§ 10. Die wirtschaftliche Umschichtung

Die in der Epoche der ersten Emanzipation in der deutschen Judenheit einsetzende wirtschaftliche Umschichtung (Band VIII, § 33) nahm in der Epoche der ersten Reaktion weiter ihren Fortgang. Dreierlei Ursachen waren hierfür maßgebend: 1. das im XIX. Jahrhundert für Westeuropa charakteristische Wachstum der Städte, ein Prozess, in dessen Verlauf sich die Christen in ihrem beruflichen Leben in demselben Maße den Juden anglichen, in dem diese auf kulturellem Gebiete den Christen entgegenkamen; 2. die partielle Emanzipation, die den Juden den Zutritt zu den höheren Regionen des Wirtschaftslebens eröffnete, sowie der von der Reaktion ausgehende Druck, der sie in den Ländern, wo der „Nothandel“ die Entziehung der Bürgerrechte nach sich zog, dazu trieb, sich im Großhandel oder im. Handwerk und in der Industrie zu betätigen; 3. die nach den Napoleonischen Kriegen rasch fortschreitende Akkumulation des Kapitals in den Händen geschäftstüchtiger jüdischer Bankiers, die aus bescheidenen, im Ghetto hausenden Hofjuden nun zu Gläubigern der Großmächte und zu Börsenkönigen in den führenden Hauptstädten Westeuropas geworden waren (das Haus Rothschild u. a.).

Der allgemeine soziale Aufstieg der Juden trat unverkennbar in Erscheinung. Die günstigeren Lebensbedingungen wirkten sich vor allem in dem zahlenmäßigen Wachstum der jüdischen Bevölkerung aus. Im Jahre 1816 gab es in ganz Deutschland kaum 300.000 Juden, während um 1848 ihre Zahl bereits 400.000 überstiegen hatte. Ihre Berufsgliederung war nicht mehr so einseitig wie ehedem. Nicht anders als in Preußen (oben, § 4) gehörten jetzt die Juden auch in den anderen deutschen Einzelstaaten nur noch zur Hälfte dem Handelsstande an, während sich die andere Hälfte aus Handwerkern, Dienstboten und Arbeitern sowie aus Vertretern der freien Berufe, Fabrikanten und Bankiers zusammensetzte; recht erheblich war indessen daneben die Zahl der Juden ,,ohne bestimmten Beruf“, d. h. derjenigen, die sich der neuen Wirtschaftsordnung noch nicht angepasst hatten (nach der amtlichen Statistik vom Jahre 1843 gab es ihrer in Preußen rund 90%). Schritt für Schritt vollzog sich der Aufstieg vom Klein- zum Großhandel, vom Kleinkreditgeschäft zu weitverzweigten Bankoperationen, zugleich wuchs immer mehr die Zahl der zu Innungen zusammengeschlossenen Handwerker, der in der Großindustrie Beschäftigten und insbesondere der Vertreter der freien Berufe: der Anwälte, Ärzte, Künstler und Gelehrten, sowie der Anwärter auf Staatsämter, zu denen die Juden in der Regel allerdings erst nach vollzogener Taufe Zutritt erhielten. Diese langsam fortschreitende wirtschaftliche Umschichtung sollte in ihrer ganzen Tragweite erst in der nachfolgenden Epoche der „zweiten Emanzipation“ in Erscheinung treten, mit deren Anbruch der in der deutschen Judenheit aufgespeicherten Wirtschaftsenergie ein weiterer Spielraum gegeben ward. Aber auch schon in der hier dargestellten Epoche fielen allgemein die in den Vordergrund des wirtschaftlichen Lebens getretenen jüdischen Großkapitalisten auf, die sich des Steuers der Staatsfinanzen bemächtigt hatten und das Tempo der gesamteuropäischen kapitalistischen Entwicklung merklich beschleunigten. Von dem Anblick dieses Häufleins von „Börsenkönigen“, um deren Gunst alle Herrscher Europas buhlten, völlig geblendet, übersah die christliche Umwelt jene große jüdische Masse, die verzweifelt um ihre Existenz rang und zugleich die ihr von den herrschenden Klassen des reaktionären Deutschland auf Schritt und Tritt in den Weg gelegten Hindernisse zu überwinden hatte.


Der Jahrhunderte hindurch künstlich gezüchtete Sinn für Finanzoperationen ließ eine jüdische Familie, das Haus Rothschild, aus den Niederungen des Frankfurter Ghettos zu den höchsten Höhen der kapitalistischen Welt emporsteigen. Der Stammvater dieser Bankiersdynastie, Meyer Amschel Rothschild (1714 — 1812), war ein typischer Vertreter jener Gattung von Finanzagenten, wie sie im XVIII. Jahrhundert an allen deutschen Fürstenhöfen häufig anzutreffen waren (Band VII, § 89). Ein Kind der engen Frankfurter Judengasse und sodann Zögling der Jeschiwa von Fürth, wählte Meyer Amschel schon in jungen Jahren den aussichtsvollen Beruf des Bankiers. Seine kommerzielle Ausbildung verdankte er seiner Anstellung in dem Hannoverschen Bankhause Oppenheimer. Sein feines Verständnis für das Wechselgeschäft und seine speziellen Kenntnisse auf dem Gebiete der Numismatik verschafften ihm den Zutritt zum Hofe des Landgrafen von Hessen-Kassel, Wilhelm, der den jungen Rothschild bald zu seinem „Hoffaktor“ ernannte. Der Landgraf von Hessen gehörte zu den durchtriebensten Spekulanten und Wucherern des damaligen Europa: er befasste sich mit Sklavenhandel, indem er Tausende seiner Untertanen an die Engländer und an andere fremde Mächte als Söldner verschacherte. Das von ihm einkassierte Blutgeld, Schuldverschreibungen wie Barschaft, pflegte er gegen überaus hohe Zinsen verschiedenen Privatbankiers für ihre Kreditoperationen vorzuschießen. Bei diesen Transaktionen stand ihm nun Meyer Amschel, der inzwischen in Frankfurt a. M. ein Kaufhaus nebst einer Wechselstube eröffnet hatte, als Vermittler zur Seite. Gar rasch stieg der Reichtum sowohl des Landgrafen, der 1803 die Kurwürde erhielt, als auch seines jüdischen Faktors, der von seinem Gönner in den Rang eines „Oberhofagenten“ erhoben wurde. Die Invasion Napoleons im Jahre 1806 zerstörte indessen den Wohlstand des Kurfürsten: Hessen-Kassel wurde dem von Jerome Bonaparte regierten Königreich Westfalen einverleibt, der Kurfürst floh und ließ seine immensen Schätze in den Kellergewölben seiner Kasseler Schlösser zurück. Der größte Teil dieser Reichtümer fiel den Franzosen zur Beute, der Rest wurde aber von Rothschild nicht nur gerettet, sondern durch geschickte Finanzoperationen sogar noch vermehrt, um sodann, nach Beendigung des Befreiungskrieges, dem in sein Land heimgekehrten Kurfürsten zurückerstattet zu werden. Meyer Amschel selbst sollte diese Zeit nicht mehr erleben: er starb im September 1812, als Napoleon seinen Rückzug aus Moskau noch nicht angetreten hatte. Sein Werk wurde jedoch von seinen fünf Söhnen unermüdlich weitergeführt und auf eine Höhe gebracht, von der der Begründer des Frankfurter Bankhauses wohl kaum je geträumt hatte. Sein ältester Sohn, Amschel Meyer Rothschild (gest. 1855), blieb in Frankfurt und vergrößerte das väterliche Erbe durch Mitwirkung bei der Unterbringung der von Preußen und dem Deutschen Bunde aufgenommenen Anleihen. Amschel Meyers Bruder Salomon (gest. 1855) begründete ein Bankhaus in Wien und wurde zum Hauptgläubiger der von dem Fürsten Metternich geleiteten österreichischen Regierung. Unvergleichlich größer war der internationale Einfluss der Finanzinstitute der zwei jüngeren Brüder, des Nathan Rothschild in London (gest. 1836) und des Jakob oder James Rothschild in Paris (gest. 1868). Diese beiden Finanzmänner waren es, die, wie wir weiter sehen werden, in der Tat die Rolle von souveränen Gebietern der europäischen Börsen spielen und in den entscheidendsten Momenten des internationalen politischen Lebens Staatsanleihen von allergrößtem Maßstab realisieren sollten. Das Schlussglied dieser Europa in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts umspannenden goldenen Kette stellte der fünfte Sohn des Meyer Amschel, Karl Meyer (gest. 1855), dar, Begründer eines Bankhauses in Neapel und Gläubiger der italienischen Fürsten sowie des römischen Papstes.

Zu derselben Zeit, als in Deutschland allenthalben die Reaktion das Zepter führte und man sich nicht dazu entschließen konnte, einem Juden auch nur den geringsten Posten im öffentlichen Dienst anzuvertrauen, etwa den eines Anwalts, eines Hochschullehrers, ja sogar den eines subalternen Kanzleibeamten, trat plötzlich eine Handvoll jüdischer Finanziers in den Vordergrund, die, auf die Macht des Geldes gestützt, zu Ansehen und Einfluss gelangten.

Dieser politische Einfluss wurde allerdings nur in sehr geringem Maße zugunsten der jüdischen Gesamtheit ausgenützt. Wohl trug der österreichische Kanzler Metternich ebenso wie der Deutsche Bundestag in für die Juden kritischen Augenblicken der finanziellen Macht der jüdischen Bankiers mehr oder weniger Rechnung (oben, §§ 1 — 3), doch kam der sozialen Lage der deutschen Juden im allgemeinen die Machtposition der jüdischen Finanzmagnaten in keiner Weise zugute. Eher traf das Gegenteil zu: die von den Rothschilds angehäuften Schätze machte man immer wieder der gesamten Judenheit zum Vorwurf und stellte auf Grund einer böswilligen Verallgemeinerung die Behauptung auf, dass das formell entrechtete Volk in Wirklichkeit in den europäischen Staaten die ganze Macht in den Händen habe. Im Verlauf der am Vorabend der Revolution von 1848 entbrannten Polemik über die Judenfrage (oben, § 6 und unten, § 15) ließ sich der radikal gesinnte Bruno Bauer („Die Judenfrage“, Ausgabe von 1843, S. 114) folgendermaßen vernehmen: „Es ist ein lügenhafter Zustand, wenn in der Theorie dem Juden die politischen Rechte vorenthalten werden, während er in der Praxis eine ungeheure Gewalt besitzt und seinen politischen Einfluss, wenn er im Detail verkürzt wird, en gros ausübt. Der Jude, der in Wien z. B. nur toleriert ist, bestimmt durch seine Geldmacht das Geschick des ganzen Reiches. Der Jude, der in dem kleinsten deutschen Staat rechtlos sein kann, entscheidet über das Schicksal Europas. Während die Korporationen und Zünfte dem Juden sich verschließen oder ihm noch nicht geneigt sind, spottet die Kühnheit der Industrie des Eigensinns der mittelalterlichen Institute“. Durch diese naive Auffassung der Dinge war zu Beginn seiner Wirksamkeit sogar der Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus Karl Marx beeinflusst, der die ganze wirtschaftliche Stellung der Juden kurzerhand mit der Machtposition der Rothschilds identifizierte (unten, § 15). In der Folgezeit sollte dieses Gerede über die Macht des jüdischen Kapitals angesichts des sich steigernden Wohlstandes der westeuropäischen Judenheit am meisten zum Erfolge der neu aufgekommenen antisemitischen Bewegung beitragen; in der dargestellten Epoche fanden indessen die vereinzelt auftretenden Demagogen kaum Anklang, und so legte der glänzende Aufstieg des Hauses Rothschild gar manchem niedergedrückten deutschen Juden den Gedanken nahe: wenn Geld Macht bedeutet, so bleibt dem Entrechteten nichts anderes übrig, als sich das Recht durch die Macht des Geldes zu verschaffen.