Erste Fortsetzung

Allein das Tatsächliche der Wohnungsnot liegt zunächst nicht in dieser Art des Bauens und Wohnens, sondern in dem Mangel an Wohnungen überhaupt. Es lässt sich in den wenigen Worten zusammenfassen, dass es zu wenig Wohnungen gibt und die vorhandenen zu teuer sind. Zu wenig, weil die Anzahl der kleinen Wohnungen faktisch geringer ist, als die Anzahl der auf sie angewiesenen Familien; zu teuer, weil die Mietpreise durchweg weder zu den Mitteln der Bewohner, noch zu den Baukosten der Gebäude in angemessenem Verhältnis stehen.

Weniger leicht erkennbar scheinen indessen die Mittel zur Abhilfe.


Es ist wenigstens schon so viel über dies Thema gesprochen und geschrieben und noch so wenig Resultate sind hiermit erreicht, dass man fast die ganze Kalamität jetzt wie ein unabwendbares, mit dem Wachstum der Stadt notwendig verbundenes Geschick ansieht.

Bei näherer Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse ist dies indessen keineswegs der Fall, und es mag deshalb auch dem Baumeister einmal gestattet sein, von seinem Standpunkte aus an die Lösung der Frage zu gehen.

Von vielen Seiten werden die neueren Bestimmungen über die Freizügigkeit als die wesentlichste Veranlassung der jetzigen Zustände bezeichnet, und es scheint von Interesse, zunächst diese etwas näher anzusehen. Es liegt ja auch nahe, dass wenn man die Anzahl der Wohnungen nicht vermehren könnte, man das Wohnen verbessern kann dadurch, dass man die Anzahl Derjenigen einschränkt, welche wohnen wollen. Die rapide Steigerung der Bevölkerung in grossen Städten hat ja bekanntlich viel mehr ihren Grund in dem massenhaften Zuzug von Aussen, als in dem konstanten Überschuss der Geborenen gegen die Gestorbenen. Allein wenn die Frage, ob die Freizügigkeit einer Einschränkung unterworfen werden kann, ohne dass hieraus grössere Schäden entstehen, als jetzt in ihrem Gefolge bemerkbar sind, noch nicht entschieden wäre, so würde eine einfache Betrachtung der früheren und der jetzigen Gesetzgebung schon erweisen, dass die Wohnungsnot in keinem Zusammenhang steht mit der Änderung der älteren Bestimmungen durch die neueren, nämlich durch das Bundes-Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867, welches jetzt diese Verhältnisse ordnet. Die älteren Bestimmungen in dem Gesetz vom 31. Dezember 1842 waren im Wesentlichen folgende. Es heißt in

§ 1. Keinem selbstständigen Preussischen Untertan darf an dem Orte, wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen sich selbst zu verschaffen im Stande ist, der Aufenthalt verweigert oder durch lästige Bedingungen erschwert werden.

§ 4. Denjenigen, welche weder hinreichendes Vermögen, noch Kräfte besitzen, sich und ihren nicht arbeitsfähigen Angehörigen den notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, solchen auch nicht von einem zu ihrer Ernährung verpflichteten Verwandten zu erwarten haben, kann der Aufenthalt an einem anderen Orte, als dem ihres bisherigen Aufenthaltes verweigert werden.

Das Bundesgesetz vom 1. November 1867 bestimmt, dass der Aufenthalt Jedem zu gestatten ist, der sich eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen zu verschaffen im Stande ist. Arbeitsunfähige können auch jetzt zurückgewiesen werden. Eine Abgabe für den Zuzug darf nicht erhoben werden.

Wenn also früher auch da eine Abweisung oder Ausweisung eintreten konnte, wo Jemand nach Ansicht der betr. Behörden weder hinreichendes Vermögen, noch Kräfte besaß, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den notdürftigen Unterhalt zu schaffen, so traf das doch nur einen sehr kleinen, in Betreff der Wohnungsfrage wenig beachtenswerten Teil des Zuzuges. Trat aber wirklich eine Ausweisung ein, so kehrte der Betroffene, wenn er Sonst nicht Lust hatte, seinen Aufenthalt hier zu verlassen, von der nächsten Reisestation gewiss sehr bald wieder zurück, und in den seltensten Fällen mögen die Behörden größere Ausdauer bei ihren Beförderungen nach Außen gehabt haben, als die Betroffenen in ihren Bestrebungen zurück zu kehren.

Wesentlich haben sich also diese Verhältnisse überhaupt nicht geändert. Auch das Einzugsgeld, welches mit der neuen Gesetzgebung aufgehoben ist, war keine Schranke für den Zuzug.

Ein gleiches Resultat ergibt sich, wenn man die tatsächliche Zunahme der Bevölkerung Berlins vor und nach der neueren Gesetzgebung betrachtet. Sichere Zahlen liegen hierfür nur in den Ergebnissen der allgemeinen Volkszählungen vor. Nach diesen betrug in runden Angaben

im Jahre 1861 die Einwohnerzahl 548.000,
im Jahre 1864 die Einwohnerzahl 632.000,
im Jahre 1867 die Einwohnerzahl 702.000,
im Jahre 1872 die Einwohnerzahl 826.000.
Hiernach ergibt sich
von 1861 bis 1864 eine Zunahme von 15%,
von 1864 bis 1867 eine Zunahme von 11 %,
von 1867 bis 1871 für den vierjährigen Zeitraum ein Zuwachs von 17%, oder auf den dreijährigen Zeitraum reduziert von 13 %.

Es zeigt sich also schon in den Jahren 1862–1864 eine größere relative Zunahme der Bevölkerung, als in den Jahren nach Erlass des Bundes-Gesetzes vom 1. November 1867.

Man wird also, abgesehen davon, dass der Zuzug nicht zu hemmen ist, die jetzt herrschende Wohnungsnot weder aus der veränderten Gesetzgebung erklären, noch einen so stark vermehrten Zuwachs der Bevölkerung nachweisen können, dass hierdurch der so schnell eingetretene Mangel an Wohnungen bedingt wäre.

Man kommt daher zu dem Resultat, dass die Bautätigkeit nicht gleichen Schritt mit dem gleichmässig wachsenden Bedürfnis an Wohnungen gehalten hat, und dass man deshalb durch eine Steigerung der Baulust Abhilfe schaffen muss. Auch dies würde sich direkt durch die Zahl der in den einzelnen Jahren vorhanden gewesenen und besteuerten Wohnungen nachweisen lassen. Die Anzahl der ausgeführten Bauten oder diejenige der erteilten Bau-Erlaubnisscheine gibt für die Bautätigkeit nach dieser einen bestimmten Richtung keinen Maßstab, weil diese oft sehr große, oft kleine Unternehmungen umfassen, weil aus ihnen die immer steigende Anzahl großer Wohnungen, welche der zunehmende Wohlstand bedingt, nicht ersichtlich wird, und sie auch nicht den Unterschied erkennen lassen, ob eine große Anzahl von Wohnräumen im einzelnen Fall gebaut, oder eine ebenso große Anzahl durch Einrichtung von Geschäftslokalen beseitigt wird. Dass die Ausdehnung des gewerblichen Verkehrs durch die große Anzahl der hierfür erforderlichen Lokalitäten der Anzahl der Wohnungen in den älteren Stadtteilen bis jetzt einen wesentlichen Abbruch getan hätte, ist nicht anzunehmen, denn bis jetzt hat bei Umbauten die größere Höhe der Gebäude und die größere Dichtigkeit der Bebauung einen mehr als ausreichenden Ersatz gewährt.

Fragt man aber, in welcher Weise das Bedürfnis an Wohnungen durch vermehrte Neubauten schneller, als bisher, gedeckt werden kann, so wird man zunächst jedes direkte Eingreifen in die Bautätigkeit, etwa dadurch, dass der Staat oder die Stadt selbst bauen und vermieten, oder die Unternehmer, welche ein Gleiches wollen, direkt mit Kapitalien unterstützen, als ungeeignet und nachtheilig erachten müssen. Auch die gemeinnützigen Unternehmungen, welche darauf beruhen, dass wohlhabende Leute Kapitalien zu einem geringen Zinsfuss hergeben und hiermit kleine Wohnungen billiger hergestellt werden, als es auf dem Wege der Spekulation möglich ist, haben sich bis jetzt in sehr engen Grenzen bewegt und sind deshalb auf die allgemeinen Verhältnisse nicht von Einfluss gewesen. Es ist gewiss ein allgemein gültiger Grundsatz, dass sich die grossen Bewegungen auf dem Gebiete des volkswirtschaftlichen Lebens im freien Verkehr durch sich selbst regeln und dass das Bedürfnis nach Wohnungen, wie bei jeder anderen Ware, sich durch die Steigerung des Preises bei erhöhter Nachfrage decken muss. Allein es wäre gewiss ebenso unrichtig, diese Abhilfe gegenüber den jetzigen Zuständen lediglich hiervon und von der Zeit zu erwarten und im Übrigen die Hände in den Schoß zu legen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wohnungsnot in Berlin.