Die Ukraine als evtl. Kriegsschauplatz

Für jene, die sich mit der ukrainischen Frage befassen, wird es nicht ohne Interesse sein, wie sich die Ukraine als ein eventueller Kriegsschauplatz darstellt und welche Möglichkeiten dieselbe einer Invasionsarmee darbietet. In aller Kürze werden wir einige Angaben den geehrten Lesern vorlegen.

Fünf Momente kommen bei der Beurteilung der Bedeutung eines Terrains für eine Invasionsarmee im Betracht: Bodenbeschaffenheit mit allen, was dazu gehört (Oro- und Hydrographie, Klima usw.), Kulturzustand mit den Unterbringungs- und Approvisatiosresouren, Verkehrswesen mit den Nachschubbedingungen, militärische Bedeutung des Terrains mit Rücksicht auf die Verteidigungslinie oder Ausfallbasen und politische Bedeutung des Terrains mit Rücksicht auf den Krieg und dann auf die Kriegsziele.


Was die Bodenbeschaffenheit der Ukraine anbelangt, so ist sie für eine vom Westen vordringende Armee ein ohne jeden Vergleich günstigeres Terrain, als die Sümpfe und waldigen Terrains Polens und noch mehr Nordwestrusslands, wo sich jetzt die wichtigsten Kriegsereignisse bei Bewunderung der ganzen Welt abspielen. Die Ukraine, nur den nördlichen Saum Wolhyniens und des Kijewer-Gouvernements ausgenommen, der noch den Polisje-Charakter trägt, ist ein trockenes, bis zum Dniepr nur von relativ kleinen Flüssen durchkreuztes und mit festem schwarzen Erdboden bedecktes Hügelland respektive ebenso ein Komplex von dem durch die Flusstäler getrennten Plateaus. Keine Gebirgskette ist von der galizischen Grenze bis über Don und Wolga im Osten hinaus zu finden. Aber auch kein Sumpfland, wie es im Nordwesten und kein Sandland, wie es in Polen oder am Bug vorhanden ist. Das erste und einzige ernste Hindernis im Osten ist der mächtige Dniepr-Strom, dessen Uferbau aber eben für die vom Westen vordringende Armee günstig ist, indem das westliche Ufer hoch und steil, das östliche dagegen flach und eben ist und von dem westlichen weit aus beherrscht werden kann.

Die klimatischen Verhältnisse der Ukraine sind auch ganz anders als die von Polen oder Nordwestrussland, wieder zugunsten der viel südlicher gelegenen Ukraine. Kijew und Schitomir liegen ja ein wenig südlicher als Kielce und Tschenstochau und fast um einen Grad südlicher als Lodz und Petrikau; Kamenetz Podolskyj liegt in der geogr. Höhe von Nürnberg, Balta in der geogr. Höhe von Wien und München; Odessa in der geogr. Höhe von Südungarn und Genfer-See. Da das Klima der Ukraine ein Übergangsklima zum Kontinentalen ist, so ist der ukrainische Herbst trocken und reicht bis in die Mitte November, wo nach kurzer Zeit der Herbstregen wiederum ein trockener und schneearmer Winter folgt. Der erste Schnee kommt gewöhnlich in der ersten Hälfte Dezembers, die ersten Fröste um das Ende des Dezembers. Schneestürme und große Fröste gibt es freilich um Jahreswende und im Januar, sie dauern aber nicht lange, da schon im Februar es nachzugeben beginnt. Im März beginnt schon die allgemeine Tauzeit und Unwegsamkeit, wonach im April der Frühling sich den Weg bahnt, um im Mai Herr der Natur zu werden. Schon zu Ende Aprils wird der Boden trocken, wonach nur noch um Ende des Junis eine kurze Sommerregenzeit kommt. Danach ist nur die einzige Tauzeit für Kriegsoperationen ungünstig. Während in Nordwestrussland im Januar die Durchschnittstemperatur auf 6—8 Grad unter Null sich beläuft, ist die Januars-Durchschnittkälte von Südwest-Russland (Westukraine) 3—5 Grad unter Null; während die Düna bei Riga 120 Tage, Njemen bei Kowno 100 Tage mit Eis bedeckt sind, friert Dniepr oberhalb von Kijew auf 100 Tage, unterhalb auf 80 ja sogar nur auf 70 Tage zu. Von dem Reichtum an Regen- und Schneefällen Nordwestrusslands gibt es in der Ukraine keine Spur. Auch die Kultur- und demgemäß die Approvisations- und Unterbringungsressourcen der Ukraine sind ohne Vergleich günstiger wie Nordwestrussland, indem die Ukraine nach Polen 98 pro km2 die größte Volksdichte (Kijew und Podolien 89 pro km2 Poltawa 72 pro km2. Wolhynien, den sumpfigen Teil von Polisje eingerechnet, 54 pro km2 usw.) besitzt (im Vergleich: Zentralrussland 25 pro km2, Gouvernement Wilna 45 pro km2, Minsk 30 pro km2 usw.). Auch der Kulturzustand dieser par exellence anwerbenden Bevölkerung ist viel höher, als in Nordwestrussland. Die Bauernhäuser, obwohl größtenteils aus Holz oder Lehm mit Flechtenwerk gebaut und mit Strohdach bedeckt, haben in der Regel zwei ja sogar drei, durch einen Zwischengang separierte Räume und sind dazu rein mit Kalk oder Lehm bestrichen, sauber und mit Schornsteinen versehen, Tiere werden in den Wohnräumen nicht untergebracht. Die großen Ansiedlungen (große Dörfer und Marktflecken liegen dicht aneinander, nicht so, wie es in Nordwestrussland ist, wo es nur von einander weitentlegene kleine Dörfer und Einzelsiedlungen gibt. Für die Unterbringung der Truppen sind die großen ukrainischen Dörfer höchst geeignet, umso mehr, da die Bevölkerung sehr gutmütig und gastfreundlich ist. Da das Land eine Korn- und Rinder-Kammer Russlands ist, sind die Verpflegungsverhältnisse sehr günstig. Sogar, wenn die Russen beim Rückzug alles Mögliche verbrennen, wird es noch genügend Verpflegungs- und Unterbringungsressourcen bleiben, umso mehr, da in der Praxis das russische Vernichtungs-System sich ja als unausführbar erwies. Letzthin muss hervorgehoben werden, dass für den Fall, dass sich der Krieg auf die Dauer verschleppen sollte, was die Absicht der Engländer zu sein scheint und worauf die Russen auch rechnen, die Besetzung der westlichen und südlichen Ukraine mit einem besonders fruchtbaren Boden und unzählbaren Herden den Zentralmächten ermöglichen wird, ins Unendliche durchzuhalten, ohne Mangel an Korn, Rindvieh, Wolle, Eisen und Kohlen zu spüren. Das einzige Gouvernement Katerynoslaw produziert jährlich ungefähr so viel Korn wie ganz Russisch-Polen (Katerynoslaw 195 Millionen Pud, Russisch-Polen 213 Millionen Pud, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Produktion von Katerynoslaw noch viel mehr gesteigert werden kann als die von Russisch-Polen und dass Katerynoslaw lauter Weizen, Russisch-Polen dagegen mindere Korngattungen produziert!). Die gesamte Kornproduktion der westlichen Ukraine (bis Dniepr) beläuft sich auf zirka 680 Millionen Pud, d. i. die Hälfte der gesamten ukrainischen Kornproduktion und zirka 20% der gesamten Produktion Russlands. Polen allein bezog aus der Ukraine jährlich zirka 40 Millionen Pud, Weißrussland ebenso zirka 5 Millionen Pud usw. Auch dieser Umstand spricht für die Besetzung der Ukraine. Sonst müsste man die polnischen und nordwestrussischen Gebiete mit dem Korn der Zentralmächte ernähren. Das Verkehrswesen der Ukraine steht dem polnischen und galizischen nach, ist aber viel besser entwickelt, als jenes von Nord-westrussland. Das ist die Folge der Bodenbeschaffenheit, so dass sogar die Nachteile des ukrainischen Verkehrswesens im Vergleich mit dem von Polen und Galizien durch den festeren Boden ersetzt werden. Bei den westukrainischen Eisenbahnlinien ist ihre südöstliche Richtung charakteristisch, so dass ihr Schema wie die auseinandergestellten Finger einer Hand, deren Fläche sich in der Linie Brest-Litowsk-Nowosolicia befindet, aussieht. Vier Hauptlinien, davon zwei zweispurig, verbinden Galizien und Polen mit der Ukraine, wonach sie sich zu der östlichen und südlichen Richtung in 10 Linien verzweigen. Über Brest-Litowsk-Warschau, Lublin-Radom, Wladymir Wol.-Sokal- Jaroslaw-, Brody-Lemberg, Podwoloczyska-Stryj, Nowoselycia-Czernowitz-Budapest haben sie Anschluss an alle Hauptarterien beider Zentralmächte. Wenn man berücksichtigt, dass es von Lemberg oder Brest- Litowsk nach Kijew ebenso weit, wie von Berlin nach Warschau oder von Danzig nach Riga, so erscheint die Möglichkeit einer Offensive in die Ukraine nicht so weit entlegen zu sein. Was die militärische Bedeutung des Terrains anbelangt, so ist das Urteil darüber selbstverständlich die Sache der diesbezüglichen kompetenten Militärstellen. Von dem Standpunkt eines Laien die Sache beurteilend, können wir in erster Reihe auf das Festungsdreieck Dubno-Rowno-Luzk in Wolhynien als eine gefährliche Nachbarschaft für unsere rechte Flanke zwischen Brest-Litowsk-Czernowitz hinweisen. Solange dieses Festungsdreieck in den Händen der Russen ist, können dieselben immer einen Vorstoß gegen Ostgalizien versuchen, um das unsrige Zentrum und die linke Flanke, die in Nordosten operieren, zu gefährden, so wie es auch mit der österreichischen gegen Lublin operierenden Armee im August 1914 geschah. Die Einnahme dieses Dreiecks würde den Russen die Operations- und Ausfallsbasis auch im Südosten entreißen, so dass denselben erst am Dniepr eine Verteidigungslinie übrigblieb. Nach der Einnahme dieses Festungsdreiecks ist der Weg bis nach Kijew frei. Es scheint uns auch, dass, falls die Dardanellenfront, wo die Türken unter deutscher Leitung heroischen Widerstand leisten, erschüttert erscheinen sollte, eine Offensive in der Richtung gegen Odessa unausbleiblich sein wird, damit die Zentralmächte eine direkte Verbindung mit der Türkei erlangen. Odessa in den Händen der Verbündeten, und unsere Unterseeboote an der Nordküste des Schwarzen Meeres, das wäre ein Ende der russischen Herrschaft über das Schwarze Meer. Ein Vorrücken gegen Odessa ohne gleichzeitiges Vorrücken gegen Kijew ist unmöglich. Was für eine Bedeutung die Besetzung der Ukraine für die Entkräftigung Russlands im Falle einer Verschleppung des Krieges haben könnte, kann man aus dem über die Approvisationsresourcen der Ukraine gesagten beurteilen. In der politischen Hinsicht wäre die Offensive der Verbündeten in der Ukraine von außerordentlicher Bedeutung, indem dies über die Haltung der Balkanstaaten endlich einmal definitiv entscheiden würde. Welche Bedeutung die Ukraine mit Rücksicht auf die mit dem Kriege verbundenen politischen Aufgaben hat, das wurde schon ausführlich dargelegt.