippson (1811 — 1889), auf dessen Initiative, wie erinnerlich, die Einberufung der Rabbinerversammlungen erfolgte. Im Jahre 1837 begann er in Leipzig die allwöchentlich erscheinende „Allgemeine Zeitung des Judentums“ herauszugeben, die mehrere Jahrzehnte hindurch keine der die Judenheit Deutschlands und anderer Länder bewegenden Fragen unbeachtet ließ. Vergeblich versuchte diesem in seinen ersten Jahrgängen von überschäumendem Kampfesmut erfüllten Blatte die in Frankfurt von Jost herausgegebene Wochenschrift „Israelitische Annalen“ den Rang streitig zu machen: schon nach dreijährigem Bestehen (1839 — 1841) ging diese sich farbloser Mäßigung befleißigende Zeitschrift ein. Selbst die viel inhaltsreichere Leipziger Wochenschrift ,,Der Orient“ (1840— 1851), deren Herausgeber Julius Fürst war und die ihren Lesern eine besondere, „Literaturblatt des Orients“ betitelte wissenschaftliche Beilage bot, konnte es ungeachtet all ihrer Gediegenheit nicht zu der Volkstümlichkeit des von Philippson geleiteten Organs bringen. Der Aufschwung des Zeitschriftenwesens zeigt, wie beschleunigt der Puls des jüdischen öffentlichen Lebens ging. An die Stelle der in der vorhergehenden Epoche begründeten, unregelmäßig erscheinenden Zeitschrift ,,Sulamith“, die sich bis in die dreißiger Jahre nur dank der Unterstützung hoher Gönner, zum Teil deutscher Fürsten, zu erhalten vermocht hatte und die deren Namen als Ehrenzeichen auf ihrem Titelblatt führte, war jetzt eine reich gegliederte, auf eigenen Füßen stehende Zeitschriftenliteratur getreten. Bezeichnend für sie ist es, dass in ihr die Grenzen zwischen Wissenschaft und Publizistik nicht selten in einander flossen. So gab die Geigersche „Wissenschaftliche Zeitschrift“ (oben, § 12) mehrere Jahre hindurch (1835— 1889) die Kampfparolen an alle Verfechter der religiösen Reform aus. Die Frankelsche „Zeitschrift für die religiösen Interessen“ war das Sprachrohr der gemäßigten Fortschrittler. Die von W. Freund in Breslau herausgegebene radikale Zeitschrift „Zur Judenfrage in Deutschland“ (1843— 1844) stellte sich ganz in den Dienst des damaligen Kampfes um die Emanzipation und die Kultusreform. Einen noch schärferen Kurs in der Reformfrage steuerte die von dem schon beiläufig erwähnten Rabbiner Mendel Heß geleitete Zeitschrift „Der Israelite des XIX. Jahrhunderts“ (1839 bis 1848), zu deren eifrigsten Mitarbeitern Holdheim gehörte. Ungünstig war der deutsche Boden lediglich für das Gedeihen jüdischer Zeitschriften in hebräischer Sprache: der Platz des schon in der vorhergehenden Epoche an Altersschwäche zugrunde gegangenen „Meassef“ (Band VIII, § 34) blieb nach wie vor unausgefüllt. Der von Jost und Creizenach unternommene Versuch, eine hebräische wissenschaftliche Monatsschrift wieder aufleben zu lassen, schlug fehl: ihre kümmerliche, „Zion“ betitelte Publikation (1841 — 1842) ging mangels Zuspruchs seitens des Publikums schon nach zwei Jahren ein. Noch wurde in Deutschland die nationale Sprache als eine ehrwürdige Reliquie von der jüdischen Gelehrtenwelt gepflegt, doch war sie der großen Masse der in deutschen Schulen erzogenen Juden bereits unverständlich geworden. Aus den deutschen Landen verdrängt, fand die neue hebräische Literatur ein Asyl in Österreich und Russland, den Hauptzentren der national gesinnten Judenheit.