§ 15. Die Außenseiter (Börne und Heine, Marx und Stahl)

Die Annäherung der jüdischen Kultur an die deutsche kam jener, ihre Verschmelzung dieser zugute. Wo die Assimilation bis zu ihrer äußersten Konsequenz getrieben wurde, ließ die Vermischung der beiden Kulturen nicht selten üppige Blüten hervorschießen, jedoch ausnahmslos im Bezirke der deutschen, nicht der jüdischen Literatur. Die Auflösung des jüdischen Geistes in dem europäischen wirkte Wunder. Hatte die kulturelle Amalgamation zu Beginn des XIX. Jahrhunderts Deutschland lediglich drei Königinnen literarischer Salons: Henriette Herz, Dorothea Mendelssohn und Rahel Levin, beschert, so brachte sie hier im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts drei Helden des literarischen Schaffens hervor: Börne, Heine und Marx, die durch ein verhängnisvolles Geschick dem Judentum gleichfalls entrissen werden sollten.

Ludwig Börne (1786 — 1887), der Apostel der politischen Freiheit, erlebte seine persönliche Krise in dem für ganz Europa kritischen Jahre 1815. Schon hatte er das dreißigste Lebensjahr erreicht. Hinter dem als Löb Baruch zur Welt gekommenen Börne lag die trübe Jugend in der düsteren Frankfurter Judengasse, der vorübergehende Aufenthalt in Berlin in dem zur Pflanzstätte neuzeitlicher „Judenchristen“ gewordenen Hause der Henriette Herz, sodann die auf verschiedenen deutschen Universitäten verbrachten Studienjahre und schließlich das große Erlebnis des den Juden die Freiheit verkündenden Napoleonischen Triumphzuges. Die von den Frankfurter Juden im Jahre 1811 „erkaufte Gleichberechtigung“ verhalf dem jungen Juristen zu dem Amte eines „Polizeiaktuars“ in seiner Heimatstadt, während die Befreiung Deutschlands von der Franzosenherrschaft ihm als Juden den Verlust dieses „Staatsamtes“ brachte. In den Jahren des Befreiungskrieges verfiel Börne gleich vielen anderen dem patriotischen Rausch, um jedoch bald wieder zur Besinnung zu kommen. Der Triumph der reaktionären Politik des „christlich-deutschen“ Staates und der gleichzeitig von Rühs und Konsorten entfesselte Sturm gegen die Juden ließ im Herzen Börnes die Flamme der Revolution auflodern. Als Sohn des zur Vertretung der jüdischen Interessen an den Wiener Kongress entsandten Jakob Baruch hatte er Gelegenheit, alle Peripetien des Kampfes des Frankfurter Senats gegen die Juden aus nächster Nähe zu verfolgen, und machte einmal sogar selbst den Versuch, in diesen Kampf einzugreifen*). Nach und nach gewann er die Überzeugung, dass es wirksamer sei, an die Völker statt an die Regierungen zu appellieren. So wurde er zum geistigen Führer einer Freiheitsarmee, die dazu berufen war, Deutschland vom Joch der ,,36 Tyrannen“ zu erlösen. Das scharf geschliffene Schwert seiner Kritik kannte kein Erbarmen mit den deutschen „Philistern“, doch stritt der kampfesfrohe Publizist nicht unter der Fahne des Judentums. Es war für ihn ein Axiom, dass die jüdische Frage nur ein Teilausschnitt des allgemeinen deutschen politischen Problems sei: „Um den Juden zu helfen — schrieb er — muss man ihre Sache mit dem Rechte und den Ansprüchen der allgemeinen Freiheit in Verbindung bringen“. Börne selbst fühlte sich schon langst dem deutschen Volke innerlich verbunden, und gar bald gab er dieser Verbindung auch die letzte formelle Weihe, indem er zur evangelischen Kirche übertrat (1818). Er verleugnete sein Judentum, um im Kampfe für die deutsche Freiheit als Volldeutscher auftreten zu können, doch schlugen seine Berechnungen fehl. Menschen und Ereignisse erinnerten den Fahnenflüchtigen immer wieder an das von ihm verlassene Lager.


*) Die von der Frankfurter Gemeinde 1816 dem Bundestag unterbreitete Denkschrift (oben, S 3) war unter Mitwirkung Börnes ausgearbeitet worden (s. Bibliographie zu § 3).

Schon ein Jahr nach seiner Taufe ergoss sich über Deutschland die Flut der Judenhetzen. Börne reagierte darauf mit dem für einen Börne nicht ganz angemessenen Aufsatz „Für die Juden“ (1819), der mit den Worten begann: ,,Für Recht und Freiheit, sollte ich sagen; aber verstünden das die Menschen, dann wäre keine Not und es bedürfte der Rede nicht“. Resigniert klingt die Stimme des Kämpfers, wenn er sich etwa folgendermaßen vernehmen lässt: ,,Worin das böse Verhängnis der Juden besteht, ist schwer zu sagen. Es scheint aus einem dunklen, unerklärlichen Grauen zu entspringen, welches das Judentum einflößt, das wie ein Gespenst, wie der Geist einer erschlagenen Mutter, das Christentum von seiner Wiege an höhnend und drohend begleitete“. Dieser Geist der „erschlagenen Mutter“ scheint Börne selbst Schrecken eingeflößt zu haben, und er gab sich alle Mühe, das Gespenst zu verscheuchen. Durch Anspielungen seiner literarischen Gegner auf seine jüdische Herkunft gereizt, schrieb er voller Kleinmut (in dem Artikel ,,Eine Kleinigkeit“ 1820): „Woraus vermutet Herr Klein, dass ich selbst ein Jude sei? Weil ich die Juden verteidige? Und muss man ein Jude sein, um christliche Gesinnungen zu hegen?“ . . . Mehr als einmal nahm er so die Juden unter deutscher Maske in Schutz. In dem großen Aufsatz ,,Der ewige Jude“ (1821), in dem er das judenfeindliche Buch eines gewissen Holst besprach, zog Börne gegen den Verkünder des „metaphysischen Hep-hep!“ alle Register der ihm eigenen vernichtenden Ironie. Hierbei blieb den Deutschen der folgende bittere Vorwurf nicht erspart: „Weil ihr selbst Sklaven seid, könnt ihr Sklaven nicht entbehren“; „Ihr macht ja so gern Klassen und jauchzet, nur eine Stufe höher zu stehen als ein Niedrigerer, solltet ihr auch hundert Stufen niedriger stehen als ein Höherer“. In der Folgezeit, als seine literarischen Feinde immer häufiger ihre Waffe gegen den „Juden Börne“ richteten, entschloss er sich, die von ihm getragene Maske abzulegen. „Ich wäre nicht wert, das Licht der Sonne zu genießen — ruft er in einem seiner Pariser Briefe (vom 7. Februar 1882) aus — , wenn ich die große Gnade, die mir Gott erzeigt, mich zugleich ein Deutscher und ein Jude werden zu lassen, mit schnödem Murren bezahlte — wegen eines Spottes, den ich immer verachtet, wegen Leiden, die ich längst verschmerzt . . . Ja, weil ich als Knecht geboren, darum liebe ich die Freiheit mehr als ihr. Ja, weil ich die Sklaverei gelernt, darum verstehe ich die Freiheit besser als ihr. Ja, weil ich in keinem Valerlande geboren, darum wünsche ich ein Vaterland heißer als ihr, und weil mein Geburtsort nicht größer war als die Judengasse und hinter dem verschlossenen Tore das Ausland für mich begann, genügt mir auch die Stadt nicht mehr zum Vaterlande, nicht mehr ein Landgebiet, nicht mehr eine Provinz, nur das ganze große Vaterland genügt mir, so weil seine Sprache reicht“. In seinen flammenden „Briefen aus Paris“, in der leidenschaftlichen Philippika „Menzel, der Franzosenfresser“ schlug Börne wiederholt solche ,, jüdischen“ Töne an, doch reagierte er in der letzten, glänzendsten Periode seiner publizistischen Tätigkeit nie auf das Leid der jüdischen Gemeinschaft. Er ging ganz im politischen Kampf fürs „Vaterland“ auf, nach dem er sich in seinem Pariser Exil unaufhörlich sehnte. Gegen Ende seines Lebens geriet er in den Bann des revolutionären Katholizismus des Abbé Lamennais, des Verfassers der „Worte eines Gläubigen“ (,,Paroles d'un croyant“). Der Schatten der „erschlagenen Mutter“, des verlassenen Volkes, war aus dem Gesichtskreis des Propheten der deutschen Freiheit ganz verschwunden.

Mit umso größerer Zähigkeit sollte dieser Schatten einen anderen Außenseiter auf seinen Irrfahrten begleiten: den großen deutschen Dichter Heinrich Heine (1797— 1856). Seine Kinderjahre in Düsseldorf waren durch keine Ghettoeindrücke getrübt, wie die Börnes. Schon in seiner frühen Jugend konnte Heine die frische Luft der Freiheit atmen, die zusammen mit den Franzosen in die Rheinlande, den Herrschaftsbereich der Napoleonischen Eintagsemanzipation, eingezogen war. Auch dem Zauber der Assimilation verfiel Heine in zarterem Alter als Börne: zunächst Zögling des von katholischen Priestern geleiteten Düsseldorfer Gymnasiums, sollte er hernach, auf der Universität, „die Schweine bei Hegel hüten“. An der Grenzscheide zwischen Schule und Leben kam Heine durch seine Freunde, namentlich durch Gans, mit dem von diesem geführten „Kulturverein“ in Berührung und schloss sich ihm bald als Mitglied an. Was dem Dichter an den Bestrebungen des Vereins verlockend erschien, war die vage Idee der „Versöhnung des Judentums mit der europäischen Kultur“, wohingegen ihm die zur Erreichung dieses Zieles vorgezeichneten Wege kaum zusagen konnten. Der geistvolle Skeptiker, der um jene Zeit für alle positiven Religionen nichts als Spott übrig hatte, ahnte die innere Unzulänglichkeit der von den „Praktikern“ aus der Schule Friedländers in die Wege geleiteten religiösen Reform. Eine Reformsynagoge etwa von der Art des Hamburger Tempels (während des „Tempelstreites“ in den Jahren 1817— 1821 weilte Heine des öfteren in Hamburg, dem Wohnsitz seiner Angehörigen) erschien ihm als belanglose Dekoration. Fand er doch, dass der Jude alten Schlages viel reicher an seelischem Gehalt sei als der durchschnittliche jüdische Neuerer. Über die altmodischen polnischen Juden, die er während seines Aufenthalts in der Provinz Posen (1822) kennengelernt hatte, äußerte sich Heine folgendermaßen: „Trotz der barbarischen Pelzmütze, die seinen Kopf bedeckt, und der noch barbarischeren Ideen, die denselben füllen, schätze ich den polnischen Juden weit höher als so manchen deutschen Juden, der seinen Bolivar auf dem Kopfe und seinen Jean Paul im Kopfe trägt“. Über die rationalistischen Reformer der Jacobson-Friedländerschen Schule schrieb er (1828): ,,Einige Hühneraugenoperateurs haben den Körper des Judentums von seinem fatalen Hautgeschwür durch Aderlass zu heilen gesucht, und durch ihre Ungeschicklichkeit und spinnwebige Vernunftsbandagen muss Israel verbluten . . . Wir haben nicht mehr die Kraft, einen Bart zu tragen, zu fasten, zu hassen und aus Hass zu dulden. Das ist das Motiv zu unserer Reformation. Die einen, die durch Komödianten ihre Bildung und Aufklärung empfangen, wollen dem Judentum neue Dekorationen und Kulissen geben. Andere wollen ein evangelisches Christentümchen unter jüdischer Firma . . . Zu allem Glücke wird sich dieses Haus nicht lange halten, seine Tratten auf die Philosophie kommen mit Protest zurück, und es macht Bankerott“. Der Dichter Heine hatte um jene Zeit nur für die Romantik der jüdischen Geschichte Sinn: für die mittelalterlichen Märtyrerleiden, für die ergreifende Ahasverus-Sage, für das eigentümliche Titanentum des jüdischen Geistes. In dieser Stimmung verfasste er die historische Novelle „Der Rabbi von Bacharach“, und der Schmerz der Jahrhunderte tönt uns aus dem diesem Buch vorangeschickten Gedicht entgegen (1824):

„Brich aus in laute Klagen, du düsteres Märtyrlied,
Das ich so lang getragen im flammenstillen Gemüt.
Es dringt in alle Ohren, und durch die Ohren ins Herz,
Ich habe gewaltig beschworen den tausendjährigen Schmerz.
Es weinen die Großen und Kleinen, sogar die kalten Herrn,
Die Frauen und Blumen weinen, es weinen am Himmel die Stern!
Und alle die Tränen fließen nach Süden im stillen Verein,
Sie fließen und ergießen sich all in den Jordan hinein.“


Mit dieser nationalen Sehnsucht rang indessen in der Seele Heines eine andere Stimmung, der Geist des aller mittelalterlichen Romantik abholden philosophischen Rationalismus: „Dass ich für die Rechte der Juden und ihre bürgerliche Gleichstellung enthusiastisch sein werde — schrieb er an seinen Freund Moser — , das gestehe ich, und in schlimmen Zeiten, die unausbleiblich sind, wird der germanische Pöbel meine Stimme hören, dass es in deutschen Bierstuben und Palästen widerschallt. Doch der geborene Feind aller positiven Religionen wird nie für diejenige Religion sich zum Champion aufwerfen, die zuerst jene Menschenmäkelei aufgebracht, die uns jetzt soviel Schmerzen verursacht“. In diesen Worten treten bereits die ersten Anzeichen jenes „Hellenismus“ zutage, den Heine in der Folgezeit so schroff dem Judaismus entgegenzustellen pflegte . . .

Der sich in der Seele Heines immer schärfer zuspitzende Gegensatz ließ vor ihm schließlich die Schicksalsfrage der Zeit erstehen, ob er am Judentum noch weiter festhalten oder es abschwören solle. Er stand vor der Beendigung seiner juristischen Studien in Göttingen und sah sich nunmehr in einer Sackgasse: das Gesetz versperrte ihm in gleicher Weise den Weg zu einem akademischen Lehramt wie den zum Rechtsanwaltsberuf oder zum Staatsdienst. Auch in seiner literarischen Laufbahn waren dem jungen Verfasser des „Almansor“ (1828) manche mit seinem Judentum verbundene Enttäuschungen beschieden. Den einzigen Ausweg aus seiner schwierigen Lage schien ihm das „Entreebillett zur europäischen Kultur“, die Taufe, zu bieten. Wenngleich mit Widerwillen, entschloss sich Heine zu dem verhängnisvollen Schritt und trat im Juni 1825 zum Protestantismus über. Im Bewusstsein, seinem Gewissen Zwang angetan zu haben, schrieb er aus Hamburg an Moser: „Es wäre mir sehr leid, wenn mein eigenes Getauftsein Dir in einem günstigen Lichte erscheinen könnte. Ich versichere Dich, wenn die Gesetze das Stehlen silberner Löffel erlaubt hätten, so würde ich mich nicht getauft haben . . . Vorigen Sonnabend war ich im Tempel und habe die Freude gehabt, eigenohrig anzuhören, wie Dr. Salomon gegen die getauften Juden loszog und besonders stichelte: ,wie sie von der bloßen Hoffnung, eine Stelle zu bekommen, sich verlocken lassen, dem Glauben ihrer Väter untreu zu werden'. Ich versichere Dich, die Predigt war gut und ich beabsichtige, den Mann dieser Tage zu besuchen“. Die praktischen Vorteile, die Heine von seinem Übertritt erhofft hatte, blieben indessen aus: er spähte vergeblich nach einem Amte aus und verfiel mittlerweile in materielle Not. Die den Abtrünnigen quälenden Gewissensbisse wurden aber andererseits gar bald durch den stürmischen Erfolg betäubt, der dem Dichter der „Reisebilder“ und namentlich des „Buches der Lieder“ zuteil wurde (1826—1827). In der unvergleichlichen, geistsprühenden Prosa Heines vernahm Deutschland den eindrucksvollen Widerhall der es bewegenden Tagesfragen und in den bezaubernden Klängen der lyrischen Gedichte das harmonische Zusammenklingen der Motive des ,,Hoheliedes“ und des „Koheleth“, der Stimme der triumphierenden Liebe und des aufbegehrenden Wellschmerzes. Nach der Julirevolution zog Heine nach Paris und wurde neben Börne zum Führer des „Jungen Deutschland“. Die Lorbeeren des Dichters verbinden sich seitdem mit den Lorbeeren eines eigenartigen Volkstribuns, eines Publizisten und literarischen Kritikers von unübertroffener Geistesschärfe („Deutschland. Ein Wintermärchen“, „Die romantische Schule“, „Über Ludwig Börne“ und andere Schriften aus den Jahren 1831 — 1840). In dieser Schaffensperiode gefiel sich Heine in der Rolle eines Fahnenträgers des lebensfrohen, dem sittenstrengen Judentum entgegengesetzten Hellenismus. Aus dieser Zeit eben stammt seine klassische Einteilung aller Menschen in „Hellenen“ und „Juden“, in asketisch veranlagte, aller Plastik abholde, allein dem Geistigen nachstrebende Menschen und in solche, deren heitere Lebensauffassung der sämtlichen Realität zugewandt ist. Sich selbst betrachtete er als einen Vertreter des hellenischen Typus, ohne zu merken, dass in seiner Seele, ungeachtet all seiner Bemühungen, sich innerlich zu hellenisieren oder zu germanisieren, immer wieder der bezwungene und doch unbezwingbare „Jude“ sein Haupt erhob.

Endgültig sollte der „Jude“ in Heine die Oberhand über den „Hellenen“ erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens gewinnen, in jener Periode, in der der kranke Dichter, an seine Pariser „Matratzengruft“ gefesselt, seine ganze Weltanschauung einer Revision unterzog. Die neue Erkenntnis, die Frucht martervollen Nachdenkens, zu der er sich schließlich durchgerungen hatte, kommt in den folgenden Sätzen seiner „Geständnisse“ zum Ausdruck: „Meine Vorliebe für Hellas hat abgenommen. Ich sehe jetzt, die Griechen waren nur schöne Jünglinge, die Juden aber waren immer Männer, gewaltige, unbeugsame Männer, nicht bloß ehemals, sondern bis auf den heutigen Tag, trotz achtzehn Jahrhunderten der Verfolgungen und des Elends. Ich habe sie seitdem besser würdigen gelernt, und wenn nicht jeder Geburtsstolz bei den Kämpen der Revolution und ihren demokratischen Prinzipien ein närrischer Widerspruch wäre, so könnte der Schreiber dieser Blätter stolz darauf sein, dass seine Ahnen dem edlen Hause Israel angehörten, dass er ein Abkömmling jener Märtyrer, die der Welt einen Gott und eine Moral gegeben und auf allen Schlachtfeldern des Gedankens gekämpft und gelitten haben. Die Geschichte des Mittelalters und selbst der modernen Zeit hat selten in ihre Tagesberichte die Namen solcher Ritter des heiligen Geistes eingezeichnet, denn sie fochten gewöhnlich mit verschlossenem Visier . . . Sie sind auch noch in der modernen Zeit ein wandelndes Geheimnis“. ,,Ich hatte Moses früher — bekennt Heine weiter — nicht sonderlich geliebt, wahrscheinlich weil der hellenische Geist in mir vorwaltend war, und ich dem Gesetzgeber der Juden seinen Hass gegen alle Bildlichkeit, gegen die Plastik nicht verzieh. Ich sah nicht, dass Moses trotz seiner Befeindung der Kunst dennoch selber ein großer Künstler war und den wahren Künstlergeist besaß. Nur war dieser Künstlergeist bei ihm, wie bei seinen ägyptischen Landsleuten auf das Kolossale und Unverwüstliche gerichtet. Aber nicht wie die Ägypter formierte er seine Kunstwerke aus Backsteinen und Granit, sondern er baute Menschenpyramiden, er meißelte Menschenobelisken; er nahm einen armen Hirtenstamm und schuf daraus ein Volk, das ebenfalls den Jahrhunderten trotzen sollte, ein großes, ewiges, heiliges Volk, ein Volk Gottes, das allen anderen Völkern als Muster, ja der ganzen Menschheit als Prototyp dienen konnte: er schuf Israel!“ . . . Und dann kommt die berühmte Apotheose Moses': „Welche Riesengestalt! Wie klein erscheint der Sinai, wenn der Moses darauf steht!“ . . . Dem vertieften, der Ewigkeit zugewandten Dichterblick offenbarten sich geschichtliche Perspektiven, die sich den jüdischen Denkern erst viel später, nach langer mühevoller Forschungsarbeit auftun sollten: war es doch Heine gegeben, intuitiv, wenn auch nur in verschwommenen Umrissen, die Weltidee des Prophetismus zu erfassen. In enthusiastischen Aussprüchen wie die eben angeführten kam der geschichtsphilosophische Weitblick Heines viel stärker zum Ausdruck als etwa in den jüdischen Dichtungen seines „Romanzero“ („Jehuda ben Halevy“ u. a.). Die unüberwindliche Sehnsucht des dem Tode geweihten Dichters nach dem von ihm verlassenen Volke tönt uns aus den kummervollen Worten entgegen: „Keine Messe wird man singen, keinen Kaddisch wird man sagen . . .“ In der Tatsache, dass das dem Dichter blutsverwandte Volk am Grabe seines großen verlorenen Sohnes nicht das väterliche „Kaddisch“-Gebet sprechen durfte, spiegelt sich noch mehr die nationale Tragödie des Judentums als die persönliche Tragödie Heines wider . . .

Auf die von Börne und Heine repräsentierte Generation folgte eine neue Generation von „Außenseitern“, die in dem Judentum bereits entfremdeten Familien zur Welt gekommen oder gar von ihren vorsorglichen Eltern schon in zartestem Alter der Taufe zugeführt worden waren. Die Vertreter dieser neuen Generation hatten für die Sehnsucht nach dem verlassenen Volke, die ihre an die patriarchalische jüdische Lebensordnung sich noch lebhaft erinnernden Vorgänger zuweilen so tief bewegte, keinerlei Verständnis mehr. Während nun die meisten der jüngeren Neudeutschen sich dem Judentum gegenüber völlig gleichgültig verhielten, war bei manchen von ihnen die Entfremdung sogar in Feindseligkeit übergegangen, die sie auf die eine oder andere Weise theoretisch zu begründen suchten. So bei dem jungen Karl Marx (1818— 1883), dessen Vater, ein Trierer Rechtsanwalt, sich um der Karriere willen mit seiner ganzen Familie hätte taufen lassen. Der künftige Theoretiker der sozialistischen Bewegung, der zu Beginn der vierziger Jahre zunächst als Mitarbeiter der radikalen, in Köln erscheinenden „Rheinischen Zeitung“ und sodann der Pariser „Deutsch-französischen Jahrbücher“ hervorgetreten war, unterließ es nicht, auch zu der im Zusammenhang mit den Emanzipationsentschließungen der rheinischen Landtage (oben, § 6) ganz Deutschland beschäftigenden jüdischen Frage Stellung zu nehmen. Den unmittelbaren Anlass hierzu gaben ihm die von dem Linkshegelianer und radikal gesinnten Theologen Bruno Bauer 1842 veröffentlichten Aufsätze, die ein Jahr später unter dem Titel „Die Judenfrage“ in Buchform erschienen. Der gegen die christliche Kirche kämpfende Verfasser suchte zugleich zu beweisen, dass die Juden im christlichen Staate keinerlei Ansprüche auf politische Emanzipation erheben könnten. Solange sie an Ihren religiösen „Vorurteilen“ festhielten, dürften sie, wie er meinte, nicht verlangen, dass die Christenheit ihrerseits die kirchlichen Vorurteile fallen lasse und mit dem Judentum, dem Todfeind der Staatsreligion, Frieden mache. Um die politische Emanzipation zu ermöglichen, müssten sich die Juden zuallererst von ihrer Religion emanzipieren; erst nach ihrer Verwandlung in freidenkende Allmenschen und nach der gleichzeitigen Befreiung des Staates von allen kirchlichen Fesseln würde für Staat und Judenschaft die Ära der gemeinsamen Emanzipation anbrechen. Die scheinbar tiefsinnigen, historisch betrachtet jedoch recht naiven und sophistischen Gedankengänge Bauers lösten eine ganze Flut von Broschüren und Aufsätzen aus, in denen ihm die jüdischen Publizisten: Philippson, Holdheim (in seiner Schrift „Autonomie der Rabbinen“), Riesser, Geiger, Salomon u. a. entgegentraten. In diese Polemik griff nun auch der damals noch wenig bekannte Karl Marx ein, der gleich Bauer auf dem linken Flügel des Hegelianismus stand. In seinen zwei als Entgegnung auf die beiden Aufsätze Bauers in den „Deutsch-französischen Jahrbüchern“ veröffentlichten Artikeln (1843 — 1844) bediente sich Marx derselben dialektischen Methode wie jener, verlegte aber hierbei den Schwerpunkt der Frage von der Ebene der Religion in die der Ökonomik. Seine Beweisführung beginnt mit dem durchaus einleuchtenden Argument, dass der Staat, um die Juden zu emanzipieren, nicht etwa auf die Religion überhaupt, sondern lediglich auf die Vorherrschaft des Christentums, auf das Prinzip der „Staatsreligion“ verzichten müsse, was durch die Trennung von Staat und Kirche erreicht werden könne; dann lässt sich aber Marx seinerseits zu dialektischer Spiegelfechterei hinreißen. „Betrachten wir — schreibt er — den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbat Juden, wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjuden. Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum, wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht . . . Der Jude hat sich bereits auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind . . . Der Gott der Juden ist zum Weltgott geworden; der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden . . . Die chimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns, überhaupt des Geldmenschen . . . Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“.

So zögerte Marx nicht, den ganzen kulturgeschichtlichen Gehalt des Judentums dem Getriebe des Alltags, den wirtschaftlichen Lebensformen eines Teiles der westlichen Judenheit, einer Handvoll von Bankiers und Großkaufleuten gleichzusetzen. Als er das Zerrbild des jüdischen Volkes entwarf, schwebte ihm nicht die Gestalt des ihm gänzlich fremden historischen Israel, sondern die der Rothschilds vor. Gleich dem biblischen Jerobeam scheute er sich nicht, das goldene Kalb als den Gott Israels hinzustellen. Lieblos wagte sich ein im Alltag verstrickter Mensch an das historische Heiligtum heran, vor dem sich der abgeklärte Geist Heines ehrfurchtsvoll gebeugt hatte, um dem ewigen Volke in unlauterer Weise die Gesinnung eines Börsenspekulanten anzudichten. Von den Urquellen der jüdischen Kultur weit abgeirrt, ahnte der nachmalige Schöpfer der Sozialdemokratie nicht, dass er selbst ein Nutznießer des großen geistigen Erbes des alten Judentums war und mit neuen Schlagworten die sozialen Ideale der Propheten Israels predigte. Die völlige Unkenntnis des vielverschlungenen Verlaufes der jüdischen Geschichte, die für das Renegatentum bezeichnende Abneigung gegen das verlassene Lager und die sophistische Art der Beweisführung — all dies drückt der Abhandlung des jungen Marx den Stempel böswilliger Verleumdung auf. In der Folgezeit machte sich zwar der Verfasser des ,,Kapitals“ sowohl von der missbräuchlichen Anwendung der Dialektik als auch von seinem metaphysischen Judenhass frei, an dessen Stelle völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Los der Judenheit trat, doch kam er nie auf den Gedanken, seine Jugendsünde öffentlich abzuschwören. Dem Urheber des „historischen Materialismus“ fehlte eben die Kraft, sich zum Verständnis des Geistes einer Nation durchzuringen, deren ganze Geschichte eine schlagende Widerlegung dieser engherzigen Doktrin darstellt. Ein Denker, der es fertig gebracht hat, die ihrem Wesen nach ethische Lehre des Sozialismus so umzubiegen, dass ihr, wie Marx selbst stolz betonte, der letzte „Gran Ethik“ genommen ward, musste den lebendigen Träger der ethischen Weltanschauung in der universalen Geschichte notgedrungen verkennen. Dem an den Schattenseiten der geschilderten Epoche nicht achtlos vorübergehenden Geschichtsschreiber drängt sich unwillkürlich das traurige Bild eines jungen Adlers auf, der, im Begriffe, die Flügel zu entfalten, um sich über sein Zeitalter emporzuschwingen, seine scharfen Krallen der Mutter ins Fleisch bohrt. Wie tragisch auch das Schicksal des Volkes war, das sich von seinen begabtesten Söhnen schmählich verlassen sah, immerhin blieb ihm der Trost, dass die ihm entsprossenen Apostaten zu Aposteln der allmenschlichen Freiheit wurden und, zuweilen ohne es selbst zu wissen, für die Verwirklichung der sozialen Gebote kämpften, die einst auf den Hügeln Judäas verkündet worden waren. Indessen kam es, obschon nur ausnahmsweise, vor, dass jüdische Apostaten auch im Lager der schwärzesten Reaktion auftauchten. Unter ihnen ist vor allem der politische Antipode Marxens, der Philosoph der konservativen Partei Preußens, Friedrich Julius Stahl (1802 — 1861) zu nennen. Sohn eines bayerischen Juden, schloss er sich schon als Abiturient der evangelischen Kirche an, um in der Folgezeit als Staatsrechtslehrer an der Berliner Universität seine konservativ-klerikalen Ansichten zu predigen (eine systematische Darstellung fanden sie in seiner zweibändigen, glänzend geschriebenen „Philosophie des Rechtes“, 1830— 1837). In der Schrift „Der christliche Staat und sein Verhältnis zum Deismus und Judentum“ (1847) ließ es sich Stahl angelegen sein, für die Theorie seines königlichen Gönners Friedrich Wilhelm IV. den „wissenschaftlichen“ Unterbau zu liefern: den Juden, meinte er, könne in einem christlichen Staate die Gleichberechtigung schon aus dem Grunde nicht zuerkannt werden, weil sie die Göttlichkeit der christlichen Offenbarung, dieses Eckpfeilers der gesamten Staatsordnung, in Abrede stellen; aus dem gleichen Grunde müsse ferner das Vollbürgerrecht auch den Anhängern des philosophischen Deismus wie der außerhalb der Kirche stehenden Sekten überhaupt vorenthalten bleiben . . .

So saßen drei Instanzen gleichzeitig über das Judentum zu Gericht: der Feind der Kirche Bauer, ihr Vorkämpfer Stahl und der Sozialist Marx, Alle drei brachen den Stab darüber. Das jüdische Volk nahm den Urteilsspruch entgegen und ging unbeirrt seinen historischen Weg weiter.