§ 11. Die praktische Phase der Reformation; der „Tempelstreit“ (1815-1823)

Das Zeitalter der politischen Reaktion war zugleich die Zeit eines außerordentlichen Aufschwungs im geistigen Leben der deutschen Judenheit. Neben dem in der vorhergehenden Epoche einsetzenden Zerstörungsprozess, der sich vor allem in immer häufiger werdenden Fällen jüdischer Apostasie kundtat, tritt nunmehr ein Prozess der Erneuerung in Erscheinung, der Anpassung der jüdischen Kultur an die Anforderungen der neuen Zeit. Der oben dargestellte Kampf um die bürgerliche Gleichheit stand mit dieser kraftvollen inneren Bewegung in engstem Zusammenhang. Der Kampf wurde gleichzeitig um die Emanzipation und die Autoemanzipation, um die politische wie die geistige Erneuerung geführt, wobei das politische Ziel fortwährend auf das geistige zurückwirkte und diesem seinen Stempel aufdrückte. Die Tendenz dieser beiden parallel laufenden Bewegungen, die vorherrschende Idee dieser Epoche war die Verleugnung der jüdischen Nationalität, die Ansicht, dass die Judenheit in jedem Lande nur der Konfession nach einen besonderen Teil der Staatsnation bilde. Nach innen gewandt, musste diese Tendenz viel einschneidendere Ergebnisse zeitigen, als in ihrer nach außen gekehrten politischen Ausdrucksform.

Die geistige Bewegung verlief ihrerseits in zwei sich kreuzenden Richtungen: der religiösen Reform auf der einen und der sich auf die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung gründenden literarischen Renaissance auf der anderen Seite. Durch Wechselwirkung aufs engste miteinander verbunden, stellen die religiöse und literarische Bewegung zwei Komponenten einer Erscheinung dar, die man nach Analogie mit der Reformation im Christentum als die Reformation der deutschen Judenheit bezeichnen kann. Ebenso wie in jener tritt uns auch in der jüdischen Reformation ein Gemisch von geistigen und politischen Elementen entgegen. Entsprang sie doch nicht allein dem inneren Bedürfnis nach Erneuerung, dem unabweisbaren Drange, die Grundlagen des Judentums mit der neuzeitlichen europäischen Kultur in Einklang zu bringen, sondern zugleich auch dem in den äußeren Verhältnissen wurzelnden Bedürfnis nach einer die bürgerliche Gleichheit vorbereitenden Reform. Dieser Zwiespalt gibt der ganzen Geschichte der jüdischen Reformationsbewegung das Gepräge. Unverkennbar trat in ihr die Aufbau-Tendenz zutage, das Bestreben, die Prinzipien des Judaismus durch deren Anpassung an den neuzeitlichen Geist für die junge, der europäischen Bildung teilhaftig gewordene Generation, die sich von den überkommenen Formen des jüdischen Glaubens völlig abgewandt hatte, wieder annehmbar zu machen und so für die Zukunft zu erhalten. Dieses seinem Wesen nach gesunde Bestreben war aber keineswegs innerlich frei: es musste sich selbst den taktischen Vorbedingungen des Kampfes um die bürgerliche Emanzipation anpassen, den Forderungen der Regierungen und Parlamente, die zum Teil (so in Baden und Bayern) die Gleichberechtigung von der Beseitigung aller die nationale Absonderung fördernden Elemente des Judentums abhängig machten, zum Teil (so in Preußen) gegen den Partikularismus der Juden nichts einzuwenden hatten, vorausgesetzt dass sie der bürgerlichen Rechte beraubt blieben. Die aufwärtsstrebende Judenheit suchte nun auf dem Wege der religiösen Reform den Beweis zu erbringen, dass sie keine Nation in der Staatsnation bilde und dass der von seinen national-geschichtlichen Eigenheiten befreite Judaismus nichts als den Inbegriff rein religiöser Dogmen und Riten bedeute, deren Anhänger lediglich eine Kirche neben anderen Kirchen bildeten. Die Politik übte einen Druck auf die Religion aus, und die sich vor aller Augen vollziehende Revolution verdrängte die auf dreißig Jahrhunderte zurückblickende geschichtliche Evolution. Die angesichts des jähen kulturellen Umschwungs zweifellos zur Notwendigkeit gewordene innere Reform konnte in der Epoche der Emanzipationskämpfe unmöglich zur freien Entfaltung gelangen. So brach eine Zeit ausgeklügelter Reformen an, die teils oberflächlich und rein formeller Natur waren, teils in direktem Gegensatz zu der geschichtlichen Entwicklung des Judentums standen.


Im Laufe von drei Jahrzehnten ging die jüdische Reformation in Deutschland durch mehrere Phasen hindurch. Sie begann mit jener äußerlichen Reform des synagogalen Gottesdienstes, die bereits der alte David Friedländer bald nach Veröffentlichung des preußischen Edikts von 1812 in Aussicht genommen hatte (Band VIII, § 30). Im Jahre 1815 ließ sich in Berlin Israel Jacobson nieder, der einst im Königreich Westfalen als Präsident des Kasseler Konsistoriums geglänzt hatte, das von ihm in eine Reformen produzierende Werkstatt verwandelt worden war (Band VIII, § 31). Nach wie vor von dem Bestreben geleitet, den jüdischen Gottesdienst dem protestantischen anzugleichen, richtete Jacobson in seinem Berliner Hause eine Betstube ein, in der manche Gebete und Hymnen unter Begleitung von Chorgesang in deutscher Sprache vorgetragen zu werden pflegten und in der auch erbauliche Predigten gehalten wurden, wobei als Prediger nicht selten der Hausherr selbst auftrat. Daneben führte Jacobson an Stelle des jüdischen „Bar Mizwa“-Brauches sowohl für Knaben als auch für Mädchen die protestantische Zeremonie der Konfirmation ein. Bei der Einsegnung seines Sohnes hielt er selbst eine feierliche Predigt, was freilich diesen nicht daran hinderte, in der Folgezeit die Taufe zu nehmen und katholischer Priester zu werden. Gleichzeitig erstand in Berlin auch noch eine andere Reformbetstube im Hause des Bankiers Jakob Beer, des Vaters des Komponisten Meyerbeer, in der die Gebete unter Orgelklängen vorgetragen wurden. Die beiden neu errichteten Andachtsstätten wurden namentlich von den Freisinnigen aus dem Kreise David Friedländers besucht. Das bescheidene Beginnen der Reformfreunde wurde indessen von der preußischen Regierung im Keime erstickt: Anfang 1816 erging der Befehl, die beiden Betstuben zu schließen. Die Verfügung ging vom König Friedrich Wilhelm III. selbst aus und wurde damit begründet, dass der jüdische öffentliche Gottesdienst außerhalb der Synagogen untersagt sei; dem Übelstande aber, „dass die meisten hiesigen Juden die hebräische Sprache nicht verstehen — so hieß es vorsorglich in der Kabinettsorder — kann dadurch abgeholfen werden, dass sie sich die Gebete und Gesänge ins Deutsche übersetzen lassen, um für sich in der Synagoge nachlesen zu können, was laut in der hebräischen Sprache vorgebetet und vorgesungen wird“; „Sektierungen“ sollten eben um jeden Preis vermieden werden. Daraufhin wurde das Jacob'sonsche Bethaus geschlossen, während in dem von Beer der Gottesdienst auch weiterhin unter dem Vorwande abgehalten wurde, dass die Hauptsynagoge der Renovierung bedürfe und dass sich daher die Gemeindemitglieder zur Andacht in Privathäusern versammeln müssten. Als dann die alte Synagoge wieder instand gesetzt worden war, wurde sie nur noch von den Orthodoxen besucht, wohingegen die Neologen in der Nähe eine zweite Synagoge bauen ließen, um dort den reformierten Gottesdienst abhalten zu können. All diesen Plänen machte jedoch die in barschem Tone gehaltene Kabinettsorder von 1828 (oben, § 4) ein Ende, durch die den Juden vorgeschrieben wurde, den Gottesdienst „nur nach dem hergebrachten Ritus, ohne die geringste Neuerung in der Sprache und in der Zeremonie der Gebete und Gesänge“ abzuhalten. Wiewohl viele Juden nur noch Deutsch verstanden, wurde sogar die Predigt in deutscher Sprache untersagt. Die von den Reformfreunden in Angriff genommene Germanisierung des jüdischen Kultus scheiterte an dem Eigensinn des reaktionären Königs, der überall das Schreckgespenst des „Deismus“ witterte und in seinem Herrschaftsbereiche nur stockfromme Juden oder Täuflinge dulden wollte.

In Berlin Verfolgungen ausgesetzt, verlegten die Reformfreunde das Schwergewicht ihrer Tätigkeit nach Hamburg. In dieser freien Stadt gönnte man zwar den Juden nicht die volle Freiheit, hinderte sie aber nicht daran, dem Freisinn zu huldigen. Als Urheber der Reform tat sich hier Dr. Eduard Kley hervor, ein Schüler Fichtes und Schleiermachers, der bereits in einer der Berliner Betstuben als Prediger aufgetreten war und für ihre Besucher eine Sammlung von Gebethymnen in hebräischer und deutscher Sprache verfasst hattet*).

*) Ein ähnliches Gebetbuch gab im Jahre 1816 unter dem Titel „Gesangbuch für Israeliten“ der Frankfurter Lehrer 1. Johlson heraus. Im Zusammenhang damit wird die folgende Anekdote erzählt. In dem Bestreben, in der Synagoge den protestantischen Kirchengesang heimisch zu machen, hatte der Verfasser in sein „Gesangbuch“ kurzerhand Kirchenlieder aus deutschen Gebetbüchern übernommen, wobei er überall statt des Wortes „Jesus“ die Wörter „Herr, Einziger“ setzte. An einer Stelle soll indessen durch ein Versehen des Setzers oder vielleicht des Verfassers selbst das Wort „Jesus“ stehengeblieben sein. Das Erscheinen eines jüdischen Gebetbuches mit einem an Jesus gerichteten Gebet soll so unliebsames Aufsehen erregt haben, dass das unglückselige Blatt aus allen Exemplaren herausgerissen und neu gedruckt werden musste (Zirndorf, Jost und seine Freunde, S. 161— 162). Die Geschichte kennzeichnet in treffender Weise die Nachahmungssucht der jüdisch-deutschen Reformation.

Nachdem Kley aus Berlin nach Hamburg übergesiedelt war und die Leitung der dortigen jüdischen „Freischule“ übernommen hatte, entfaltete er an seiner neuen Wirkungsstätte eine erfolgreiche Agitation für die Errichtung einer Reformsynagoge. Bald schloss sich eine ansehnliche Zahl von Familien zu einem Reformverein zusammen, und im Oktober 1818 fand die Einweihung des neu erbauten „Tempels“ statt, an dem Kley das Predigeramt übernahm. Die Hebraisten M. J. Bresselau und Isaak Säckel Fränkel (der Übersetzer der biblischen Apokryphen ins Hebräische) gaben für die Tempelbesucher ein Gebetbuch heraus, in dem zwar die heilige Sprache, nicht aber das gesamte überlieferte liturgische Material beibehalten war: viele Gebete waren nämlich entweder ganz weggelassen oder durch wohlklingendere, dem sephardischen Ritus entlehnte Hymnen („Piutim“) ersetzt; aus Gebeten von ausgesprochen nationalem und messianischem Charakter wurden jene Stellen ausgeschieden, die allzu deutlich auf die erhoffte Wiedergeburt des israelitischen Staates anspielend, die Vaterlandsliebe der deutschen Juden unglaubwürdig zu machen schienen. Die im „Tempel“ eingeführte gottesdienstliche Ordnung lehnte sich an das Berliner Vorbild an: im hebräischen Originaltext wurden lediglich die Hauptgebete (so das „Schema“) vorgelesen, die übrigen dagegen in deutscher Sprache, in der auch die Predigt gehalten wurde; die Hymnen wurden von einem Chor unter Orgelbegleitung vorgetragen. Diese Neuerungen führten zu einer Spaltung in der Hamburger Gemeinde. Den „Tempelherren“ traten die Altfrommen entgegen. Bald nach Eröffnung des neuen Tempels erließ das Rabbinerkollegium von Hamburg-Altona einen Aufruf, in dem es allen Rechtgläubigen den Besuch des Reformtempels und den Gebrauch des neuen Gebetbuches aufs nachdrücklichste untersagte.

Die brennend gewordene Frage der Kultusreform rief neben den Gemeindestreitigkeiten in Berlin und Hamburg auch eine heftige Polemik in der Literatur hervor. Das Haupt der Berliner Reformpartei, Jacobson, fand bei der Verbreitung seiner Ideen die tatkräftige Unterstützung des aus dem Elsaß zugewanderten Elieser Libermann, der ein Kenner der rabbinischen Theologie war und eine radikale Reform des Judentums herbeisehnte. Von Jacobson und dessen Berliner Gesinnungsgenossen mit Geldmitteln versehen, trat Libermann in ihrem Auftrag eine Rundreise durch die bedeutendsten Gemeinden Europas an, um zugunsten der Synagogenreform gutachtliche Äußerungen der fortschrittlich gesinnten Rabbiner zu sammeln. Die Bemühungen des Libermann blieben nicht fruchtlos: schon sehr bald war er in der Lage, Gutachten zweier italienischer und zweier ungarischer Talmudgelehrten zu veröffentlichen, aus denen hervorging, dass weder das Beten in der Landessprache noch die Einführung der Instrumentalmusik in den Synagogen dem jüdischen Gesetz zuwider sei. Einer dieser entschiedenen Verfechter des neuen Ritus war der Vorkämpfer der Reform in Ungarn, der Rabbiner der Stadt Arad, Aaron Chorin, der in seinem Gutachten die von ihm vertretene Ansicht durch entsprechend ausgewählte Talmudstellen begründete. Ähnlicher Art war das Gutachten des Ofener Talmudgelehrten und Kabbalabeflissenen Moses Kunitz. Gleichzeitig mit der Publikation dieser Gutachten, die Libermann zu einem Büchlein unter dem Titel „Glanz der Gerechtigkeit“ („Nogah ha'zedek“, Dessau 1818) vereinigt hatte, meldete er sich selbst in einer Flugschrift „Das erglänzende Licht“ („Or nogah“) zu Worte, um eindringlichst zur Erneuerung des synagogalen Lebens zu ermahnen. Er wies darauf hin, dass die Pracht der neuen Tempel und ihr wohlgeregeltes Zeremoniell die Jugend, die sich durch die Unansehnlichkeit und das Getriebe der alten Synagoge abgestoßen fühle, erneut für den jüdischen Gottesdienst gewinnen könne und dass eine in deutscher Sprache über die Grundlehren des Judaismus gehaltene Predigt auch auf solche ihrer angestammten Religion entfremdete Jünglinge und Mädchen Eindruck machen würde, die sonst ihre Weisheit aus nichtigen, zuweilen sogar unsittlichen Romanen schöpften. Wiewohl Libermann die überhandnehmende Vernachlässigung der hebräischen Sprache aufs entschiedenste missbilligte und deren Studium angelegentlich empfahl, war er dennoch der Meinung, dass es eher anzuraten sei, in der allgemein verständlichen deutschen Sprache als in der unverständlichen alten Sprache zu beten. Seine Überzeugung ging überhaupt dahin, dass die geistigen Führer der Judenheit grundsätzlich berechtigt seien, nicht nur die Volksbräuche, sondern auch die den veränderten Lebensbedingungen nicht mehr entsprechenden talmudischen Gesetzesvorschriften mit dem Geiste der Zeit in Übereinstimmung zu bringen.

Die von Libermann entfaltete Agitation, insbesondere die vier von ihm veröffentlichten rabbinischen Gutachten entfesselten im Zusammenhang mit dem gleichzeitigen Hervortreten der Hamburger „Templer“ einen Sturm der Entrüstung im Lager der Orthodoxie. Das Hamburger Rabbinat beeilte sich, eine kräftige Gegenaktion in die Wege zu leiten. Die Eiferer des rechten Glaubens holten bei vierzig Rabbinern verschiedener europäischer Gemeinden, die gegen jegliche Abänderung des durch jahrhundertelange Tradition geheiligten synagogalen Ritus waren, dementsprechende Gutachten ein und gaben sie in einem Buche mit dem Titel: „Dies sind die Worte des Bundes!“ („Ele dibre ha'brith“, Altona 1819) heraus. Manche dieser Streiter der Orthodoxie hatten einen überaus klangvollen Namen, so der Rabbiner von Posen, Akiba Eger, der von Nikolsburg, Mardochai Benet, und der von Preßburg, Moses Sofer. In ihren Protestkundgebungen gegen die Hamburger „Neuerungen“ erklärten die Rabbiner, dass weder am Inhalt noch an der sprachlichen Ausdrucksform der Gebete auch nur ein Jota geändert werden dürfe, weil die Weisen der Vorzeit in jedes Gebetwort einen tiefen, sei es offenbaren oder geheimen Sinn hineingelegt hätten. Dem geschworenen Feind der Aufklärung, Moses Sofer, galten selbst die Melodien der Gebete als unabänderlich, weil sie uns angeblich von einer bis auf „unseren Meister Moses“ zurückgehenden Tradition überliefert worden seien. Der in Preußisch-Polen wirkende Rabbiner Jakob Lissa verstieg sich sogar zu dem Vorschlag, die ,, Zerstörer“ bei der Regierung mit dem Hinweis anzuzeigen, dass das religiöse Freidenkertum stets mit dem politischen Hand in Hand gehe. Die rabbinischen Sendschreiben waren zumeist in einem äußerst schroffen Tone gehalten und brandmarkten die reformfreudigen Hamburger ebenso wie deren Mitkämpfer in der Literatur als „Frevler, Wüstlinge, Bösewichte, Schwindler, dumme Jungen, Einfaltspinsel, Ignoranten, Aufwiegler“, kurz als Menschen, die „weder Juden noch Christen“ seien. Diesen Ausfällen trat mit viel raffinierterer Bosheit der bereits erwähnte Mitbegründer des Hamburger Tempels Bresselau in einer kurzgefassten Streitschrift „Das rächende Schwert“ („Chereb nokemeth“, 1819) entgegen, in der er erneut das Hauptargument Libermanns geltend machte, dass die Reformen dazu angetan seien, die sich von ihrer angestammten Religion abwendende Jugend dem Judentum zu erhalten.

In dieser literarischen Fehde verteidigten die Reformfreunde zweifellos eine stärkere Position als ihre Widersacher. Während das Reformsystem auf positive Ziele hinweisen konnte, auf das Bestreben, die Jugend erneut für das Judentum zu gewinnen, den Kultus in geregeltere Bahnen zu lenken u. dgl. m., fanden die Orthodoxen Rückhalt lediglich an dem erstarrten Prinzip der Unantastbarkeit der Tradition. Auch Drohungen mit dem rabbinischen Bannfluch vermochten die Neuerer nicht im geringsten einzuschüchtern. Der Hamburger Tempel stand fest, und die „Templer“-Gemeinde gewann immer mehr an Boden. Der von ihr zum Prediger bestellte Gotthold Salomon aus Dessau, ein hervorragender Kanzelredner, zog eine zahlreiche Zuhörerschaft aus den Kreisen der jüdischen Gebildeten an. Dem Beispiel Hamburgs folgten gar bald einige andere Gemeinden: die von Leipzig, wo die neue gottesdienstliche Ordnung in den während der Messezeit abgehaltenen Andachtsversammlungen eingeführt wurde, die von Karlsruhe, sowie die mit der deutschen Judenheit eng verbundene Gemeinde von Kopenhagen.

Der Wirksamkeit der ersten Verkünder der Kultusreform war nur noch kurze Dauer beschieden. Hochbetagt starben nacheinander Israel Jacobson (1828) und David Friedländer (1834). Es starb, allerdings einen nur geistigen Tod, auch Libermann: er trat, ob nun infolge der gegen ihn von den Altfronamen angezettelten Verfolgungen oder aus Verzweiflung an der Zukunft des Judentums, zur katholischen Kirche über, um später zu einem Gefolgsmann des Papstes Pius IX. zu werden. Es wird erzählt, dass nach dem Abfall Libermanns dessen Bruder, ein elsässischer Rabbiner, der Sitte gemäß um den Abtrünnigen wie um einen Verstorbenen sieben Tage lang getrauert habe; der Täufling soll jedoch in der Trauerzeit seinen Bruder aufgesucht und ihm erklärt haben, dass er seinerseits der Pflicht eines „Trösters des Trauernden“ („Menachem abel“) Genüge tun wolle.