Viertes Kapitel. Allgemeiner Charakter der Periode.

Eine allgemeine Charakteristik der Wanderbewegungen dieser Periode lässt sich nicht geben. Die Wanderungen hatten keine bestimmte Richtung, denn ihre Ursachen waren sehr verschieden. Auch hatten wir mit verschiedenen Wirtschaftsbildungen zu tun, und da die jüdischen Wanderungen in erster Linie von der ökonomischen Entwicklung der Wirtsvölker anhingen, trugen sie in jedem einzelnen Falle einen besonderen Charakter, ja gerade in dieser Mannigfaltigkeit der Richtungen besteht das Gemeinsame und Bezeichnende der Periode.

Wir haben in der Einleitung schon erwähnt, was für eine große Bedeutung für die Lage der Einwanderer wie für den Verlauf der Wanderungen die wirtschaftliche Kultur des Einwanderungslandes hatte. In dieser Beziehung kann man die erste Periode in zwei Hälften einteilen.


Die erste Hälfte — zeitlich umfasst sie den Zeitraum von der Fortführung nach Babylonien bis zum Beginn des Mittelalters für den Westen und bis zum Ende der Periode für den Osten — kann dahin charakterisiert werden, dass alle Wanderungen die Richtung aus den Ländern mit niedrigerer in die Länder mit höherer Kultur hatten — oder wenigstens war die Kultur des Einwanderungslandes nicht niedriger als die des Auswanderungslandes. Das letztere war besonders der Fall bei der Wanderung aus Palästina nach Babylonien. Zwar kann man das damalige Palästina nicht als ein rückständiges Land bezeichnen, doch hatte es seine Glanzzeit schon hinter sich, und was die Macht und den Umfang des Handels wie den allgemeinen Wohlstand anbetrifft, konnte es mit Babylonien nicht verglichen werden. ,,Von Nebukadnezar bis auf die Mongoleninvasion ist die Hauptstadt Babyloniens ganz oder nahezu die größte Handelsstadt der Welt" (44).

Die Wanderungen der hellenistischen Zeit trugen schon einen mehr ausgeprägten Charakter: es war eine Flucht aus dem Lande, das seine ökonomische Bedeutung nach und nach verlor und dem ökonomischen Untergange zusteuerte, in die Länder, richtiger: Städte der höchsten wirtschaftlichen und geistigen Kultur. Denn höchst modern waren diese Städte: Alexandria, Antiochia, Rodos und wie sie alle hießen. ,,Die neugegründeten Städte werden systematisch angelegt und mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet und bilden mit ihrer dichten Bevölkerung von Kaufleuten und Handeltreibenden das Zentrum für ein großes Gebiet“ (45) .

Die Konkurrenz zwischen den Juden und der einheimischen Bevölkerung — hauptsächlich Griechen, später Römern — war hier schon bedeutend größer: denn auch die letzteren waren ausschließlich auf den Handel angewiesen. Ja, die Konkurrenz wurde an einigen Orten für die Juden verhängnisvoll: sie wurden hier ausgewiesen, dort ausgeplündert und einfach niedergemetzelt (Alexandria). Dies führte seinerseits zur weiteren Zerstreuung.

Mit dem Beginn des Mittelalters und der Einführung der Naturalwirtschaft fängt für den Westen die zweite Hälfte der jüdischen Wanderungen mit einer der ersten Hälfte entgegengesetzten Richtung an: aus den Orten der höchsten wirtschaftlichen Kultur, wo die Juden dank ihrem Handel große Vermögen erworben haben, wandern sie weiter nach Norden, wo sich langsam, aber sicher die Naturalwirtschaft entwickelt und wo Geld selten wird. Hier betrieben die Juden anfangs Luxus- und Warenhandel, nachher Geldgeschäfte. Es ist die Zeit, als der Osten eine selbständige wirtschaftliche Entwicklung nahm, während der Westen unter römisch-byzantinischer Herrschaft verblieb.

So haben sich die Juden im ausgehenden Altertum und später mit dem Anbruch des Mittelalters nicht nur innerhalb einer wirtschaftlichen Kultur zerstreut, sondern schon damals überall dort sich angesiedelt, wo nur das Wirtschaftsleben der Völker irgend welche Lücken aufwies.

Die Wanderungen des hohen Mittelalters bewegten sich alle aus den Orten der höheren Kultur in die der niedrigeren. Doch war hier diese Tendenz noch nicht so stark ausgeprägt. Meistens hat sich der Vorgang in der Weise abgespielt, dass die Juden nur ihre wirtschaftliche Betätigung wechselten (Warenhandel — Geldgeschäfte).

Diesem Charakter der Wanderungen entsprach die Bedeutung der Juden für die Einwanderungsländer. Während sie im Süden Europas fast gar keine Rolle spielten und in Kleinasien und Byzanz wohl entbehrlich waren, bedeuteten sie für den Norden Europas sehr viel: zuerst und hauptsächlich als Warenhändler, nachher als Geldleiher.

Mit der ersten Periode hört die Mannigfaltigkeit der Richtungen der jüdischen Bewegungen auf. Die nächsten zwei Perioden haben schon einen einheitlicheren, stark ausgeprägten Charakter. Es konzentrieren sich auch größere Massen jüdischer Wanderer an einigen Orten (Polen, Russland, Amerika), während das Resultat der ersten Periode die Zerstreuung der Juden auf der ganzen Erde gewesen war.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden