England und Frankreich.

Wie war es aber in den großen Industrieländern der Entente, in England und Frankreich?
Ein großer Teil der englischen Arbeiter war gegen den Krieg. Aber die englische Regierung, die orbi et urbi mit ihrem Demokratismus prahlt, ging über die Meinung dieser Arbeitermassen noch viel leichter hinweg als die preußische Regierung über die Friedensdemonstrationen der deutschen Sozialdemokratie. Wie war das möglich? Der Grund ist eben der, dass das englische Proletariat sich noch viel weniger politisch Geltung zu verschaffen gewusst hat, als die deutsche Sozialdemokratie. Trotz der vielgerühmten demokratischen Verfassung! Denn die kapitalistische Regierung und die bürgerlichen Parteien in England haben es durch List, Betrug und Korruption viel besser verstanden, die Entwicklung einer selbständigen Politik der Arbeiterklasse zu hintertreiben, als die vielgeschmähte preußische Regierung unter Bismarck und später mit Mitteln der Gewalt. Die englischen Arbeiter ließen sich narren. Sie beschränkten sich auf die Wahrnehmung ihrer unmittelbaren Arbeiterinteressen und überließen die allgemeine Politik der Kapitalistenklasse, die auswärtige Politik der Regierung. Die Regierung hat ihrerseits nicht an Worten gespart, um dem souveränen Volk zu huldigen. Man scheute nicht, sich in die Gefühle und Ausdrucksweise der Arbeiter hineinzudenken, um den Betrug in einer Form vorzubringen, die ihnen am besten behagt. Lloyd George entwickelte diese Kunst zur Meisterschaft. Er parfümierte seine Worte mit Schweiß goss den Essig des Klassenhasses hinein, um sich dem proletarischen Empfinden an zupassen. Aus den stärksten Nährstoffen der Demagogie setzte er seine Schlagworter zusammen und verbuk sie rund und hart, wie Hundekuchen. Die Arbeiter wurden eingeschläfert und das gesamte englische Volk wurde betrogen. Das englische Volk glaubte tatsächlich, dass es Herr sei in seinem Hause, selbst über seine Schicksale verfüge — da zeigte es sich, dass geheime Abmachungen und Intrigen, die etliche Personen geführt hatten, das ganze Volk zur Schlachtbank brachten. Die Einflusslosigkeit der englischen Arbeiter ist lehrreich genug: sie zeigt, wohin man gekommen wäre, wenn man in Deutschland die opportunistische Taktik angewandt hatte.

War die deutsche Sozialdemokratie nicht revolutionär genug, so war es das Unglück der englischen Arbeiter, dass sie überhaupt keine Sozialdemokratie im deutschen Sinne aufzuweisen hatten.


Eines Nebenmomentes muss noch gedacht werden, das aber nach verschiedener Richtung interessant ist. So sehr die englischen Arbeiter gegen den Krieg waren, so nahmen sie doch den Krieg nicht ernst genug. Das lag daran, das in England — die allgemeine Wehrpflicht fehlte. Man wusste wohl, dass der Krieg Kosten und Opfer fordere, aber jeder war der Meinung, dass es ihm persönlich jedenfalls freistehe, sich auf das Abenteuer nicht einzulassen. Das war eine der Fiktionen des Liberalismus: freier Arbeitsvertrag und freier Militärdienst! Der Arbeiter lässt sich freiwillig ausbeuten und lässt sich freiwillig anwerben. Stirbt er, so ist er bezahlt worden. Er ist schlimmer als ein Sklave, denn er ist nur noch ein Stück Ware. Eine Rechnungsgröße, eine Ziffer, ein Geldwert! Menschen, Pferde, Futtersäcke Munition — alles nur die „silbernen Kugeln" des Herrn Lloyd George! Und der freie Brite war stolz, dass er nicht Soldat sei im preußischen Sinne! Er brauchte es ja nicht zu sein, wenn er nicht wollte. Aber als der große Krieg kam, brachte er die Arbeitslosigkeit mit sich: da musste der Arbeiter wollen! Der freie Brite, der aufs Pflaster geworfen wurde, musste entweder sich selbst und seine Familie verkommen sehen oder der Armee beitreten. So musste der Krieg selbst Soldatenmaterial schaffen. Darauf spekulierten die englischen Menschenfreunde, Demokraten, Volksbeglücker! Aber früher noch, als der Hunger dazu zwang, lockten der höhere Lohn und das militärische Bummelleben. Der Krieg wurde als Sport aufgefasst. Und um die Geister noch mehr aufzupeitschen, wurde die Reklametrommel gerührt. Man trieb dem Mann aus dem Volk das Blut zum Gehirn. Man verfolgte ihn auf der Straße und in den Kneipen, man ließ ihm keine Ruhe und keinen Frieden zu Hause, man reizte ihn und stachelte ihn an durch große und kleine Stiche, durch Geschrei und Gepolter, mit Feuer und Zangen, wie den Stier in der Arena. Sie konnten es, weil sie die Macht, das Geld, die Presse hatten. Der Arbeiter war materiell nicht frei, denn er war auf den Lohn angewiesen, den ihm der Kapitalist zahlte: man brauchte bloß die Fabriken zu sperren, so musste er zur Armee; er war moralisch nicht frei, weil der gesamte Apparat der öffentlichen Meinung in den Händen der Regierung und der herrschenden Klassen sich befand. Und als man die Armee beisammen hatte, bildete sich eine Kriegsepoche aus, die die Außengebliebenen hinriss.

Das — die englische Demokratie! Das — die große gemeine Lüge des englischen Liberalismus!

Die französischen Sozialisten haben sich seit dem Ausbruch des Krieges gewohnt, die deutsche Sozialdemokratie über die Achsel anzusehen. Diese Deutschen, die es noch nicht einmal bis zur Republik gebracht haben! Die Franzosen vergessen dabei, dass sie ihre dritte Republik zu einem guten Teil den Niederlagen zu verdanken haben, die ihnen 1870/71 die deutschen Armeen zugefügt haben. Aber abgesehen davon scheint man in Frankreich der Meinung zu sein, dass die republikanische Staatsform dem Auslande gegenüber zu allem berechtige und zu nichts verpflichte. Man sollte meinen, dass gerade die republikanische Staatsform, die den Volksmassen einen entscheidenden Einfluss auf die Regierungspolitik sicherte, die französischen Sozialisten veranlassen wurde, sich am ehesten und mit aller Energie dem Krieg entgegenzusetzen — statt dessen schöpften sie daraus die Berechtigung, sich mit dem Zarentum zu verbunden, um diesem die Herrschaft über Europa zu verschaffen.

Waren die englischen Arbeiter betrogen, so wurden die französischen Arbeiter verraten — verraten von ihren Führern, die auf ihre Kosten zu Macht und Ansehen gelangt waren und nun mit der verruchtesten Dynastie der Welt sich verbanden, um einem nimmersatten Ehrgeiz zu frönen. Dass es aber so weit kommen durfte, war die Schuld der französischen Arbeiter, die es nicht verstanden haben, die republikanischen Freiheiten und Rechte auszunützen, um ihre gewerkschaftlichen Organisationen auszubauen und eine starke, zielbewusste sozialdemokratische Partei zu bilden, die das Klasseninteresse des Proletariats wahrnimmt, die Führer im Zaume hält und sich nicht von republikanischen Phrasendreschern betören lässt.

Eine der Ursachen, die diese Entwicklung verhinderten, war die republikanische Staatsform selbst. Die Regierungsgewalt stand nicht über dem Volk und nicht abseits von ihm, sie war formell dem Volkswillen unterworfen. Sie wechselte regelmäßig und unregelmäßig. Während es angesichts der starken, unabhängigen Regierungsgewalt im monarchischen Deutschland den Massen klar war, dass sie eine Kraft bilden müssten, die imstande war, den Staat aus den Angeln zu heben, wenn sie die Regierungsgewalt stürzen wollten, schien es in Frankreich im Gegenteil unschwer, die Regierungsgewalt zu erobern, wodurch man dann eine Handhabe gewinnen würde, um den Staat umzustürzen. Das stimmte auch mit den revolutionären Traditionen überein. Das parlamentarische Wechselspiel von Ministersturz und Kabinettbildung verstärkte diese Illusionen. Dazu kommt die viel größere Erfahrenheit und Geriebenheit der bürgerlichen Parteien in parlamentarischen Kämpfen und demagogischen Kniffen als in Deutschland, die Tradition der Großen Französischen Revolution, mit der die bürgerlichen Republikaner sich kleideten, und das Selbstbewusstsein der französischen Bourgeoisie, das auch bei den Arbeitern einen gewissen Eindruck ausübte.

Es war schwer, die französischen Arbeiter von dem republikanischen Mischmasch, der in allen Farben schillerte, loszulösen. Diese Arbeit war vor allem von Jules Guesde und seinen Freunden ausgeführt worden. In den 80er Jahren standen die Guesdisten als geschlossene, zielbewusste, sozialistische Arbeiterpartei nach deutschem Muster da. Aber je stärker die Partei wurde, desto schwieriger wurde es, ihre unabhängige parlamentarische Stellung aufrecht zu erhalten. Die liberalen Formen des politischen Lebens in der Republik boten der erstarkenden Partei tausenderlei Verlockungen, ihre Macht unter Preisgabe ihrer unabhängigen Klassenstellung auszunutzen. Entscheidend war die Affäre Dreyfuß. Jules Guesde erkannte damals scharf die Gefahr der politischen Ablenkung, die der Partei durch die große politische Konfusion drohte, die diese Affäre zur Folge hatte. Er verfiel aber in das entgegengesetzte Extrem und wollte nicht merken, dass der Fall Dreyfuß zu einer großen Auseinandersetzung mit den reaktionären Kräften Frankreichs sich entwickelte. Da er die Arbeiter von einer Stellungnahme in diesen großen Kämpfen zurückhalten wollte, was unmöglich war, so forderte er dadurch die Taktik der anderen, die auf dem Wege über den Schutz der republikanischen Freiheiten auf den Ministerialismus lossteuerten.

Jean Jaures begriff die agitatorische Bedeutung der Dreyfuß Affäre, war dagegen in der Frage der Anteilnahme am Ministerium zunächst unschlüssig.*) Später, als der Ministerialismus zur Methode wurde, erkannte er die Gefahr und suchte durch Zusammenschluss und Disziplinierung der Partei ihr entgegenzuwirken. Das war auch gewiss der richtige Weg. Allein der Ministerialismus war nun einmal Tatsache und erwies sich als großes Hemmnis der Entwicklung einer selbständigen Politik der sozialistischen Partei. Nachdem die Verbindung mit dem Ministerium hergestellt worden war, fehlte es nicht an Überläufern aus der sozialistischen Partei. Es kam so weit, das der Weg über die sozialistische Partei der kürzeste wurde, um ins Ministerium zu gelangen. Und als etliche das Ministerium passierten, entwickelte sich zwischen diesen selbst ein Konkurrenzkampf um die Portefeuilles. Um jeden Minister oder Ministerkandidaten sammelte sich eine Klientel. Die Bedingung für den sozialistischen Minister und dessen Klienten war aber, dass sie den Zusammenhang mit den Arbeitermassen nicht aufgaben. Denn ihre Anwesenheit im Ministerium war ja vor allem deshalb erwünscht, weil sie die Arbeiter beeinflussen konnten. So wurden Verwirrung, Korruption und Ratlosigkeit in die Arbeiterkreise getragen.



*) 1900 hatte ich mit Jaurès im Beisein einiger Parteifreunde eine längere Auseinandersetzung in der Frage der Beteiligung am Ministerium. Er betrachtete den Eintritt Millerands als eine provisorische Maßnahme, die durch die besonderen Verhältnisse des politischen Moments bedingt worden war und mit diesen fällt. Ich erwiderte, dass es allerdings dieser besonderen Verhältnisse bedurfte, um einem Sozialisten den Eintritt ins Ministerium zu ermöglichen, dass aber, wenn der Übergang einmal vollzogen ist, es an Vorwänden nicht fehlen wird, um immer aufs neue die Notwendigkeit der sozialistischen Ministerbeteiligung zu begründen. Um dieselbe Zeit wurde von den französischen Sozialisten eine internationale Enquete in der Dreyfuß-Affäre und der Frage der Ministerbeteiligung vorgenommen. Ich vertrat in meiner Antwort die Ansicht, dass man entschieden gegen den Generalstab auftreten, die Angelegenheit agitatorisch ausnutzen, sich aber da vor hüten müsse, die Verantwortung für die Regierungspolitik zu übernehmen, unter keinen Umständen ins Ministerium eintreten dürfe.

Als Gegensatz zu dem Ministerialismus stieg die Enttäuschung über den Parlamentarismus, die Verdrossenheit, die politische Skepsis. Auf diesem Boden erwuchs der französische Syndikalismus.

Indessen mehrte sich die Zahl der sozialistischen Agitatoren, die als Minister mit oder ohne Portefeuille, Minister von gestern, von heute, von morgen, kommende und gehende Minister in Paris ihr Unwesen trieben. Sie kamen immer mehr in den Geschmack des Machtbesitzes. Diese zu behalten oder wieder zu erlangen, wurde zum einzigen Ziel ihres Strebens. Darum suchten sie sich dem Regierungsmilieu anzupassen. Das ist das Milieu der herrschenden Klassen, Gruppen, Stande. Die sozialistischen Minister gaben sich alle Mühe, zu zeigen, dass sie Verständnis hatten für die Interessen dieser Kreise. Es war ein förmliches Einexerzieren der früheren proletarischen Revolutionäre und Generalstreiker in die kapitalistische Staatspolitik. Auf dem Gebiete der inneren Politik verlangte man allerdings nur, dass sie mit möglichst billigen Mitteln die Arbeitermassen in der Wahrnehmung ihrer Interessen zurückhalten. Dieses Geschäft verstanden sie vorzüglich. Sie fütterten die Arbeiter mit Redensarten, und wenn sie sie auch damit nicht befriedigten, so erzeugten sie doch Konfusion und Uneinigkeit und lähmten dadurch die proletarische Aktion. Aber auf dem Gebiete der auswärtigen Politik sah man ihnen mit Misstrauen entgegen. Um so mehr Mühe gaben sie sich, zu zeigen, dass sie sowohl für die französische Hochfinanz wie für den russischen Imperialismus ein volles Verständnis hatten. Sie schlossen Bruderschaft mit den Bankcliquen und den berüchtigtsten Börsenrittern und erwarben sich persönliche Gönner und Protektoren am Hofe des Zaren. In diese Zeit fiel die Ententepolitik Englands. Das war ein gefundenes Fressen für politische Abenteurer und imperialistische Draufgänger. Der Dreiverband schwindelte sich in die Illusion hinein, Europa kommandieren zu können. In Frankreich lebte der Chauvinismus wieder auf. Auch die sozialistischen Minister sahen eine neue Ära aufkommen, die ihrem Größenwahn unbegrenzte Möglichkeiten eröffnete. Anderseits merkten sie, dass man in den Arbeiterkreisen ihrem Treiben mit immer größerem Misstrauen entgegensah, dass sie ihren Vorrat an Autorität und Ansehen verbraucht hatten, dass die Zeit nahe sei, wo sie ihren Einfluss verlieren werden. Ein Zurück gab es für sie nicht mehr; darum blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit verstärkter Energie sich dem imperialistischen und chauvinistischen Treiben anzuschließen, mit dem bald auch der Revanchegedanke zu neuem Leben erwachte. Wollten sie den Krieg? Wohl kaum ernstlich! Aber sie brauchten den Kriegsrummel. Was werden sollte, da von gab man sich in Frankreich Überhaupt keine klare Rechenschaft. Aber man sah, dass die Zentralmächte vor der Kriegsgefahr zurückwichen, man sah, wie der Balkankrieg Deutschland um den gesamten Einfluss im Orient brachte, und man lärmte deshalb weiter. Und als der große Krieg kam, wurde eben alles mit fortgerissen.

So entwickelten sich die Dinge in dem liberalen England und dem republikanischen Frankreich und so wurde — zum sovielten Mal schon! — der Beweis erbracht, dass der Liberalismus und die Republik die Arbeiter nicht davor schützen, dass sie im Interesse der herrschenden Cliquen ausgebeutet und abgeschlachtet werden. Was man nicht durch Gewaltmaßregeln erreicht, das erreicht man durch den Zwang der Not, durch Betrug und Verrat. Dagegen gibt es nur ein Mittel: die Stärkung der proletarischen Macht, die Entwicklung einer selbständigen proletarischen Politik.

Damit kommen wir auch zu den Problemen, die der Krieg dem Proletariat stellt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.