Die Anfänge. Der Einfluss der großen französischen Revolution.

Es war die große französische Revolution und die ihr entsprungenen Weltkriege, die Deutschland zuerst politisch auf rüttelten. Bauernbefreiung, Volksschule, allgemeine Wehrpflicht und eine geistige Bewegung, die sich bis an die Grundsätze der Weltordnung heranwagte, waren die Folgen.

Man hat später die Geschichte gefälscht, indem man sie auf Napoleon zuspitzte. Napoleon wurde zum Fetisch gemacht, wie jetzt der Deutsche Kaiser. Aber wenn auch die Persönlichkeit Napoleons in den Kriegen und der Politik jener Zeit eine unvergleichlich größere Rolle gespielt hat, als gegenwärtig der Deutsche Kaiser, so lag doch das Schwergewicht nicht in ihm, sondern in den politischen Kräften, die die Bourgeoisie in Frankreich ausgelöst hatte. In Napoleon selbst sah man nur noch ein militärisches Genie, seine Tyrannei und seine dynastischen Interessen und übersah die große Staatsbildung, um die er gekämpft hatte. Es war die neue bürgerliche Staatsordnung Frankreichs, die ganz Europa sich adaptieren wollte. Darum wäre denn auch Europa um mindestens ein halbes Jahrhundert vorwärts gekommen, wenn es Napoleon gelungen wäre, auch nur noch zwanzig Jahre sein Reich aufrecht zu erhalten.


Der Rückschlag kam bekanntlich aus dem Moskowitenreich, das materiell und ideell für die bürgerliche Staatsordnung noch ungenügend entwickelt war. An der Wegelosigkeit Russlands, dessen ungenügenden Subsistenzmitteln und der primitiven Bauart, die es ermöglichte, ganz Moskau abzubrennen, ging die Armee Napoleons zugrunde.

Jetzt wurde die Entwicklung Europas ebenso mit Gewalt reaktionär zurückgehalten, wie sie vorher mit Gewalt revolutionär vorwärts getrieben wurde.

Es ist gut, sich daran zu erinnern. Die russische Hegemonie in Europa dauerte bis nach 1848, und das war die Zeit der politischen Stagnation. Erst der Krimkrieg brach den verhängnisvollen russischen Einfluss.

Nur politische Kindsköpfe und geschichtliche Ignoranten können sich einbilden, dass man die innere Politik eines Staates von dessen auswärtiger Politik trennen kann, und dass das politische Regime eines so großen Reiches, wie Russland, nur dieses selbst und nicht auch dessen Nachbarn angehe. Seitdem Russland zu einem modernen Militärstaat geworden war, litt ganz Europa unter dessen politischer Rückständigkeit. Der russische Zarismus hielt nicht nur die Entwicklung Russlands zurück, sondern er war und bleibt ein gewaltiges Hemmnis der europäischen Entwicklung.

Der Zusammenstoß mit den Napoleonischen Heeren brachte zum vollen Bewusstsein des gesamten deutschen Volkes den Fluch der deutschen Kleinstaaterei, der verknöcherten Bureaukratie, der schamlosen Adels und Hoftyrannei. Die deutsche Bourgeoisie tritt in ihren Freiheitskampf ein. Aber der deutsche Freiheitsgedanke ist zugleich Reichsgedanke — das Streben nach nationaler Einigung, nach politischer Zentralisation.

Dagegen hat das allgemeine bürgerliche Ideal um diese Zeit bereits viel von dem Glanz verloren, mit dem es in den ersten Jahren der großen französischen Revolution umgeben war. Die französische Revolution selbst hat in rascher Aufeinanderfolge die Klassenkampfe aufgerollt, die die bürgerliche Gesellschaft zersetzen. Durch den Sturz Napoleons war die Militärmacht der französischen Revolutionsheere gebrochen, und das Prestige der europäischen Monarchien wieder hergestellt.

Die Geister in Deutschland waren um so mehr disponiert, die französischen Zustände kritisch ins Auge zu fassen, als ja die soziale Struktur der deutschen Lande noch nicht in dem Maße kapitalistisch durchdrungen war, wie in Frankreich, und das revolutionäre Frankreich Deutschland gegenüber zuerst als feindliche Macht, die es seiner politischen Selbständigkeit beraubte, sich geltend machte. Die Arbeiterkampfe in England und die Entwicklung der sozialistischen Ideen in Frankreich gaben reichlichen Stoff, um diesen kritischen Geist zu nähren.

Es blieb nur noch übrig, die Kritik durch die Tiefen der deutschen Philosophie passieren zu lassen, und das System war fertig.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.