§ 13. Die Rabbinerversammlungen und die Berliner Reform (1844 bis 1848)

Nach und nach brach sich die Erkenntnis Bahn, dass das Werk der religiösen Reform auf dem Wege literarischer Polemik und durch Gründung vereinzelter Vereine nur schwer in Schwung gebracht werden könne. Um die Reformbewegung nicht in die Gemeinden zerrüttende Zwistigkeiten ausarten zu lassen, schien es geboten, das Prinzip der Synodalverfassung in den Vordergrund zu rücken und die Autorität einer fest zusammenhaltenden Geistlichkeit zu schaffen. Es galt, eine ständige Organisation in Form von periodisch zusammentretenden Rabbinerversammlungen ins Leben zu rufen und diesen die Aufgabe zuzuweisen, einheitliche Richtlinien für die Gesamtheit der Reformfreunde in den deutschen Gemeinden festzulegen. Der darauf abzielende Aufruf, dessen Urheber der schon erwähnte Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“, Ludwig Philippson, war, fand Anklang. Die erste Tagung der reformistisch gesinnten Rabbiner wurde in Braunschweig vom 12. bis 19. Juni 1844 abgehalten. Zu der Tagung waren fünfundzwanzig Rabbiner aus verschiedenen deutschen Staaten eingetroffen, unter denen jedoch die Vertreter der Reformfreunde von Bayern fehlten, dessen der „Neologie“ abholde klerikale Regierung die Beschickung des Freidenkerkongresses ausdrücklich untersagt hatte. Zu den prominentesten Mitgliedern der Versammlung gehörten: der ,,Tempel-Prediger Salomon aus Hamburg, Geiger aus Breslau, Holdheim aus Mecklenburg und Philippson aus Magdeburg. Die Sitzungen waren öffentlich. Zunächst wurde der Vorschlag erörtert, sich dahin zu einigen, dass es die Aufgabe der Rabbinerversammlungen sei, „über die Mittel zu beraten, wodurch die Fortbildung des Judentums und die Belebung des religiösen Sinnes bewirkt werden könne“. In den durch diese Formel ausgelösten Debatten zeigte sich indessen eine so tiefgehende Meinungsverschiedenheit zwischen den Gemäßigten und den Radikalen, dass die Versammlung sich genötigt sah, alle prinzipiellen Fragen an einen Sonderausschuss zu verweisen und ihre Erörterung bis zur nächsten Versammlung zu vertagen. Umso leichter war die Verständigung hinsichtlich der ins Praktische hinüberspielenden Fragen. Die Versammlung fasste die folgenden Beschlüsse: 1. Das von dem Pariser Synhedrion proklamierte Prinzip, wonach das jüdische Gesetz vor dem jeweiligen Staatsgesetz zurücktreten müsse, sei als bindend anzuerkennen. 2. Ehen zwischen Juden und einen einzigen Gott verehrenden Andersgläubigen seien grundsätzlich zu gestatten, jedoch nur in den Ländern, in denen es von Staats wegen nicht untersagt sei, die Kinder aus solchen Mischehen jüdisch zu erziehen. 3. Das von Holdheim in Mecklenburg eingeführte Reformgebetbuch sei zu approbieren und ferner die bei Anbruch des „Jom-Kippur“ vorgetragene Entbindungsformel „Kol nidre“ zu streichen.

Kaum waren die Protokolle der Braunschweiger Versammlung, die zum Teil überaus scharfe Ausfälle gegen das orthodoxe Judentum enthielten, im Drucke erschienen, als ein Sturm der Entrüstung losbrach. 116 Rabbiner und Gelehrte aus den deutschen und österreichischen Ländern sowie aus Holland und dem ehemaligen Polen traten mit einem geharnischten Protest gegen den Braunschweiger „Rat der Gottlosen“ auf den Plan*). Alle Rechtgläubigen wurden aufgefordert, sich zur Verteidigung des Jahrtausende alten Judentums zusammenzuschließen. Bald stellte sich jedoch heraus, dass eine Einigung unter den Orthodoxen noch schwerer zu erreichen war als unter den Parteigängern der verschiedenen Schattierungen des Reformismus: die sich blind an jeden Buchstaben des Gesetzes klammernden und an allen absondernden Eigentümlichkeiten der jüdischen Lebensführung hängenden Allgläubigen konnten unmöglich mit dem Neo-Orthodoxen aus der Schule des Samson Raphael Hirsch zusammengehen, die sich zwar streng an die herkömmlichen Gebräuche hielten, jedoch in aller Seelenruhe der im Fortschreiten begriffenen äußeren Assimilation zusahen.


*) Die Sendschreiben dieser Glaubenseiferer wurden von dem Rabbiner Akiba Lehren 1845 in Amsterdam unter dem Titel: „Thorath ha'kanauth“ publiziert.

Der Braunschweiger Versammlung kam letzten Endes nur die Rolle einer Vorkonferenz zu, die die zweite, in Frankfurt a. M. vom 15. bis zum 28. Juli 1845 tagende Rabbinerversammlung vorbereiten sollte. Neben der Mehrzahl der Mitglieder der Vorversammlung waren in Frankfurt eine Reihe neuer Teilnehmer erschienen, unter denen namentlich der Dresdener Rabbiner Zacharias Frankel hervorragte, der, wie erwähnt, eine zwischen Reformern und Orthodoxen vermittelnde Position einnahm. Zu Mitgliedern des Vorstandes wurden gewählt: der Frankfurter Rabbiner Leopold Stein als Präsident, Abraham Geiger als Vizepräsident und der Historiker Markus Jost als Schriftführer. Schon die erste der zur Erörterung stehenden Fragen, die der Ersetzung der hebräischen Sprache des Gottesdienstes durch die deutsche, löste eine lebhafte Diskussion über die Grundprobleme des Judentums aus. Die Frage wurde in die folgenden zwei Unterfragen geteilt: 1. Ist die Andachtsverrichtung in hebräischer Sprache formell, von Gesetzes wegen als obligatorisch zu erachten? 2. Soll diese, falls dies nicht der Fall ist, aus Zweckmäßigkeitserwägungen um der Festigung des Judentums willen beibehalten werden? Die erste Frage wurde mit Rücksicht auf die schon im Talmud vertretene Ansicht, dass der Betende die Andacht in jeder ihm verständlichen Sprache verrichten dürfe, ohne Bedenken verneint. Umso heftiger wurde die zweite Unterfrage umstritten, inwieweit die Beibehaltung des Hebräischen im Gottesdienst zweckmäßig sei, eine Frage, die mehr die nationale Gesinnung als das religiöse Gewissen betraf. Geiger äußerte sich dahin, dass die jüdische Religion der Krücke des Hebräischen keineswegs bedürfe und dass ihm der Versuch, den Glauben von der Sprache abhängig zu machen, geradezu als eine Blasphemie erscheine. Wenn die hebräische Sprache, meinte er, „als wesentliches Moment des Judentums aufgestellt würde, würde dieses als eine nationale Religion dargestellt werden, da eine besondere Sprache ein charakteristisches Moment eines gesonderten Volkslebens ist; die notwendige Verknüpfung des Judentums mit einer gesonderten Nationalität wird aber sicherlich von keinem der Mitglieder dieser Versammlung behauptet“. Hinzu käme noch, dass das Beten in der deutschen ,,Muttersprache“ selbst bei den des Hebräischen Kundigen eine andachtsvollere Stimmung erzeuge als das Nachsprechen der Gebete im Originaltext. Geiger und seinen Gesinnungsgenossen trat Frankel entgegen. Aus dem Bestreben heraus, die Reformfrage in ihrer Gesamtheit auf ,, positiv-historischem“ Boden zu behandeln, leitete er auch die Heiligkeit der hebräischen Sprache aus der religionsgeschichtlichen Tatsache ab, dass sie die Sprache der Bibel sei. Den Hinweis darauf, dass er Gefahr laufe, als Freund der „nationalen Absonderung“ zu gelten, ein Vorwurf, aus dem die Sorge um die bürgerliche Emanzipation herauszuhören war, tat Frankel mit der Erklärung ab, dass die politische Angelegenheit der Emanzipation und die Angelegenheit des Gewissens, die religiöse Reform, streng auseinanderzuhalten seien. Um der Emanzipation willen, führte er weiter aus, dürfe kein einziges Element der Religion preisgegeben werden, und soweit die Nationalität ein solches Element darstelle, erheische auch sie rückhaltlose Anerkennung. In bezug auf die hebräische Sprache stehe es aber von vornherein fest, dass sie ein Grundelement der Religion sei: sei sie doch die Sprache unserer Offenbarung, unserer Heiligen Schrift und unseres sonstigen religiösen Schrifttums,; als solche gebe sie dem Gebet die Weihe und beschwinge die religiösen Gefühle der Andächtigen. Gewiss sei es erlaubt, einen Teil der Gebete deutsch vorzutragen, doch müsse im Gottesdienst die hebräische Sprache die unbedingt vorherrschende bleiben.

Indessen fand die Ansicht Frankels nur bei der Minderheit der Versammlung Anklang, unter anderem auch bei Jost, der gleichfalls der Meinung war, dass die religiöse Bedeutsamkeit der hebräischen Sprache nicht bestritten werden könne; ihre Beibehaltung habe jedoch, wie er betonte, mit nationaler Absonderung nichts zu tun, da die nationale Sonderexistenz eine lebende Sprache voraussetze. Die Mehrheit der Redner stimmte hingegen der Meinung Geigers zu. Der Dialektiker Holdheim wusste Argumente sowohl für wie wider die hebräische Sprache vorzubringen, gelangte aber schließlich zu dem Ergebnis, dass die deutsche Andacht für die Läuterung der Religion unentbehrlich sei. Nach heftigen, sich über drei Tage hinziehenden Debatten schritt man endlich zur Abstimmung. Mit einer Mehrheit von 18 Stimmen gegen 12 beschloss die Versammlung, dass die hebräische Sprache im Gottesdienst weder von Gesetzes wegen als obligatorisch zu betrachten noch auch im Interesse der Festigung des Judentums zu empfehlen sei. An der Abstimmung über diese Resolution hatte sich Frankel nicht mehr beteiligt. Sobald er sich im Verlaufe der Debatten über die Sinnesart der Mehrheit klar geworden war, beeilte er sich, auf die Teilnahme an der Konferenz zu verzichten. In einem an ihren Präsidenten gerichteten und ihren Mitgliedern zur Kenntnis gebrachten Schreiben begründete Frankel sein Ausscheiden damit, dass es ihm widerstrebe, einer Versammlung anzugehören, deren Mehrheit im Begriffe sei, auf eines der wichtigsten positiv-historischen Elemente des Judentums Verzicht zu leisten.

Der demonstrative Schritt des selbst von seinen Gegnern hochgeachteten Frankel machte auf die Versammlung einen deprimierenden Eindruck. Die Debatten wollten fortan nicht mehr in Schwung kommen. Zur Frage des messianischen Dogmas brachte der Ausschuss der Versammlung die folgende Formel in Vorschlag: „Es soll der Messiasbegriff fernerhin im Gebete hohe Berücksichtigung finden, jedoch mit Ausschließung aller politisch-nationalen Vorstellungen“. Den meisten Rednern (Einhorn, Holdheim, Stein, Herzfeld u. a.) schien jedoch diese Formulierung nicht unzweideutig genug zu sein ; sie wollten einerseits die Hoffnung auf die Wiedergeburt eines jüdischen Palästina wie alle politischen Aspirationen überhaupt ausdrücklich verleugnet wissen, andererseits das messianische Dogma in den abstrakten Begriff einer Weltmission des Judentums als des Trägers des reinen Monotheismus verwandelt sehen. Die von der Versammlung angenommene Resolution lautete denn auch wie folgt: ,,Die Messiasidee verdient in den Gebeten hohe Berücksichtigung, jedoch sollen die Bitten um unsere Zurückführung in das Land unserer Väter und Herstellung eines jüdischen Staates aus unseren Gebeten ausgeschieden werden“. In einer Reihe weiterer Sitzungen beschäftigte man sich mit nebensächlicheren, auf die Liturgie bezüglichen Fragen; als dann die Reihe an die wichtige Frage der Sabbatheiligung kam, glaubte die Versammlung für eine Beschlussfassung hierüber noch nicht genug vorbereitet zu sein und vertagte die Entscheidung bis zur nächsten Versammlung.

Die dritte Rabbinerversammlung wurde ein Jahr später (vom 13. bis 20. Juli 1846) in Breslau abgehalten. Die Kampfstimmung war inzwischen verflogen. Der von Geiger eingehend begründete Vorschlag, die Sabbatgesetze dahin abzuändern, dass die dem Lebensinteresse des Einzelnen oder dem Interesse der Öffentlichkeit dienende Arbeitsverrichtung als zulässig gelten sollte, zog langwierige Debatten nach sich; man war bemüht, die angeregte Reform aus talmudischen Grundsätzen abzuleiten, wie man sich denn überhaupt bei der Erörterung der die Sabbatinstitution betreffenden Vorschriften größter Zurückhaltung befleißigte. So kam es, dass die Versammlung zu keiner prinzipiellen Entscheidung zu gelangen vermochte und sich in der von ihr angenommenen Resolution lediglich für partielle Konzessionen an die Zeitverhältnisse aussprach. Mehr Entschlusskraft zeigte die Versammlung in der Frage der für die Diaspora eingeführten ,,zweiten“ Feiertage, indem sie sich für ihre Abschaffung aussprach. Die übrigen von der Breslauer Versammlung offen gelassenen Fragen sollten auf der vierten, in Mannheim anberaumten Tagung entschieden werden, zu der es indessen nicht mehr kommen sollte.

Während sich so die reformfreudigen Theologen in uferlose theoretische Auseinandersetzungen verloren, schritten die ihnen nachdrängenden Laien zur Tat. In der Hauptstadt Preußens, wo ein Vierteljahrhundert früher die sich schüchtern vorwagende Kultusreform ein gewaltsames Ende gefunden hatte, war erneut eine gleichgerichtete Bewegung zu bemerken. Im Gegensatz zu seinem Vater zählte es nämlich der neue König Friedrich Wilhelm IV. keineswegs zu seinen Regierungspflichten, darüber zu wachen, dass sich die Juden in den Synagogen unbedingt an die altüberkommenen Gebettexte und Melodien hielten, und so erhoben die Reformfreunde zu Beginn der vierziger Jahre von neuem ihr Haupt. Das Berliner Rabbinerkollegium hatte mit dieser Bewegung nichts zu tun. Der einzige Mann von weltlicher Bildung, der ihm als Mitglied angehörte, der hervorragende, 1844 aus Prag nach Berlin übergesiedelte Prediger Michael Sachs, neigte zur Neo-Orthodoxie; für die dem Judentum entsprossene Poesie begeistert, die er in wohlklingendem Deutsch meisterlich wiederzugeben verstand („Die religiöse Poesie der Juden in Spanien“, 1845 u. a. m.), verurteilte er aufs schärfste die Rationalisten, die drauf und dran waren, den von ihm verherrlichten altertümlichen Bau durch Renovierung zu verunstalten. Da nun die reformfreudigen Berliner Laien auf eine Unterstützung des Rabbinats nicht bauen konnten, entschlossen sie sich, auf eigene Faust zu handeln. Ende 1844 hielt einer von ihnen, S. Stern, eine Reihe von Vorträgen über die Aufgaben des modernen Judentums, in denen er die These verfocht, dass die Religion den Anforderungen des Lebens Rechnung tragen müsse, und dem modernisierten Judentum eine glänzende Zukunft prophezeite. Die Vorlesungen machten auf die höheren Kreise der Berliner Judenheit nachhaltigen Eindruck, und schon im Frühjahr 1845 wurde eine „Genossenschaft für Reform im Judentum“ gegründet.

Die Führer der „Reformgenossenschaft“, Stern, Bernstein*) und Simion, ließen einen Aufruf an die ,,deutschen Glaubensbrüder“ ergehen, aus dem der Notschrei der innerlich zerrissenen ,,jüdisch-deutschen“ Seele uns deutlich entgegenhallt. „Unsere innere Religion — so hieß es in dem Aufruf — der Glaube unseres Herzens, ist nicht mehr im Einklang mit der äußeren Gestaltung des Judentums. Wir halten fest an dem Geist der Heiligen Schrift, die wir als ein Zeugnis der göttlichen Offenbarung anerkennen, von welcher der Geist unserer Väter erleuchtet wurde. Wir halten fest an der Überzeugung, dass die Gotteslehre des Judentums die ewig wahre sei, und an der Verheißung, dass diese Gotteslehre dereinst zum Eigentum der ganzen Menschheit werden wird. Aber wir wollen die Heilige Schrift auffassen nach ihrem göttlichen Geiste. Wir können nicht länger unsere göttliche Freiheit der Zwingherrschaft des toten Buchstabens opfern. Wir können nicht mehr beten mit wahrhaftem Munde um ein irdisches Messiasreich, das uns aus dem Vaterlande, dem wir mit allen Banden der Liebe anhängen, wie aus einer Fremde heimführen soll in unserer Urväter Heimatland. Wir können nicht mehr Gebote beobachten, die keinen geistigen Halt in uns haben, und nicht einen Kodex als unveränderliches Gesetzbuch anerkennen, der das Wesen und die Aufgabe des Judentums bestehen lässt in unnachsichtigem Festhalten an Formen und Vorschriften, die einer längst vergangenen und für immer entschwundenen Zeit ihren Ursprung verdanken. — Durchdrungen von dem heiligen Inhalt unserer Religion, können wir sie in der angeerbten Form nicht erhalten, geschweige auf unsere Nachkommen vererben. Und so zwischen die Gräber unserer Väter und die Wiegen unserer Kinder gestellt, durchzittert uns der Posaunenruf der Zeit, als die Letzten eines großen Erbes in der veralteten Form auch die Ersten zu sein, welche mit unerschütterlichem Mut, mit inniger Verbrüderung durch Wort und Tat, den Grundstein des neuen Baues legen, für uns und die Geschlechter, die nach uns kommen“. Dieser Aufruf klingt wie eine tief empfundene Grabrede auf das alte Judentum, das durch die Fülle seiner übereinander gelagerten historischen Schichten für die Vertreter der neuen Generation in der Tat untragbar geworden war; indessen vermengten hierbei die Protestler geflissentlich dasjenige, woran sie als Freidenker nicht mehr glauben konnten, mit dem, was sie nach ihrem Abfall von der jüdischen nationalen Idee, die ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung im Wege zu stehen schien, nicht mehr anerkennen wollten . . .

*) Aaron Bernstein, der sich in seinen Schriften zur Reformfrage des Pseudonyms Rebenstein bediente, hat sich als Popularisator der Naturwissenschaften und als Verfasser von Novellen aus dem alljüdischen Leben („Vögele Maggid“, „Mendel Gibbor“) einen Namen gemacht. Nach der Märzrevolution von 1816 trat er auch als politischer Schriftsteller hervor.

Als in Frankfurt die zweite Rabbinerversammlung zusammengetreten war, wurde ihr von der Berliner Reformgenossenschaft durch eine Delegation der Vorschlag übermittelt, mit vereinten Kräften dahin zu wirken, dass eine aus Personen geistlichen Standes und aus weltlichen Gemeindevertretern bestehende „Synode“ die Richtlinien für das gemeinsame Vorgehen aller Reformfreunde festlege. Die Rubbinerversammlung zögerte zwar nicht, den Berliner Reformern ihre Hilfe in Aussicht zu stellen, doch war dieses Versprechen angesichts der die Versammlungsmitglieder selbst trennenden Meinungsverschiedenheiten völlig wertlos. So kümmerten sich denn die Berliner Praktiker nicht weiter um die Frankfurter Theoretiker und steuerten, ohne erst den Zusammentritt der in Aussicht genommenen „Synode“ abzuwarten, auf das ihnen vorschwebende Ziel los. Sie fassten den Beschluss, die „Reformgenossenschaft“ in eine „Reformgemeinde“ umzubenennen und aus der alten Berliner Gemeinde auszutreten. Bald zählte die neue Gemeinde etwa zweitausend Mitglieder, und an den hohen Herbstfeiertagen des Jahres 1845 wurde zum ersten Mole der reformierte Gottesdienst in einer provisorisch eingerichteten Synagoge abgehalten. Die Laien benutzten die Gelegenheit, um mit einem Schlage alle Reformen durchzuführen, über die sich die Theologen noch immer nicht einig werden konnten. Die Gebete wurden in deutscher Sprache vorgetragen, mit der alleinigen Ausnahme des biblischen „Schema Israel“; auch die im Originaltext vorgelesenen Thoratexte wurden ins Deutsche übertragen. Man betete, der „westlichen Sitte“ gemäß, mit entblößtem Haupte; die Gebete wurden von dem Kantor unter Begleitung eines gemischten Chores und unter Orgelklängen vorgetragen. Alle Gebete um die Rückkehr nach Jerusalem wurden aus dem Gottesdienst verbannt; die Trauerlieder über den Untergang des jüdischen Reiches und die Zerstreuung des jüdischen Volkes wurden durch Hymnen ersetzt, in denen der Dank für die den Bekennern des Judentums zuteil gewordene hohe Sendung zum Ausdruck kam; die messianischen Stellen wurden im Sinne der prophetischen Verheißung des Zusammenschlusses der Menschheit zu einer einzigen Familie umredigiert. Neben der am Sabbat abgehaltenen Andacht wurde ein feierlicher Gottesdienst auch am Sonntag verrichtet, der für viele Mitglieder der neuen Gemeinde zum eigentlichen Ruhetag geworden war. Es bedeutete dies eine Neuerung, die selbst den gemäßigteren unter den Reformfreunden (so Jost) als „ein Schritt zum Christentum“ erschien.

Den Kernpunkt des reformierten Gottesdienstes bildete die deutsche Predigt. In der ersten Zeit wurde das Predigeramt in der Reformsynagoge von verschiedenen geistlichen und weltlichen, teils einheimischen, teils auswärtigen Rednern (von Geiger, Stern, Phillppson, Holdheim) versehen, bis es im Jahre 1847 endgültig dem radikal gesinnten Holdheim übertragen wurde, der daraufhin aus Mecklenburg nach Berlin übersiedelte. Wiewohl inhaltsreich, waren die Predigten Holdheims ihrer Form nach recht unbeholfen, da er, aus Polen gebürtig, die deutsche Sprache nur mangelhaft beherrschte. Der Prediger der alten Gemeinde, Michael Sachs, machte denn auch über die Redekunst seines reformfreudigen Rivalen die beißende Bemerkung, dass an dessen Predigten das einzig Jüdische ihre deutsche Sprache sei. In dem von den Vorkämpfern der Reform hergestellten Amalgam der beiden Kulturen war das jüdische Element in der Tat gänzlich von dem deutschen absorbiert. Die religiöse Reform in ihrer weltlichen Berliner Prägung entsprach nicht im geringsten dem ihr vorangegangenen Aufruf zu einem Ausgleich zwischen Judentum und neuer Zeit, Sie bedeutete vielmehr eine bedingungslose Kapitulation des Judentums vor den Bedürfnissen und Anforderungen des Augenblicks und ließ die Bereitwilligkeit erkennen, die Religion in den Dienst der Germanisierung und der bürgerlichen Emanzipation zu stellen. Die Männer, die „zwischen den Gräbern der Väter und den Wiegen der Kinder“ zu stehen wähnten, erwiesen sich wohl als tüchtige Totengräber, jedoch als Stümper in der Baukunst. Sie waren in nationalem Sinne moritiiri, und so war auch die von ihnen durchgeführte, der historischen Wurzeln ermangelnde Reform eine dem Tode geweihte Missgeburt.