Was weiter?

Wir sind alle darin einig, dass wir einen dauernden Frieden haben wollen. Aber das ist noch lange nicht alles.

Der Krieg und die durch ihn geschaffene politische Situation müssen ausgenützt werden, um die politische Stellung des Proletariats zu stärken. Die Sozialdemokratie muss aus dem Krieg geschlossener und entschlossener als zuvor herauskommen.


Sieht man sich die Vorgänge innerhalb der deutschen Sozialdemokratie an, so gewinnt man allerdings den entgegengesetzten Eindruck. Der alte Schlendrian ist geblieben, es zeigen sich Ideenzerfahrenheit, Zerrissenheit, innere Gegensätze, so dass die Einheit selbst der Partei bedroht erscheint.

Die Unentschlossenheit, die sie im Frieden gezeigt hat, zersetzt sie auch jetzt noch. Als der Krieg kam, erkannte man für einen Augenblick den Ernst der Situation und stimmte für die Militärkredite. Man befand sich auch unter der Hypnose der Kriegsbegeisterung, die die Massen erfasste. Seitdem aber die Massen nach den Schützengraben abgezogen waren, begann man zu schwanken. Ed. Bernstein und K. Kautsky, die in der Zeit nach dem Sozialistengesetz durch das Schaukelspiel ihrer taktischen Auseinandersetzungen am besten den Zickzack-Kurs der deutschen Sozialdemokratie zum Ausdruck brachten, machten sich daran, die gefasste Resolution zu revidieren. Die Frage wurde aufgeworfen, ob nicht der Augenblick gekommen sei, die Kriegsoperationen einzustellen. Der Kern der Sache ist, dass man sich ebensowenig entschließen kann, den Krieg zu führen, wie man sich hat entschließen können, die Revolution zu wagen. Und wenn sie jetzt für den Frieden eintreten, so folgen sie nur der inneren Kleinmütigkeit ihrer Taktik, die sie eine Stellungnahme suchen lässt, bei der sie von der Notwendigkeit befreit werden, die politische Verantwortung zu tragen. Denn sie wissen sehr gut, dass die deutsche Sozialdemokratie nicht imstande ist, die Weiterführung der Kriegsoperationen zu verhindern. Sie mochten bloß, dass die deutsche Sozialdemokratie für den Frieden demonstriere, ohne den Krieg zu verhindern. Wurde es tatsächlich von ihnen abhängen, ob sofort Frieden geschlossen werde, so wurden sie sich die Sache sehr überlegen und wahrscheinlich überhaupt zu keinem Entschluss gelangen. Sie suchen bloß ein Loch, durch das sie den Schwierigkeiten des Problems entschlüpfen konnten. Dabei sind sie besorgt, ihre internationale Autorität zu wahren und glauben, das durch Redensarten und politische Halbheiten erreichen zu können.

Ein Grund, weshalb die Leute dieses Schlages einen schnellen Frieden haben mochten, ist, dass sie die Opfer des Krieges einschränken mochten. Früher suchten sie die Revolution möglichst hinauszuschieben, weil mit je größerer Kraft das Proletariat in die revolutionären Kampfe eintreten würde, desto geringer seine Opfer im Kampfe sein dürften. Aber das Ergebnis dieser Verzögerungstaktik war nur, dass man in einen kapitalistischen Weltkrieg hineingeriet, der Hunderttausende hinraffte und Millionen verstummelte. Wenn man sich jetzt von ähnlichen sentimentalen Gründen leiten lassen wollte, so wurde das Ergebnis ein Zustand politischer Unruhe und kapitalistischer Kämpfe sein, der bald einen neuen Weltkrieg in einer vielleicht noch fürchterlicheren Form herbeiführen wurde.

Wir wollen den Frieden. Je früher, desto besser. Aber dieser Wunsch allein kann unsere Stellungnahme zum Krieg nicht bestimmen, sondern maßgebend können nur die Bedingungen sein, unter denen sich die Möglichkeit darbietet, Frieden zu schließen. Sind diese Bedingungen annehmbar, dann gut; wenn nicht, muss der Krieg weitergeführt werden, und dann ist es unsere Aufgabe, die Massen zu begeistern und nicht zu entmutigen.

Es ist eine Narrheit, inmitten dieses ungeheuren Völkerringens den ganz allgemeinen abstrakten Friedensgedanken als Heilmittel hinzustellen. Wer weiß es nicht, dass wir den Frieden wollen? Ist denn überhaupt in Deutschland oder in den anderen Ländern ein Mensch da, der nicht den Frieden will — mit Ausnahme vielleicht der, die den Krieg angezettelt haben und die Verantwortung für ihre furchtbare Schuld scheuen? Also, was will man mit den leeren Redensarten? Zeigt uns doch, wie wir zum Frieden gelangen konnten, zeigt uns einen gangbaren Weg, um die Schwierigkeiten zu lösen — das ist es, um was es sich handelt.

Das eine muss das Proletariat festhalten: dass es nach dem Kriege ebenso die freie Entwicklung jeder Nation in Wirtschaft, Handel und Verkehr, in Politik und Kultur, einerlei, ob die Nation groß oder klein ist, ob sie sich staatlich abgegrenzt hat oder mit anderen in dem gleichen Staate wohnt, fördern will, wie es das vor dem Krieg getan hat. Das gilt aber nicht für die Deutschen allein, das gilt für alle: neben den Deutschen müssen sich auch die Franzosen, die Engländer, die Belgier, die Russen etc. auf den gleichen Standpunkt stellen. Nur so ist ein einträchtiges Zusammenwirken und die Sicherung des Friedens möglich.

Die Hauptsache bleibt, dass das Proletariat in jedem einzelnen Lande zur Geltung komme und eine selbständige Politik treibe.

Der Krieg hat eine schauderhafte Zerstörungsarbeit geleistet und gewaltige Probleme gestellt. Ein Zurückgehen auf den Zustand, wie er vor dem Krieg war, genügt nicht und ist auch nicht mehr möglich. Denn der Krieg selbst hat die Zustände verändert — mehr, als es lange Jahre friedlicher Entwicklung hätten tun können. Das begreifen diejenigen nicht, die die Lösung aller Schwierigkeiten einfach darin erblicken, dass man auf allen Seiten die Waffen strecke. Sie mochten den Krieg ungeschehen sein lassen. Sie mochten eines Tages erwachen und sich überzeugen, dass überhaupt kein Krieg war, sondern das Ganze ein furchtbarer Alpdruck. Aber die Weltgeschichte nimmt keine Rücksicht auf die butterweichen Seelen. Die grässlichste Katastrophe aller Zeiten hat — nun schon über ein Jahr lang — die zivilisierte Welt verwüstet; die Welt ist anders geworden: es gibt vieles auf Zurichten, vieles neu aufzubauen, und wir müssen vorwärts kommen! Diese ungeheuren Opfer von Blut und Leiden sollen nicht um sonst gewesen sein — wir müssen vorwärts kommen! Die Menschen selbst sind anders geworden. Im harten Leben des Krieges, jeden Tag den Tod vor den Augen, gelöst von der Häuslichkeit, von den Banden der Familie, im treuen Zusammenschluss der Männer, von denen jeder wusste, dass ihm das Schicksal aller anderen anvertraut ist, und jeder sich in Not und Gefahr bewahrte, haben sie gelernt, die kleinlichen Rücksichten des Tagesschlendrians, die sonst ihr Leben erfüllten, zurücktreten zu lassen und sich einem hohen, ernsten Streben hinzugeben. Ein neues Geschlecht ist erstanden! Man kann den Krieg nicht ausschließlich vom Standpunkt der Krankenschwester betrachten. Er hat nicht nur Krüppel und Kranke geschaffen. Ein neues Geschlecht ist erstanden — stahlhart, stolz und frei, ernst in seinem Wollen, kühn in seinem Streben.

Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bürgt dafür, dass bei dieser moralischen Umschmelzung der Nation durch den Krieg das deutsche Proletariat seine Klassenstarke und sein Klassenbewusstsein gezeigt hat. Die sozialdemokratischen Arbeiter waren es, auf denen die Hauptstoßkraft der Armee beruhte. Darum ging auch in den Schützengraben der Prozess der Sammlung der Arbeiterklasse weiter fort, und selbst weit darüber hinaus er warben sich die Arbeiter Freunde und Bundesgenossen.

Vor allem aber lernten die deutschen sozialdemokratischen Arbeiter im Kriege, was ihnen die parlamentarische Praxis nicht hat geben können: den Wagemut, die Initiative, die Kühnheit des Entschlusses.

Das wird sich zeigen, wenn die Massen zurückkommen. Darum ist es falsch, aus dem jetzigen Parteikrakeel innerhalb der Sozialdemokratie Schlüsse über die Schicksale der Bewegung zu ziehen. Was jetzt sich abspielt, ist in der Hauptsache Literatengezänk. Die Sache wird ein anderes Aussehen bekommen, wenn die Massen wieder die Organisationen füllen und auf dem politischen Schauplatz erscheinen werden.

Wer halbwegs Einsicht hat in die politischen Energien, die der Krieg ausgelost und geweckt hat, muss lachen, wenn er sieht, dass man sich noch über solche Dinge lang und breit auseinandersetzen zu müssen glaubt, wie das preußische oder sächsische Klassenwahl recht. Alle Einschränkungen der politischen Rechte der Arbeitermassen müssen aufgehoben werden, oder sie werden von einem Sturm hinweggefegt werden, der noch manches andere mitreißen wird. Das sind selbstverständliche Sachen. Aber darüber hinaus muss und wird das deutsche Proletariat Forderungen aufstellen, die für die Schicksale der Arbeiterklasse wie für die Entwicklung der Kultur von grundlegender Bedeutung sind. Folgende sind es vor allem:

1. der Achtstundentag in der Industrie,
2. die Umgestaltung der Volksschule zu einer wirklichen Volksbildungsanstalt.

Die Erfüllung dieser Forderungen ist übrigens auch die Grundbedingung einer vernünftigen Staatspolitik; denn auf diese Weise lässt sich die kolossale Einbuße an Volkskraft, die der Krieg erzeugte, am schnellsten gutmachen.

Sollte es der deutschen Sozialdemokratie gelingen, nach dieser Richtung vorbildlich zu wirken, so würde sie dadurch das Interesse der Völker vom nationalen Gebiet auf das soziale hinüber lenken, den Proletariern aller Länder neuen Mut einflößen und das Internationale Zusammenwirken des Proletariats wirksam fördern.

Wir wollen nicht mehr zur früheren Ohnmacht zurückkehren. Wir wollen eine Macht werden. Das, die Machtstellung des Proletariats in jedem Staate und dessen Weltzusammenschluss unter Wahrung der Interessen jeder einzelnen Nation, ist auch die einzige Gewähr eines dauernden Friedens.

Parvus.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.