Fünfte Fortsetzung

Der Erlass einer neuen Bau- Ordnung, welche nach dieser Richtung jede zulässige Erleichterung bieten könnte, hat im Vorigen Jahre auch die Kreise des Architekten-Vereins lebhaft beschäftigt. Leider war die Einführung derselben bisher noch nicht möglich, da die städtischen Behörden noch nicht schlüssig geworden sind. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als die jetzt geltenden vielfach veränderten und unklaren, auch zum Teil veralteten Bestimmungen nicht nur das Bauen selbst, sondern namentlich den Verkehr zwischen den Unternehmern und den Behörden erschweren.

Eine damals bereits beabsichtigte Erleichterung, dass in niedrigen Wohngebäuden nur eine hölzerne Treppe ausreichen solle, ist inzwischen durch besondere Verordnung eingeführt. Weitergehende Befreiungen, als in dem früher besprochenen Entwurf vorgesehen waren, sind auch neuerdings nicht zur Sprache gebracht. Von der noch nicht aufgehobenen Bestimmung, dass neue Gebäude einige Wochen austrocknen sollen, bevor sie geputzt werden dürfen, ist neuerdings im Drang der Wohnungsnot fast durchgängig Abstand genommen. Von der Einführung neuer Baumaterialien oder anderer Erfindungen, welche von verschiedenen Seiten empfohlen oder vorgeschlagen sind, ist bis jetzt noch wenig Erfolg zu versprechen. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass sich die Polizeibehörde denselben gegenüber niemals ablehnend verhalten wird. Aber es liegt auch auf der Hand, dass neue Bauweisen diejenige Sicherheit bieten müssen, welche an verkehrsreichen Straßen innerhalb eng bebauter Grundstücke von Jedermann gefordert wird. Die Konkretbauten z. B., deren Sicherheit von der Qualität jeder einzelnen Tonne Zement abhängt, werden deshalb für die hiesige Bauart mit sehr hohen Gebäuden kaum eine Zukunft haben.


Die Abtretungen des Straßenlandes vor jedem Neubau bis zur Mitte der Straße, welche an das Polizei-Präsidium für den Straßenfiskus durch notariellen Akt erfolgen, so wie die Hinterlegung der Pflaster-Kaution bei der Stadtkasse sind Bedingungen, welche viel weniger durch die hiermit verbundenen Kosten, als durch den Zeitverlust empfindlich sind, und es ist deshalb dringend wünschenswert, dass Beides wenigstens an dieselbe Behörde und mit möglichster Beschleunigung geschehen könnte. Allein so lange nicht gesetzliche oder statutarische Bestimmungen an die Stelle des jetzigen Verfahrens ein anderes setzen, lässt sich eine vollständige Befreiung auch von diesen zeitraubenden Formalitäten nicht erreichen.

Inwieweit auch der städtische Steuermodus, welcher früher allein die Wohnung als Steuer-Objekt bezeichnete, jetzt noch nach Einführung der städtischen Einkommensteuer einer Änderung bedarf, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist es mit den jetzigen Wohnungsverhältnissen schwer vereinbar, dass außer den Lasten, welche auf den Neubauten überhaupt liegen, die wichtigste städtische Abgabe nach Mietpreisen, welche selbst nicht im richtigen Verhältnis zu der Steuerkraft des Einzelnen stehen, berechnet wird. Doch ist, wie schon angedeutet, die wesentlichste Abhilfe bereits durch Einführung der städtischen Einkommensteuer geboten. Nachahmenswert ist aber gewiss das Beispiel solcher Städte, welche in ähnlichen Notständen alle Neubauten oder gewisse Kategorien derselben auf eine Reihe von Jahren von Haus- und Miet-Steuern befreien. Die Beschaffung kleiner Wohnungen würde z. B. in den augenblicklichen Verhältnissen durch solche Maßnahmen ausserordentlich gefördert werden.

Was endlich die Frage betrifft, inwieweit die Beschaffung billiger und geeigneter Kommunikationsmittel der Wohnungsnot Abhilfe verschaffen kann, so ist auch dies schon vielfach erörtert. So wichtig Verbindungs-Eisenbahnen und Pferdebahnen zur Abkürzung der Entfernungen einer großen Stadt sind, so vermögen sie doch die Wohnungsfrage nur zum kleinsten Teil zu lösen. Die Gelegenheit, einen entfernteren Punkt zu erreichen, ermöglicht es noch nicht, dort zu wohnen; hierzu ist vielmehr noch erforderlich, dass es dort Wohnungen und zwar solche Wohnungen gibt, welche den städtischen Lebensverhältnissen entsprechen.

Nun liegen aber in der für uns erreichbaren Nähe außer der Stadt Charlottenburg in der Umgegend von Berlin nur Dörfer, welche für die Bautätigkeit viel weniger geeignete Verhältnisse bieten, als das Weichbild selbst. Auch in Charlottenburg geschieht nicht das Geringste, um neue Ansiedelungen zu fördern und die Baulust zu heben. Die dortigen Gemeindebehörden weigern sich sogar, für neue ihnen fertig überwiesene Straßen die öffentliche Fürsorge zu übernehmen, und können nach den gesetzlichen Bestimmungen nur gezwungen werden, da Abhilfe zu schaffen, wo wirkliche Notstände bereits in solchen Straßen eingetreten sind. Die Berliner Vorstädte, wie der Gesundbrunnen, Moabit und der Wedding liegen innerhalb der Weichbildgrenzen und es herrschen dort dieselben Missstände, als in der nächsten Umgebung der Stadt selbst. Nur ist der Besitz hier ein bereits sehr geteilter, die Bautätigkeit kann deshalb hier nicht durch grosse Bau-Gesellschaften, sondern lediglich durch Strassenanlagen Seitens der städtischen Behörden gefördert werden. Geschieht dies nicht, dann werden weder die Pferdebahnen, noch die Verbindungsbahn dort Zustände schaffen, welche eine wesentliche Entlastung und eine Abhilfe der hiesigen Not bringen. Noch weniger werden sich aber neue Ansiedelungen an der Verbindungs-Eisenbahn bilden, wo nicht an geordneten Straßen Wohnsitze bereits vorhanden sind, um welche das Neue heranwachsen kann. Es ist deshalb gewiss gut, sich von der Beschaffung jener Kommunikationsmittel, welche für Unbemittelte noch auf lange Zeit schwer wiegende Fuhrkosten bedingen, nicht in erster Linie Abhilfe zu versprechen.

Dass übrigens mehrere Aktiengesellschaften sich für den Bau der städtischen Pferdebahnen gebildet haben, ist ja bekannt. Dass sie noch nicht weiter mit ihren Unternehmungen gekommen sind, hat zum größten Teil seinen Grund darin, dass ihnen Seitens der städtischen Behörden sehr erschwerende Bedingungen auferlegt sind, namentlich in Betreff dessen, was sie für die Verbreiterung und Verbesserung derjenigen Straßen tun sollen, in welchen sie ihre Geleise einlegen wollen.

Doch wird ja voraussichtlich auch in dieser Beziehung die Erfahrung Abhilfe bringen. –

Fasst man aber die vorstehenden Erörterungen nochmals kurz zusammen, so ergeben sich folgende Resultate:

1) Die Zunahme der Bevölkerung ist in Berlin eine normale und unvermeidliche.
2) Die Wohnungsnot sowohl hinsichtlich der Dichtigkeit des Bauens und Wohnens und der hiermit verbundenen nachteiligen Folgen, als in Betreff des Mangels und der Überteuerung der Wohnungen ist keine notwendige Folge dieser Zunahme, sondern wesentlich durch die Vernachlässigung derjenigen Verhältnisse herbeigeführt, welche Vorbedingungen der Bautätigkeit einer großen Stadt sind.
3) Um die hiesige Bautätigkeit zu steigern, damit sie das bereits Versäumte wieder einbringt, und künftig mit dem wachsenden Bedürfnis gleichen Schritt hält, ist die Erschließung neuer Bauterrains durch Anlegung fertiger städtischer Straßen das wesentlichste Erfordernis.
4) Die Anlegung solcher Straßen durch die Bau-Gesellschaften, überhaupt die Tätigkeit dieser Gesellschaften ist namentlich durch möglichst schleunige Erledigung der im öffentlichen Interesse erforderlichen Vorverhandlungen zu unterstützen.
5) Um diesen Gesellschaften wirksame Konkurrenz zu machen, namentlich aber, um den Bau von kleinen und Mittelwohnungen zu fördern, ist die Eröffnung von Bauterrains durch Straßen-Anlagen seitens der Stadtgemeinde dringend geboten.
6) Die Kommunikationswege für das Baumaterial, namentlich die Wasserwege, sind dem wachsenden Bedürfnis entsprechend zu erweitern und zu vermehren.
7) Die baupolizeilichen Bestimmungen müssen durch zeitgemäße Erneuerung eine möglichst freie, aber auch klare und bestimmte Form erhalten.
8) Die Verbindung neuer Bauterrains oder entfernter, in der Entwicklung begriffener Stadtteile mit der Stadt muss in jeder tunlichen Weise unterstützt werden.


Vielleicht geben diese aus langjähriger Beobachtung der hiesigen Verhältnisse entnommenen Wahrnehmungen einen Beitrag zur Abhilfe des jetzigen schweren Notstandes, von welchem unsere Stadt heimgesucht ist. Vielleicht geben sie Anderen Veranlassung, Besseres zu empfehlen.

        Berlin, im November 1872. G. Assmann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wohnungsnot in Berlin.