Die Wohnungsnot in Berlin.

Ein Vortrag, gehalten im Architekten-Verein zu Berlin.
Autor: Erbkam, G. (?-?) Baurat im königl. Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Erscheinungsjahr: 1873

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Berlin, Hauptstadt, Wohnungsnot, Obdachlose, Spekulation, Mieten, Wohnungsbau, Spekulanten, Baupreise, Wohnungssuchende, Wohnlagen, Besserverdienende, Kommunikationswege, Straßenbau, Bauplanung, Baubestimmungen, Baugesetze, Baupolizei, Wohnungen, Bauarbeiter, Baumaterial, Baugesellschaften, Kapital, Straßenbau, Notstand, Bevölkerung, Bauunternehmungen, Wohnungsbaugesellschaften, Wohnungsfrage, Gebäude, Grundstücke, Wohlstand, Familien, Arbeitskräfte
Unter den Erscheinungen unsrer Zeit ist die Wohnungsnot gewiss diejenige, welche den Menschen die meisten Sorgen macht. Nirgends aber ist sie so schnell und so schwer hervorgetreten, als in Berlin. Schon früher ist allerdings die Wohnungsfrage Gegenstand vielseitiger Besprechungen gewesen. Man sah die einzelnen Grundstücke mit immer höheren und immer näher an einander gerückten Gebäuden besetzt werden. Man fühlte das Unbequeme und Ungesunde dieser Wohnungsweise und wünschte durch spekulative oder gemeinnützige Unternehmungen herbeizuführen, dass möglichst viele kleine Besitzer im eigenen Hause oder mehrere Familien im gemeinsamen Besitz lebten. Allein diese Unternehmungen, unter denen die der Waren-Kredit-Gesellschaft die bekannteste war, sind sämtlich ohne wesentlichen Erfolg gewesen. Man hat auch wohl eingesehen, dass jenes Ziel wenigstens unter den jetzigen Verhältnissen nicht erreichbar ist.

Aus der Wohnungsfrage ist aber inzwischen eine wirkliche Wohnungsnot geworden.

In ihren Folgen sehen wir nicht nur mannigfaches Elend in den unbemittelten Klassen, sondern auch in den Kreisen, in welchen bisher die Sorge um die äußere Existenz weniger fühlbar wurde, machen sich Verstimmung, Besorgnis und Unzufriedenheit geltend und vielfach ist die Zerrüttung des Wohlstandes ganzer Familien die Folge.

Eine große Anzahl von Familien verlassen deshalb ihren bisherigen Wohnort, und zwar fast nur solche, welche ein bequemes Auskommen hatten; die Meisten aber können oder mögen nicht fortgehen und geben unter Entbehrungen aller Art eine für ihr Einkommen unverhältnismäßig hohe Miete oder drängen sich in engeren Wohnungen zusammen. Die bisher schon eingeschränkter wohnten, nehmen zu mehreren Familien mit einer Wohnung oder mit einem einzelnen Raume fürlieb, leben so in einer Weise, welche den notwendigsten Ansprüchen an Gesundheit, Sittlichkeit und oft überhaupt an eine menschenwürdige Existenz nicht entspricht, oder werden mit Weib und Kind obdachlos und fallen der öffentlichen Wohltätigkeit, dem Arbeitshaus oder dem gänzlichen Untergang anheim. Auch ist es die Gegenwart nicht allein, welche hierunter leidet, wenn man sich der Hoffnung hingibt, dass diese Verhältnisse vorübergehend sind und sich bald Abhilfe finden wird. Es werden jetzt eine Menge bleibender Einrichtungen, namentlich unter dem Druck der Not eine große Anzahl solcher Bauten ausgeführt, in welchen die Einschränkung der Räume, die Benutzung aller Winkel, Schuppen, Ställe und Remisen zu Wohnzwecken, das Besetzen der Grundstücke mit möglichst vielen und hohen Gebäuden, bis über die Grenze des sonst Möglichen und Zulässigen hinaus statt findet.

Was aber jetzt gebaut wird, das bleibt, und die Zukunft muss in dieser Beziehung unweigerlich Erbschaften antreten, die schlimmer sind, wie manche andere, über welche die Gegenwart bitter zu klagen pflegt.

Es ist deshalb gewiss für Jedermann geboten, sich Ursache und Wirkung dieser Verhältnisse klar zu machen, und wenn der Maßstab der großen Stadt auch in dieser Beziehung über die an andern Orten hervortretenden Erscheinungen hinausgehen mag, so gilt doch sehr Vieles, was über die hiesigen Verhältnisse zu sagen ist, auch für andere Orte, und eine Besprechung mag deshalb auch an dieser Stelle gerechtfertigt erscheinen.

Um überhaupt die Folgen eines Mangels an Wohnungen in einer großen Stadt richtig würdigen zu können, muss man die Art des Wohnens schon zu solchen Zeiten, wo keine eigentliche Wohnungsnot herrscht, kennen. Es werden deshalb hier einige Angaben eingefügt, welche dem Bericht des Dr. Schwabe über die Volkszählung in Berlin vom Jahre 1867 entnommen sind und nur tatsächliches statistisches Material enthalten.

Berlin hatte am 3. Dezember 1867 702.437 Einwohner, welche auf 13.656 bewohnten Grundstücken, also im Durchschnitt zu 52 Menschen auf jedem Grundstück wohnten.

Von diesen bewohnten Grundstücken hatten

6% nur 1 Haushaltung,
22 % 2 bis 5 Haushaltungen,
26 % 6 – 10 Haushaltungen
33 % 11–20 Haushaltungen
10 % 21–30 Haushaltungen
3 % über 30 Haushaltungen

(Diese Zahlen sind wie alle folgenden durch Abstreichung der Dezimalstellen abgerundet.)
Von sämtlichen Einwohnern lebten 674.000 in 152.641 Wohnungen, während circa 26.000 in Gasthöfen, Anstalten aller Art, Gefängnissen, Kasernen u. dergl. sich aufhielten. Von sämtlichen Wohnungen lagen 72 % in Vorderhäusern, 28 % in Hofgebäuden.
62.000 Menschen wohnten in Kellern, also 9 % der Bevölkerung,
47.000 Menschen wohnten 4 oder mehr Treppen hoch;
7 % der Bevölkerung oder 6.000 Menschen wohnten in Wohnungen ohne ein heizbares Zimmer zu Familien mit durchschnittlich 4 Köpfen,
290.000 Menschen in Wohnungen mit nur 1 heizbaren Zimmer zu Familien mit durchschnittlich 5 Köpfen.
Die Wohnungen mit 1 heizbaren Zimmer betrugen 49% sämtlicher Wohnungen. Wenn man Wohnungen mit 1 heizbaren Zimmer, sobald mindestens 6 Köpfe in denselben wohnen, oder Wohnungen mit 2 heizbaren Zimmern und mindestens 10 Köpfen übervölkerte nennt, so gab es 1867: 16.000 übervölkerte Wohnungen, deren Bewohner zu 52 % aus Kindern bestanden. –

Die gleichen Resultate der Volkszählung des Jahres 1871 liegen noch nicht vor. Indessen wer aus seinen persönlichen Erfahrungen einen Maßstab für den Grad, in welchem sich alle die oben angeführten Verhältnisse in den letzten 4 Jahren verschlechtert haben, nicht hat, dem mag nicht nur die Anzahl der bei jedem Mietwechsel obdachlos werdenden Personen, die Versuche sich in Baracken ein Obdach zu schaffen, vor Allem aber die für kleine Wohnungen um etwa 100 bis 150%, für größere um 80 bis 100 % seit dem Jahre 1867 eingetretene Mietssteigerung hierfür den Anhalt bieten.

Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, ein Beispiel anzuführen, welches erweist, wie dicht die Bebauung schon jetzt auch in solchen Stadtteilen zu erfolgen pflegt, die keineswegs zu den gesuchten, sondern zu denen gehören, in welchen die Bautätigkeit noch günstige Bedingungen, namentlich geringere Preise der Grundstücke findet.

Auf einem Grundstück an einer der alten Stadtmauernstraßen an der Ostseite der Stadt von 25,60“ Breite und 125" Tiefe wird jetzt in nachstehender Weise gebaut.

Sämtliche Gebäude erhalten über dem bewohnten Kellergeschoss und dem bewohnten Erdgeschoss noch 4 bewohnte Stockwerke, mit Ausnahme des Stallgebäudes an der hinteren Grenze. Es entstehen hiernach auf diesem einen Grundstück von ca. 3.200 m2 Grundfläche:

30 Wohnungen im Keller,
30 Wohnungen im Erdgeschoss,
140 Wohnungen in den Stockwerken,
zusammen 200 Familien-Wohnungen.

Dabei geht die Ausnutzung in diesem Falle keineswegs bis an die Grenze des nach der Bau-Ordnung Zulässigen, oder des sonst Üblichen. Die Höfe, welche der Luft von zwei Seiten freien Zutritt gestatten, sind mehr als doppelt so breit, wie es die Bau-Ordnung vorschreibt, alle Räume haben Luft und Licht, und eine größere Höhe, als verlangt wird. So dankenswert bei den jetzigen Verhältnissen es also wäre, wenn recht viel Unternehmer in dieser Weise für das Bedürfnis an kleinen Wohnungen sorgten, so wird man doch nicht in Abrede stellen können, dass das Zusammendrängen von 200 Familien, also etwa von 1.000 Menschen ohne die Schlafburschen, Kutscher und sonstigen Gäste, welche in den Ställen und in den Bodenräumen ihr Unterkommen finden, auf einem Grundstück von dieser Größe, welches demnächst an allen Grenzen bebaut werden wird, nur in hohem Grade schädlich und beklagenswert ist.

Berliner Wohnungsnot 1871

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Berlin, Anhalterbahnhof Abfahrt in die Sommerfrische (2)

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Berlin, Anhalterbahnhof Abfahrt in die Sommerfrische

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Berlin, Der neue berliner Straßenpostwagen

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Berlin, Zentralmarkthalle 1897 (4)

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Der Zahlmoment auf der Berlin-Charlottenburger Pferde-Eisenbahn

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Ein Berliner Kaufhaus (02) Die Eingangshalle in der Breitestraße

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Quadriga auf dem Brandenburger Tor von Johann Gottried Schadow 1793

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Sittenbild, Berlin, Ausflügler am Pfingstmontag

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Sittenbild, Berlin, Krolls Garten

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