§ 12. Die Ideologen der Reformation (Geiger, Holdheim); die Reformbewegung in den Hauptgemeinden (1835 bis 1844)

Die Generation des Friedländer und Jacobson trat von der Bühne ab und machte einer neuen Platz, genauer jenem Teil der neuen Generation, der von der Seuche der Zeit, der extremen Assimilation, noch verschont geblieben war. Von den Säften zweier Kulturen, der jüdischen und der deutschen, genährt, konnte die neue Gebildetenschicht unmöglich weiter in den Fußstapfen der engherzigen Praktiker aus der Friedländer-Jacobsonschen Schule wandeln. Das freier entfaltete Denken sah sich nach neuen Wegen um. Von dem Bedürfnis geleitet, das jüdische Leben zu reformieren, vermochten sich die Männer der neuen Zeit mit einem bloßen Dekorationswechsel in der Synagoge und mit deren mechanischer Anpassung an die Kirche nicht zufriedenzugeben. Ihr Streben ging dahin, das geistige Leben der Judenheit von innen heraus sinnvoll zu gestalten, es in Einklang mit der Weltanschauung der Zeit zu bringen und es in jenen mächtigen alleuropäischen Ideenstrom münden zu lassen, dessen Bett von den damals die Geister souverän beherrschenden Denkern Fichte, Schelling und Hegel gegraben worden war. Es galt, den Judaismus auf eine neue theoretische Basis zu stellen, ihn vermittels der geschichtlichen Kritik zu läutern und so den Unterbau für eine Reform zu schaffen, die nicht nur das religiöse Zeremoniell, sondern auch die Dogmen des Glaubens selbst umfassen sollte. So kam jene Ideologie der Reformation auf, deren hervorragendste Vertreter Geiger und Holdheim waren.

Abraham Geiger (1810 — 1874), dessen Geburtsstadt Frankfurt am Main war, tat bereits in jungen Jahren den Schritt von der jüdischen Wissenschaft zur europäischen, vom Talmudstudium zu dem der Theologie, Philosophie und der orientalischen Sprachen an den Universitäten von Heidelberg und Bonn. Schon als Siebzehnjähriger, ehe er auf die Universität kam, arbeitete er an einem kritischen Kommentar zur Mischna, um sodann noch als Student mit der vielbeachteten Monographie: „Was hat Mohammed aus dem Judentume aufgenommen?“ (1833) hervorzutreten. Direkt von der Universität weg wurde Geiger auf den Rabbinerposten in Wiesbaden berufen. Die Aufgabe, die er nunmehr vor sich sah, war nicht leicht: er setzte sich zum Ziele, die Verkörperung eines neuen, den Judaismus mit der europäischen Aufklärung harmonisch verbindenden Rabbinertypus zu werden. Rationalistisch veranlagt, glaubte Geiger eine Wiedergeburt des Judentums allein mit den Mitteln der freien Kritik herbeiführen zu können. Den Weg zu der ihm vorschwebenden religiösen Reform sollte die von ihm begründete „Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie“ bahnen (die ersten Hefte erschienen in Frankfurt a. M. im Jahre 1835). Die neue Zeitschrift hatte noch nie Gehörtes zu verkünden: sie forderte dazu auf, an Stelle der Tradition die wissenschaftliche Forschung zum Fundament des Judentums zu machen, um durch das tiefere Eindringen in die geschichtliche Entwicklung der jüdischen Religion, in den Prozess der Ablagerung ihrer verschiedenen Schichten zu der Einsicht zu gelangen, dass jede noch so alte Tradition sich einstmals selbst als Neuerung habe durchsetzen müssen. „Es gab eine Zeit in Israel — so schrieb Geiger — in welcher Einträchtigkeit und Gleichgesinntheit in religiösen Ansichten alle Glieder der Gemeinde durchdrangen . . . Man ererbte den Glauben; da bedurfte es für den Einzelnen keines besonders kräftigen Willens, um an den Glauben sich zu halten; die Glaubensgemeinde insgesamt hatte auch den Gesamtwillen; der geistige Führer zeichnete sich nur durch größere Erkenntnis der Gesetze aus . . . Diese Zeit ist vergangen. Die Willenskraft der Gesamtheit ist gebrochen; der Willen des Einzelnen muss sich stählen . . . Die Überzeugungen sind häufig im Widerspruche mit dem Bestehenden . . . Es ist nicht zu leugnen, dass jetzt einer der schwersten Standpunkte der des jüdischen Geistlichen ist. Er sieht zwei ganz unheilvolle Extreme vor sich, die einen verknöchert, die anderen von jedem Glaubensbande losgerissen; das sind diejenigen, welche betäubt worden sind von dem Donner der Zeit. In der Mitte stehen Leute, die eine Wunde und eine Sehnsucht im Herzen fühlen . . ., die vom Alten losgetrennt sind und ein Neugestaltetes vermissen. . . . Herz und Kopf ist in beständigem Widerspruch, und sie harren lange der Lösung. Was hat man nun vom Geistlichen zu verlangen? . . . Dass er den Erstaunten zeige, dass sie erstarrt seien und sich gewaltsam emporreißen müssen aus diesem Tode des Geistes und des Herzens; dass er die Versunkenen und Glaubenslosen erschüttere und in ihnen errege das Sehnen und das Streben nach einem belebenden Glauben, dass sie nicht zaghaft sich scheuen, sich von Gewohnheiten loszusagen und sich nicht begnügen mit Übertragung ihres warmen Gefühles auf leere Förmlichkeiten, sondern dass sie die Wunde nur dann heilen, wenn sie die wunde Stelle völlig vertreiben und es so möglich machen, dass gesundes Fleisch entstehe“. Diese Rolle eines Wundarztes des Judentums war es nun, zu der sich der fünfundzwanzigjährige Geiger berufen fühlte; mit den Hilfsmitteln der neuen jüdischen Wissenschaft ausgestattet, rüstete er sich zu dem entscheidenden operativen Eingriff. In diesem Augenblick wurde ihm jedoch zugerufen, dass seine Diagnose falsch sei.


Diesen Ruf ließ der ehemalige Universitätskollege Geigers, der Oldenburger Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808 — 1888), laut werden, dem es in der Folgezeit beschieden war, zur Hauptstütze der Neo-Orthodoxie in Deutschland zu werden. In seinen „Neunzehn Briefen über Judentum“, die er unter dem Pseudonym Ben Usiel erscheinen ließ (1836; der deutsche Text ist auch mit dem hebräischen Titel „Iggeroth Zafon“ überschrieben), suchte Hirsch das Fundament der Tradition, von dem Geiger die Judenheit abzubringen gedachte, neu zu befestigen. Der Verfasser teilte die damals allgemein als Axiom geltende Ansicht, dass die Juden keine Nation, sondern lediglich eine Religionsgemeinschaft bilden, schränkte indessen die Gültigkeit dieser Definition auf die Zeit vor Ankunft des Messias ein, bis zu dessen Erscheinen sich die Juden als Angehörige eines Bundes von Gläubigen zu betrachten hätten, die zur Erfüllung aller Thoragebote in ihrer ganzen geschichtlichen Verästelung, d. h. zur Befolgung der gesamten schriftlichen und mündlichen Lehre verpflichtet seien. Die Lehren des Judentums, meinte Hirsch, seien von Zeit und Ort völlig unabhängig und stellten einen unvergänglichen Wert dar: „Die Thora ist Faktum wie Himmel und Erde“. Die Reform des Judentums könne nur das eine anstreben: die Befolgung aller seiner Gebote und Gebräuche durch das Hervorheben ihres inneren praktischen oder symbolischen Sinnes zu vergeistigen, denn es gebe keinen einzigen Brauch, dem nicht irgendein praktisches Ziel oder eine symbolische Bedeutung innewohne. Diese unverbrüchliche Treue der Juden der sie geistig zusammenhaltenden Thora gegenüber hindere sie aber nicht im geringsten daran, verschiedenen national-politischen Verbänden anzugehören, etwa in Deutschland Deutsche, in Frankreich Franzosen usw. zu sein. Seine ganze Lehre fasste Hirsch in dem folgenden, echt konservativen Geist verratenden Ausspruch zusammen: „Die Reform, deren das Judentum bedarf, ist eine Erziehung der Zeit zur Thora, nicht eine Nivellierung der Thora nach der Zeit“. Den Versuch, das Leben zur Thora zu erziehen, unternahm Hirsch in dem großangelegten Werke „Choreb: Versuche über Israels Pflichten in der Zerstreuung“ (Altona 1837). Das Werk stellt ein System der Dogmatik, Ethik und der rituellen Symbolik des biblisch-talmudischen Judentums dar, das in all seinen Einzelheiten dem Verfasser nicht als Ergebnis der geschichtlichen Evolution, sondern als Niederschlag göttlicher Offenbarung gilt. Die Gesetze der Offenbarung seien aber ebenso unerschütterlich wie die Naturgesetze: es sei unsinnig, sie abändern zu wollen ; man könne sie nur erforschen und ihre sinnvolle Zweckmäßigkeit zu erfassen suchen. Das den jüdischen symbolischen Riten innewohnende Ziel sei die Vergeistigung der Persönlichkeit und die Heiligung des alltäglichen Lebens, weshalb auch das ganze rituelle System des Judentums, mit Einschluss des ,,Schulchan Aruch“, grundsätzlich unantastbar sei.

Die zwischen Geiger und Hirsch entbrannte Polemik machte die völlige Unvereinbarkeit der von ihnen vertretenen Systeme offenkundig, da ja der eine das Judentum als wandelbares Produkt historischer Schichtenbildung betrachtete, das je nach den Verhältnissen der verschiedenen Epochen eine verschiedene Gestalt gehabt habe und auch fernerhin veränderungsbedürftig sei, während dem anderen die Lehre des Judentums als ein starres Offenbarungswerk, als der Inbegriff himmlischer Gebote galt, an die man das wechselvolle Leben anzupassen habe, ohne jedoch hierbei diesem irgendwelche Konzessionen zu machen. Der objektiven Wahrheit kam zweifellos Geiger näher, dessen Ausgangspunkt nicht das Dogma der mehr oder weniger willkürlich in bestimmte geschichtliche Epochen verlegten ,, Offenbarung“, sondern das wissenschaftliche Prinzip der geschichtlichen Evolution bildete. Indessen waren die Ideologen der beiden Richtungen gleicherweise von der über dieser ganzen Epoche lagernden Wolke überschattet, hinter der ihnen die eigentliche Lichtquelle der jüdischen Geschichte verborgen blieb: die Idee der ewigen Nation, für die die mannigfachen, ihre Lebensweise bestimmenden Schichten des Judaismus nur die äußeren Hüllen, nur die Ausdrucksformen ihrer sich an die Zeitumstände anpassenden schöpferischen Kräfte bedeuteten. Indem Geiger und Hirsch das Judentum als eine nationale Ganzheit verleugneten und es lediglich als eine individuell gefärbte Religionsgemeinschaft anerkannt wissen wollten, fanden sie sich beide unbewussterweise mit der nationalen Assimilation ab, die letzten Endes die völlige Auflösung der Juden unter den anderen Völkern, d, h. das Verschwinden des lebendigen Trägers des Judaismus im Gefolge haben muss. Man übersah, dass sobald dem Fass der Roden ausgeschlagen wird, auch der Wein verloren geht: dass ohne ein lebenskräftiges, einen kulturgeschichtlichen Sondertypus darstellendes jüdisches Volk auch der Inbegriff seiner geistigen Gestaltungsformen, der Judaismus, undenkbar ist.

Als die Vertreter der sich bekämpfenden Richtungen von den Höhen der Ideologie in das praktische Leben hinabstiegen, stellte sich heraus, dass die einen wie die anderen keine Bedenken trugen, die jüdische Gemeinde, die Urzelle der autonomen nationalen Organisation, von innen heraus zu sprengen. Der Urheber der Spaltung war Geiger, der den Kampfruf ertönen ließ: „Das Medusenhaupt der Formenstarrheit muss abgehauen werden“. Von dem Drange beseelt, sich als ein kampfesfroher Rabbiner zu bewähren, der die von ihm Betreuten einer neuen Lebensordnung entgegenführe, hielt Geiger nach einem weiteren Wirkungskreis als dem Wiesbadener Ausschau. Im Jahre 1838 wurde nun in Breslau, wo als Oberrabbiner der altfromme Talmudgelehrte Salomon Tiktin tätig war, das Amt des zweiten Rabbiners („Dajan“) und Predigers vakant, das von den aufgeklärten Gemeinde- „Parnassim“ (Ältesten) Geiger angeboten wurde. Daraufhin kam dieser nach Breslau, hielt in der Synagoge eine glänzende Probepredigt (über den Bibelvers: „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde bleibt aber ewiglich“, oder die Unvergänglichkeit der Grundwahrheiten der Religion und Moral bei allem Wandel der Kultusformen) und wurde in das ihm angetragene Amt eingesetzt. Der orthodox gesinnte Teil der Gemeinde protestierte indessen gegen diese Wahl und stellte hierbei ein formelles Motiv in der Vordergrund: der aus der freien Stadt Frankfurt gebürtige Geiger galt nämlich in Preußen als Ausländer, während im preußischen Herrschaftsbereiche ein Rabbineramt von Rechts wegen lediglich einem preußischen Staatsbürger anvertraut werden durfte. Geiger gelang es bald, auch dieses Hindernis hinwegzuräumen: er begab sich nach Berlin und erwirkte mit dem Beistand einflussreicher Persönlichkeiten beim König seine Naturalisation. Als er jedoch als Sieger nach Breslau zurückkehrte, weigerte sich der greise Tiktin, mit einem die Grundlagen des Rabbinismus verleugnenden Ketzer im Rabbinat zusammenzuarbeiten. Mehrere schlesische und polnische Rabbiner bekundeten Tiktin ihr Einverständnis mit dieser Haltung. Dies veranlasste das Breslauer Ältestenkollegium, sich mit einem Aufruf an alle fortschrittlich gesinnten Rabbiner zu wenden, in dem diese aufgefordert wurden, sich in aller Offenheit zu der prinzipiellen Frage zu äußern: ob die freie wissenschaftliche Forschung im Bereiche des Judaismus grundsätzlich zulässig sei und ob die ihr Anhängenden befugt seien, ein geistliches Amt zu bekleiden. Viele Rabbiner zögerten nicht, die an sie gerichteten Fragen zu bejahen und sich zugleich zugunsten der religiösen Reformen auszusprechen, so unter anderen der schon erwähnte ungarische Talmudgelehrte Chorin, der bald zum Fahnenträger der radikalen Reform gewordene mecklenburgische Rabbiner Holdheim sowie eine Reihe schon von früher her zu Geiger haltender bayerischer und württembergischer Rabbiner. Das Breslauer Ältestenkollegium ließ die bei ihm eingelaufenen Rückäußerungen der Reformfreunde zur Beschämung der streitbaren Orthodoxie im Drucke erscheinen (,,Rabbinische Gutachten“, 1842 bis 1843). Bald darauf trat aber ein Ereignis ein, das dem Breslauer Streit ein Ende machte: im Jahre 1843 schied Salomon Tiktin aus dem Leben, und der Gemeindevorstand beschloß, die Rabbinerfunktionen zwischen seinem Sohne und Geiger in der Weise aufzuteilen, dass jener fortan die Leitung des konservativen, dieser des fortschrittlichen Teiles der Gemeinde innehaben sollte. Die Spaltung der Gemeinde wurde auch von Amts wegen anerkannt, da der Regierung nach dem Tode des mächtigen Schirmherrn der jüdischen Orthodoxie, des Königs Friedrich Wilhelm III., an der religiösen Eintracht in den jüdischen Gemeinden nichts mehr gelegen war.

Mittlerweile lebte der Kampf in der großen Gemeinde von Hamburg von neuem auf. Seit dem Tempelstreit von 1819 nahm die sich um die neue Synagoge scharende und von dem hochbegabten Prediger Golthold Salomon geführte Gruppe der Reformfreunde an Stärke ständig zu, so dass sie um i84o bereits etwa achthundert Mitglieder zählte. Oberrabbiner der Hamburger Gemeinde war damals der den „Chacham“-Titel führende Isaak Bernays, eine eigenartige Persönlichkeit, die in keinen Parteirahmen hineinpasste. Akademisch gebildet und ein Anhänger der romantischen Philosophie Schellings, huldigte er einer religionsphilosophischen Lehre, in der dem Kritizismus ein verschwommener Symbolismus entgegengesetzt wurde. Ein ausgesprochener Gegner der Neuerungen, mischte sich jedoch Bernays in den Parteikampf erst im Jahre 1841 ein, als die Hamburger Reformfreunde an die Einrichtung eines neuen geräumigen Tempels und an den Nachdruck ihres deutsch-hebräischen Gebetbuches gingen. Er erklärte, dass das vom Rabbinat im Jahre 1819 erlassene Verbot, dieses Gebetbuch zu gebrauchen, nach wie vor in Kraft sei, da die Herausgeber dieses Gebetbuches durch Ausmerzung jener Stellen, die die wichtigsten Momente des Glaubens: die messianische Zuversicht und die Hoffnung auf die Wiederaufrichtung Israels zum Ausdruck bringen, die heiligen Gebettexte in eigenmächtiger und mutwilliger Weise abgeändert hätten. Über eine solche Verketzerung empört, wandten sich die Vorsteher des Tempels, zu denen auch der rühmlichst bekannte Gabriel Riesser gehörte, an die Öffentlichkeit mit einer Kundgebung, in der sie gegen die widerrechtliche Einmischung von Bernays in die Angelegenheiten des ,,Tempelvereins“ Einspruch erhoben, dem Chacham jede Kompetenz in theologischen Fragen absprachen und ihn hemmungsloser Streitsucht bezichtigten. Der Zwist verschärfte sich so sehr, dass er die Aufmerksamkeit des Hamburger Senats auf sich zog. Als der Senat Bemays um Klarlegung seines Standpunktes ersuchte, bestritt dieser aufs entschiedenste die Behauptung der Reformfreunde, dass der von ihnen errichtete Tempel die Jugend auf den Weg der Religion zurückführe; vielmehr treffe, meinte er, das Gegenteil zu, da alle Neuerungen dem Wert der Religion nur Abbruch täten. So suchten denn die Orthodoxen den Senat dazu zu bewegen, den neuerdings in Angriff genommenen Tempelbau zu untersagen, ohne jedoch bei den Behörden Gehör zu finden. Der. Senat beschloß, den Reformern freie Hand zu lassen, ermahnte sie aber andererseits, sich jeglicher Ausfälle gegen den Oberrabbiner und die offiziellen Führer der Gemeinde zu enthalten.

Während so die Orthodoxen den Beistand der Behörden anriefen, suchten die „Templer“ die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, indem sie rabbinische Gutachten zugunsten der Kultusreform sammelten. Wie nicht anders zu erwarten war, sprachen sich die Rabbiner moderner Richtung: Geiger, Holdheim und ihre Gesinnungsgenossen, rückhaltlos für die Bestrebungen der „Templer“ aus. Eine mittlere Position zwischen den streitenden Parteien nahm der in Dresden als Rabbiner wirkende Gelehrte Zacharias Frankel (1801 — 1871) ein. Wohl zeigte er Verständnis für eine behutsam zu Werke gehende Neuregelung des Kultes und sogar für manche Änderungen der Gebettexte, doch war er gegen die Auslassung der messianischen Gebete, da er die Ansicht vertrat, dass die Hoffnung auf die einstige Wiedergeburt der Judenheit im Heiligen Lande mit der Vaterlandsliebe der jüdischen Staatsbürger in den Ländern der Diaspora durchaus verträglich sei. Aus dieser Anschauung heraus verurteilte er die Unduldsamkeit des Bernays, der selbst solchen Neuerungen entgegentrat, die von dem aufrichtigen Wunsche eingegeben waren, die Grundlagen der Religion neu zu befestigen. In dem Viertel Jahrhundert, das den ersten Hamburger „Tempelstreit“ vom zweiten trennte, hatte sich somit gar vieles geändert: im Jahre 1819 waren zugunsten der Reformen nur vereinzelte Stimmen laut geworden, während sich ihnen zugleich etwa vierzig konservativ gesinnte Rabbiner aufs entschiedenste widersetzt hatten; im Jahre 1841 stand hingegen Bernays ziemlich vereinsamt da und sah sich einer geschlossenen Front von Rabbinern neuer Observanz gegenüber, von denen ein Teil die Hamburger Reform sogar als allzu gemäßigt empfand, weil auch diese Reform am jüdischen Kultussystem in seiner Gesamtheit nicht zu rütteln wagte.

Die im Vordringen begriffene Reformationsideologie rief nämlich um jene Zeit eine viel radikalere Tendenz wach, die auf eine Revision des ganzen talmudischen Judentums gerichtet war. Unter den „israelitischen Bürgern“ von Frankfurt a. M . entstand eine Bewegung, die das bescheidene Beginnen in Berlin, Hamburg und Breslau weit in den Schatten stellte. Sie ging von einem Freidenkerkreise aus, in dem die Hauptrolle die am Frankfurter „Philanthropin“ (Band VIII, § 31) wirkenden Lehrer spielten. Einer von ihnen, der schon beiläufig erwähnte Michael Creizenach (oben, § 8), forderte in seinen Schriften*) die Aufstellung eines neuen „Schulchan Aruch“, d. h. eines auf die Zeiterfordernisse abgestimmten Religionskodexes. Wenn die Urheber des Talmud und der rabbinischen Gesetzbücher nicht gezögert haben, die Thora im Geiste ihrer Zeit auszulegen, warum sollten dann auch wir, meinte er, nicht befugt sein, sie im Geiste unserer Zeit auszulegen. Nach dem Tode des Creizenach gründeten sein später zum Christentum übergetretener Sohn Theodor und einige andere seiner radikalsten Gesinnungsgenossen in Frankfurt einen „Verein der Reformfreunde“, der die praktische Verwirklichung der Lehre des verstorbenen Meisters anstrebte (1842). Der neu begründete Verein trat mit der folgenden programmatischen Erklärung an die Öffentlichkeit: „1. Wir erkennen in der Mosaischen Religion die Möglichkeit einer unbeschränkten Fortbildung. 2. Die gewöhnlich mit dem Namen Talmud bezeichnete Sammlung von Kontroversen, Abhandlungen und Vorschriften hat für uns weder in dogmatischer noch in praktischer Hinsicht irgendeine Autorität. 3. Ein Messias, der die Israeliten nach dem Lande Palästina zurückführe, wird von uns weder erwartet noch gewünscht. Wir erkennen kein Vaterland als dasjenige, dem wir durch Geburt oder bürgerliches Verhältnis angehören“. Dieses Manifest des Freidenkertums rief in der jüdischen Öffentlichkeit tiefste Empörung hervor, namentlich nachdem bekannt geworden war, dass das Programm des Vereins außer den drei bekanntgegebenen Punkten auch noch einen geheimgehaltenen Punkt über die Abschaffung des Beschneidungsbrauches enthielt. Stand doch ein Teil der Vereinsmitglieder nicht an, sich über diesen Brauch auch in der Praxis hinwegzusetzen. Es kam hinzu, dass das Frankfurter Sanitätsamt angesichts einiger bei der Beschneidung vorgekommener Unglücksfälle die Bestimmung erließ, wonach „israelitische Bürger, sofern sie ihre Kinder beschneiden lassen wollten, sich dabei nur der besonders dazu bestellten Personen bedienen“ durften (1843). Diese Vorschrift wurde nun in dem Sinne aufgefasst, dass der Beschneidungsbrauch von Amts wegen als nicht mehr verbindlich gelte, worauf sich die von ihm Abstand nehmenden jüdischen Familien auch ausdrücklich beriefen. Die in Frankfurt durch diesen Anschlag auf das biblische Gebot entstandene Erregung griff rasch auf sämtliche deutsche Gemeinden über. Es entbrannte eine heftige literarische Polemik. Die umstrittene Frage lautete: kann ein Vater, der es unterlassen hat, an seinem Sohne die Beschneidungszeremonie vornehmen zu lassen, und nach erlangter Volljährigkeit dieser Sohn selbst als Mitglied der jüdischen Gemeinde gelten? Der hochbetagte Frankfurter Rabbiner Salomo Trier wandte sich an seine Berufsgenossen und sonstige namhafte Gelehrte mit der Aufforderung, zu der akut gewordenen Frage Stellung zu nehmen. Die von ihm bald darauf veröffentlichten achtundzwanzig Gutachten (1844) bezeugten einhellig, dass der symbolische Gebrauch der Beschneidung ein unerlässliches Gebot des Judentums sei, wobei sich mehrere Gutachter (S. R. Hirsch, der Wiener Rabbiner Mannheimer u. a.) für den Ausschluss der Übertreter dieses Gebotes aus den Gemeinden aussprachen. Den Freunden der Unterdrückungsmaßnahmen trat indessen Riesser mit der Erklärung entgegen, dass es im Hinblick auf das Prinzip der persönlichen Freiheit unzulässig erscheine, einen Menschen zur Befolgung eines seinem Gewissen widerstrebenden Brauches zu zwingen; auch liege kein Grund vor, meinte er, dem recht primitiv anmutenden Beschneidungsritus weitergehenden Schutz angedeihen zu lassen als anderen Riten von viel tieferem symbolischen Gehalt. Abgesehen von dieser Kollision blieb die Tätigkeit des Frankfurter „Vereins der Reformfreunde“ völlig wirkungslos. Er ging ein, ohne etwas Nennenswertes geleistet zu haben, wie dies angesichts seines der positiven Ziele fast gänzlich ermangelnden Programms auch nicht anders sein konnte.

Mitten im tobenden Kampf der aufeinanderprallenden Meinungen erscholl die laute Stimme des neben Geiger bedeutendsten Theoretikers der Reformation Samuel Holdheim (1806— 1860). Aus der Talmudschule des polnisch-preußischen Kempen hervorgegangen, hielt Holdheim auch nach Beendigung seiner Universitätsstudien an der rabbinisch-dialektischen Denkmethode fest. Den Weg der praktischen Reform betrat er zuerst im Jahre i84o, nachdem er in Schwerin Oberrabbiner der mecklenburgischen Gemeinden geworden war. Bei dem Versuch, in Mecklenburg das neue Gebetbuch und sonstige gottesdienstliche Reformen durchzuführen, stieß er jedoch auf den entschiedenen Widerstand der orthodoxen Mehrheit in den von ihm betreuten Gemeinden. Dies veranlasste ihn, den Schwerpunkt seiner Bemühungen in die Literatur zu verlegen. Im Jahre 1813 veröffentlichte er ein Buch ,,Über die Autonomie der Rabbinen und das Prinzip der jüdischen Ehe“, in dem er die von ihm befürwortete Reform folgendermaßen begründete: innerhalb des Judentums seien die politisch-nationalen Elemente von den religiösen streng zu unterscheiden*); jene müsse man ein für allemal aufgeben, da die Judenheit längst aufgehört habe, eine Nation zu sein, und sich in ihrem sozialen Leben nach den Gesetzen und nationalen Bestrebungen der verschiedenen Diasporaländer richte; es dürften daher allein die religiös-sittlichen Gesetze erhalten bleiben, die für das individuelle Leben bestimmend seien. Die Abgrenzung dieser beiden Bezirke des Judentums liege den Rabbinern ob, doch sei die endgültige Grenzregulierung Sache der Landesregierungen, denen es vorbehalten bleiben müsse, alles dem allgemein verbindlichen Staatsgesetze Widersprechende den abzuschaffenden „nationalen“ Gesetzen zuzuzählen. Die Rechtmäßigkeil der Regierungseinmischung leitete aber Holdheim von zwei Grundsätzen ab, die er dem von ihm selbst preisgegebenen Talmud entlehnt hatte: 1. Reichsrecht bricht speziell jüdisches Recht (,,Dina de'malchuta dina“). 2. Alle Vorschriften, deren Voraussetzung das jüdische Territorium in Palästina ist (,,Debarim ha'tluim ba'arez“), sind außerhalb dieses Territoriums ungültig. Der Abschaffung sollten demnach neben dem gesamten jüdischen Familienrecht viele die Sabbatheiligung betreffende Vorschriften sowie manche andere der Landessitte zuwiderlaufende Gebräuche anheimfallen, von der Eigengerichtsbarkeit, der Gemeindeautonomie auf sozial-kulturellem Gebiete, dem selbständigen jüdischen Schulwesen u. dgl. ganz zu schweigen.

*) Es bedeutete dies im Grunde nur eine Fortbildung des in der Deklaration des Pariser Synhedrions proklamierten Prinzips (vgl. Band VIII, S 22).

So zog denn Holdheim aus der anationalen Tendenz der Reform die äußerste logische Konsequenz: galten die Juden nicht mehr als Nation, so war es nur folgerichtig, im Judentum alles auszumerzen, was nationales Gepräge verriet. Der Autonomismus, der für das gesamte kulturelle Schaffen der Judenheit in der auf eine Jahrtausende alte Entwicklung zurückblickenden Diaspora bestimmend war, diese mächtige, in den tiefsten Schichten der geschichtlichen Vergangenheit verankerte Triebfeder des Volkslebens wurde so ohne Bedenken zum alten Eisen geworfen. Die Autonomie der Nation wollte Holdheim durch eine „Autonomie der Rabbinen“ ersetzt wissen, die befugt sein sollten, auf die erste Regierungsorder hin das Judentum entsprechend zurechtzustutzen. Jeglichen Verständnisses für historische Zusammenhänge ermangelnd, übersahen die Männer dieses Schlages, dass sie durch die Zerstörung des nationalen Elementes der jüdischen Kultur zugleich deren Seele töteten, um nichts als einen leblosen Inbegriff religiöser Dogmen und Gesetze übrigzulassen . . . Gleichwohl stieß die Doktrin Holdheims in der zeitgenössischen Literatur kaum auf Widerspruch*), da es damals innerhalb der deutschen Judenheit keine einzige Geistesströmung gab, die nicht bis zu einem gewissen Grade im Banne der Idee des anationalen Judentums gestanden hätte.

*) Treffend widerlegt wurde er lediglich von Zacharias Frankel, der darauf hinwies, dass Holdheim von seinem Standpunkte aus einem Antiochus Epiphanes oder Hadriun in ihrem Kampfe gegen das nationale Judentum recht geben, die Hasmonäer oder Rabbi Akiba aber als Hochverräter verurteilen müsste. Vorbehaltlose Anerkennung fand Holdheim bei dem in Sachsen-Weimar wirkenden Rabbiner Mendel ließ, dessen Reformfreudigkeit so weit ging, dass er die Umgestaltung des Judentums von dem Eingriff der Landesregierungen erhoffte.