Die jüdischen Wanderungen im frühen und hohen Mittelalter bis zur Vertreibung aus Spanien und Portugal. (1492).
Es ist im Rahmen dieser Arbeit ganz unmöglich, all die Bewegungen der Juden im frühen und hohen Mittelalter zur Darstellung zu bringen. Es kann sich daher nur darum handeln, kurz die Tendenzen der Bewegungen zu erörtern.
Der Schauplatz, auf dem sich diese Bewegungen abspielten, war Europa, und zwar Europa nördlich der Alpen. Im Süden, d. h. in den nord- und mittelitalienischen Städten, die damals den Mittelpunkt des Welthandels bildeten und der jüdischen Händler nicht bedurften, finden wir eine sehr geringe jüdische Bevölkerung. Schon im Jahre 855 wurden die Juden aus dem Königreich vertrieben. Der italienische Kaufmannsstand ist am frühesten zu großer Macht und Blüte gelangt und beherrschte seinen Markt so vollständig, dass die Juden hier nichts mehr zu suchen hatten. Nur Venedig zählte (12. Jahrhundert) 1.300 Seelen.
Die Hauptmasse der Juden hielt sich in Spanien und Portugal auf und hatte keinen Anlass zu Wanderungen. Die Juden sind nach Spanien sicher noch zur Zeit der römischen Republik gekommen. Es waren zuerst Freie, die von der großen Fruchtbarkeit und dem Reichtum des Landes angezogen, sich dort niederließen. Später, infolge der Aufstände unter Vespasian. Titus und Hadrian, sind höchstwahrscheinlich auch jüdische Kriegsgefangene dorthin verpflanzt worden, die jedoch, wie fast überall, von den ansässigen Juden losgekauft wurden. Die Hauptbeschäftigung der Juden bildete Handel, Handwerk und Ackerbau. Zuerst war ihre Lage nicht schlecht und sie vertrugen sich mit der einheimischen Bevölkerung sehr gut. Später jedoch verschlechterte sich ihre Lage, infolge der Versuche der Westgoten, im Lande den Feudalismus einzuführen. Aber dies dauerte nicht lange, da im Jahre 711 die Araber — mit jüdischer Hilfe — Spanien eroberten. Diese Eroberung bedeutete den Anfang der Glanzperiode der jüdischen Geschichte. Doch können wir auf diese hier nicht näher eingehen. Wir werden zu den spanisch-portugiesischen Juden erst in dem Augenblicke zurückkehren, wo sie den Wanderstab ergriffen.
Syrien, Ägypten und Kleinasien wiesen keine besondere Bewegungen der Juden auf. Diese Länder standen damals wirtschaftlich auf einer sehr hohen Stufe; die Juden, die fast gleichmäßig in diesen Ländern zerstreut waren, beteiligten sich an Handel und Industrie, ohne von der einheimischen Bevölkerung als besondere Konkurrenten empfunden zu werden. Nur einmal fand in dieser Epoche eine verhältnismäßig bedeutende Auswanderung aus Byzanz statt. Sie war eine Folge des Bekehrungseifers Leos des Isauriers. Eine beträchtliche Zahl der Juden wanderte aus Byzanz aus (723), und zwar nach der Krim; hier ließen sie sich in den Küstenstädten des Schwarzen Meeres nieder, wo sie den unzivilisierten Völkern des Landes den Handel vermittelten. Von hier aus haben sie sich auch nach dem Kaukasus verbreitet.
Von viel größerer Bedeutung sind die jüdischen Wanderungen in dieser Zeit im Norden und Osten Europas. Die Richtungen und Wege dieser Wanderungen bestimmten sich ausschließlich durch die Tätigkeit der Juden als Handelsvermittler zwischen Nordeuropa und dem Orient (auch Indien). Sonst aber repräsentierten die Juden fast den ganzen damaligen Handel und wurden durch diese Tätigkeit zu Wanderungen gezwungen. Denn der Handel der damaligen Zeit — auch der größte — war fast ausschließlich ein Hausierhandel. Man hatte noch keine richtigen dauernden Handelsplätze, von denen man die gewünschten Waren jeder Zeit beziehen konnte; vielmehr musste der jüdische Kaufmann die Abnehmer seiner Waren selbst aufsuchen: so zog er, gut ausgerüstet, mit seinen Waren umher. Die hauptsächlichsten Handelsartikel waren damals diejenigen, die in Europa selten waren und das Leben auf verschiedene Weise angenehm machten: Zimt, Pfeffer, Ebenholz, Elfenbein, Edelsteine, Indigo, chinesische Seife, Seidenwaren, Edelmetallwaren — alles Dinge, die nur im Orient und in Indien zu haben waren.
Am deutlichsten treten uns diese Handelstätigkeit und Handelswanderungen der Juden in der Zeit Karls des Großen entgegen. Karl d. Große war immer und eifrig bemüht, den Handel in seinem Reiche zu heben; jedoch verfügte die einheimische Bevölkerung nicht über genügendes Kapital und die entsprechenden Fähigkeiten. Darum bevorzugte Karl d. Gr. so sehr die Juden, die, in der damaligen Gesellschaft die Lücke des Kaufmannsstandes ausfüllend, einfach unentbehrlich waren. Die Handelstätigkeit der Juden veranlasste fast überall im Reiche jüdische Niederlassungen; denn überall musste der Kaufmann Freunde haben, die ihn aufnehmen konnten, ihm Auskunft erteilten u. dergl. mehr. ,,Der Welthandel, den Karl der Große angebahnt hatte, und den die Räte Ludwigs zur Blüte bringen wollten, war größtenteils in den Händen der Juden, weil sie leichter mit ihren Glaubensgenossen anderer Länder in Verbindung treten konnten, und sie weder durch die Fessel des Ritterdienstes und Wehrstandes, noch durch die Gebundenheit der Leibeigenschaft daran verhindert waren und gewissermaßen den Bürgerstand bildeten" . . . Es war ,,für die Juden ein goldenes Zeitalter, wie sie es in Europa weder vorher noch später bis in die neuere Zeit erlebt haben" (36).
Neben dem Handel mit den Schätzen des Orients führte der Sklavenhandel — der zweitgrößte Artikel der jüdischen Händler im Mittelalter — sie nach dem Osten Europas. ,,Im Frankenlande, wo nach dem Siege des Christentums die eigentliche Sklaverei verschwand und aus dem servus der serf wurde, der Leibeigene, der in der Regel nur mit seinem Landbesitz verkauft werden konnte, war wenig Gelegenheit zum Sklavenkauf. So waren denn die jüdischen Handelsleute genötigt, weit gegen Osten nach den Slawenländern zu reisen, wo sie auf Halbbarbaren stießen" (37) . Doch führten diese Reisen zu keinen großen und dauernden Niederlassungen der Juden im Osten. Denn abgesehen davon, dass der Charakter des Handelsartikels es nicht direkt erforderte, verfuhren schon damals die slawischen Herrscher nicht gerade menschenfreundlich und mild mit den Juden; außerdem waren sie selbst gute Kaufleute. Nur in Polen, wo die Juden noch mit Salz und Pelz handelten, bildeten sie größere Gemeinden. Zwar gerieten sie später in eine erbitterte Konkurrenz mit deutschen Kolonisten, die sie zum Teil zur Auswanderung nötigte, doch können diese ersten Niederlassungen als Keime der späteren großen jüdischen Gemeinden Polens gelten.
Das goldene Zeitalter des jüdischen Großhandels dauerte jedoch nicht lange. Mit den Kreuzzügen fängt seine Konkurrenz mit dem inzwischen herangereiften Kaufmannsstande an, und am Ende des 12. Jahrhunderts ist der jüdische Warenhandel fast vernichtet.
An Stelle des Warenhandels ist das Geld- und Wechselgeschäft getreten.
Das Aufblühen der Städte, wo sich die christlichen Handelsleute nunmehr meist in monopolistischen Kaufmannsgilden organisierten, hat den jüdischen Händler überflüssig gemacht. Er ist nicht mehr der einzige Besitzer der begehrten orientalischen Waren, sondern ein lästiger Konkurrent, den man je schneller desto besser sich vom Halse schaffen muss. Dazu kam noch die Konkurrenz der italienischen Kaufleute. Die Kreuzzüge haben Nord- und Südeuropa näher zu einander gebracht. Waren doch die Italiener damals die bedeutendsten Seefahrer, auf deren Schiffen die Kreuzfahrer übers Meer transportiert wurden; durch dieselben Kreuzfahrer hat sich ein regelrechter Verkehr zwischen Italien und seinem Hinterlande gebildet. Italiener fingen an, in Deutschland Handelsniederlassungen zu gründen, und verdrängten nach und nach den jüdischen Kaufmann.
Treffend sagt über diese Konkurrenz und die ihr entsprungenen Verfolgungen Wilhelm Röscher: „Jahrhunderte lang sind die Juden gleichsam die kaufmännischen Vormünder der neueren Völker gewesen, zum Nutzen der letzteren selbst und nicht ohne Anerkennung dieses Nutzens. Aber jede Vormundschaft wird lästig, wenn sie länger dauern will, als die Unreife des Mündels; und ganze Völker emanzipieren sich, wie die Menschen nun einmal zu sein pflegen, nur unter Kämpfen von der Bevormundung durch andere Völker. Die Judenverfolgungen unseres späteren Mittelalters sind zum großen Teil ein Produkt der Handelseifersucht. Sie hängen zusammen mit dem ersten Aufblühen des nationalen Handelsstandes." „Man könnte sagen, die Judenpolitik verhält sich im Mittelalter fast umgekehrt, wie die sonstige wirtschaftliche Kultur" (39).
Die Judenverfolgungen dieser Zeit haben einen guten Teil der damaligen Juden vernichtet, der übrig gebliebene Teil hat sich auf Geldgeschäfte und später Wucher verlegt. Dies war nicht nur ein Ausfluss der jüdischen Eigenart, die für Geldgeschäfte und alles, was damit zusammenhängt, besonders prädestiniert ist, sondern geschah vor allem deshalb, weil das Geldgeschäft der einzige Weg war, der dem jüdischen Kaufmann noch offen stand. ,,Die Tatsache ist begreiflich", sagt Roscher (40): „einerseits wird ein solcher Geldhandel regelmäßig noch später reif, als der Warenhandel, zumal auch, weil er der internationalen Verbindung noch mehr bedarf; sodann aber auch, weil alle hochentwickelten Handelsvölker, wenn sie im Warenhandel von jüngeren Rivalen überflügelt zu werden anfangen, sich mit ihren großen Kapitalien in den Geldhandel zurückzuziehen pflegen."
Die veränderten wirtschaftlichen Zustände haben ihrerseits auf die Richtungen der jüdischen Wanderungen mächtig eingewirkt. Die Juden gehörten um diese Zeit zu den größten Steuerzahlern, und man bemühte sich, sie innerhalb der Grenzen des eigenen Staates zu behalten — eine Politik, die freilich nur die Landesherren treiben konnten. Die Freiheit der jüdischen Wanderungen hörte mithin zum größten Teil auf, man fing an, die Juden an gewisse Orte zu fesseln, wo sie infolge des kanonischen Verbotes die einzigen waren, die Zinsdarlehen gewähren durften, und wo man sie nach einer gewissen Spanne Zeit auf verschiedene Weise ausbeutete.
Besonders interessant sind die Bewegungen der Juden in England. Hier betrieben sie hauptsächlich Geldgeschäfte. Da das Bedürfnis aber in allen Teilen des Landes ein ziemlich starkes war, so mussten die Juden überall vertreten sein: „denn um geringe Summen auf kurze Zeit zu entleihen, hätte den Geldnehmern eine weite Reise nicht gelohnt" (41). Hier führte mithin das Geldgeschäft die Verbreitung der Juden über das ganze Land herbei, während in Deutschland, wo es eine Menge kleiner Herren gab, die alle das jüdische Geld nötig hatten, die Juden an bestimmte Orte — Sitze der Landesherren — gebunden blieben.
Es ist nun begreiflich, dass die Juden, im Bewusstsein, jeden Augenblick ihrer Schuldscheine oder auch des baren Geldes beraubt werden zu können, sich ganz ungeheure Zinsen zahlen ließen. Jedoch waren nicht alle Juden im Stande, solch große und riskante Geschäfte zu führen, und sie wurden mithin — besonders dort, wo sie etwas zahlreicher waren — ärmer und ärmer, obwohl Einige zu ganz großem Reichtum gelangten. Wie reich die Juden z. B. in England waren, zeigt ein kleines Verzeichnis der jüdischen „Strafen", das Schipper (42) zusammengestellt hat: ,,1140 trieb König Stephan von den Juden Londons eine Geldstrafe von 2.000 Pfund ein. — Derselbe König erpresste bei einer anderen Gelegenheit von seinen Juden 300 , „Exchange of money". — 1168 vertrieb Heinrich I. die reicheren Juden aus England. Sie blieben solange in der Verbannung, bis ihre Stammesgenossen 5.000 Mark bezahlten. — 1187 nahm Heinrich II. den vierten Teil jüdischer Güter auf dem Wege der willkürlichen Geldauflage (tallagium) weg. — 1187 zog Heinrich II. die immensen Güter Aarons von Lincoln ein. Die Schätze Aarons führte einst der König auf einer Fahrt nach der Normandie mit sich. Dabei gingen einige Schiffe unter, auf welchen ein Teil der Schätze Aarons geladen war. — 1188 zahlen die Juden dem Könige Heinrich II. eine Kreuzzugsteuer von 60.000 Pfund. — 1194 bezog Richard Löwenherz von den Juden ein Tallagium von 2000 Mark. — 1200 ließ sich Johann ohne Land von den Juden 4.000 Mark zahlen.
Geldstrafen und „Geschenke" einzelner Juden an den König: 1185 zahlte Jurnet Judaeus de Norvico dem König 2.000 Mark. — Bald darauf verfiel er in eine neue ,,miseria" und wurde von derselben für 6000 Mark erlöst. — 1185 zahlte Brunus Judaeus eine Strafe von 3.000 Mark. — 1189 verfiel Brunus in eine neue Strafe von 2000 Mark. — 1185 zahlte Benediktus Judaeus eine Geldbuße von 500 Pfund. — Der Jude Jurnet aus Norwich zahlte für die Erlaubnis, in England wohnen zu dürfen, 1.800 Mark." Die schweren Abgaben der Juden bildeten — den jährlichen Durchschnitt genommen — etwa den dreizehnten Teil des Einkommens der englischen Könige (60 — 70 Millionen Mark heutiger Währung). Dabei betrug die Zahl der englischen Juden nicht mehr als 15 — 16.000 Seelen, ja eben darum konnten sie so reich werden, während sie in Deutschland viel ärmer waren.
Schließlich wurden die Juden aus England vertrieben (1290). So ging es ihnen überall: zuerst geduldet und in ihrem Geschäfte sogar begünstigt, verbannte man sie, sobald sie ihre „Mission", die Fürsten zu bereichern, erfüllt hatten.
Nun gab es aber damals nicht viele Länder, wohin die Juden einwandern konnten. Denn der Osten Europas lag noch in allzu primitiven Zuständen, als dass er eine größere Masse von Juden hätte aufnehmen können, zumal die deutschen Kolonisten, die gerade in dieser Zeit sich in Polen festsetzten, eine heftige Agitation gegen die jüdische Einwanderung in Szene setzten, die auch zu gewalttätigen Judenverfolgungen führte (43). Byzanz war von den Türken noch nicht erobert, und die Türkei kam somit als Einwanderungsland für die Juden noch nicht in Betracht. In Spanien fingen ebenso die Judenverfolgungen an. Somit aber bewegten sich die jüdischen Wanderungen des 13. und 14. Jahrhunderts — also am Ende des Mittelalters — in einem geschlossenen Kreis: als Händler unterlagen die Juden im Konkurrenzkampfe mit dem nationalen Kaufmannsstande und mussten das Feld räumen; ein Teil von ihnen verlegte sich auf Geldgeschäfte, der andere Teil wanderte dorthin, wo der Warenhandel noch frei war. Solche Länder waren: anfangs England, wohin vornehmlich die französischen Juden auswanderten; in ganz geringem Maße der Osten Europas, in den die deutschen Juden eindrangen.
Im großen und ganzen aber gehört diese Epoche zu den traurigsten Zeiten der jüdischen Geschichte.
Der Schauplatz, auf dem sich diese Bewegungen abspielten, war Europa, und zwar Europa nördlich der Alpen. Im Süden, d. h. in den nord- und mittelitalienischen Städten, die damals den Mittelpunkt des Welthandels bildeten und der jüdischen Händler nicht bedurften, finden wir eine sehr geringe jüdische Bevölkerung. Schon im Jahre 855 wurden die Juden aus dem Königreich vertrieben. Der italienische Kaufmannsstand ist am frühesten zu großer Macht und Blüte gelangt und beherrschte seinen Markt so vollständig, dass die Juden hier nichts mehr zu suchen hatten. Nur Venedig zählte (12. Jahrhundert) 1.300 Seelen.
Die Hauptmasse der Juden hielt sich in Spanien und Portugal auf und hatte keinen Anlass zu Wanderungen. Die Juden sind nach Spanien sicher noch zur Zeit der römischen Republik gekommen. Es waren zuerst Freie, die von der großen Fruchtbarkeit und dem Reichtum des Landes angezogen, sich dort niederließen. Später, infolge der Aufstände unter Vespasian. Titus und Hadrian, sind höchstwahrscheinlich auch jüdische Kriegsgefangene dorthin verpflanzt worden, die jedoch, wie fast überall, von den ansässigen Juden losgekauft wurden. Die Hauptbeschäftigung der Juden bildete Handel, Handwerk und Ackerbau. Zuerst war ihre Lage nicht schlecht und sie vertrugen sich mit der einheimischen Bevölkerung sehr gut. Später jedoch verschlechterte sich ihre Lage, infolge der Versuche der Westgoten, im Lande den Feudalismus einzuführen. Aber dies dauerte nicht lange, da im Jahre 711 die Araber — mit jüdischer Hilfe — Spanien eroberten. Diese Eroberung bedeutete den Anfang der Glanzperiode der jüdischen Geschichte. Doch können wir auf diese hier nicht näher eingehen. Wir werden zu den spanisch-portugiesischen Juden erst in dem Augenblicke zurückkehren, wo sie den Wanderstab ergriffen.
Syrien, Ägypten und Kleinasien wiesen keine besondere Bewegungen der Juden auf. Diese Länder standen damals wirtschaftlich auf einer sehr hohen Stufe; die Juden, die fast gleichmäßig in diesen Ländern zerstreut waren, beteiligten sich an Handel und Industrie, ohne von der einheimischen Bevölkerung als besondere Konkurrenten empfunden zu werden. Nur einmal fand in dieser Epoche eine verhältnismäßig bedeutende Auswanderung aus Byzanz statt. Sie war eine Folge des Bekehrungseifers Leos des Isauriers. Eine beträchtliche Zahl der Juden wanderte aus Byzanz aus (723), und zwar nach der Krim; hier ließen sie sich in den Küstenstädten des Schwarzen Meeres nieder, wo sie den unzivilisierten Völkern des Landes den Handel vermittelten. Von hier aus haben sie sich auch nach dem Kaukasus verbreitet.
Von viel größerer Bedeutung sind die jüdischen Wanderungen in dieser Zeit im Norden und Osten Europas. Die Richtungen und Wege dieser Wanderungen bestimmten sich ausschließlich durch die Tätigkeit der Juden als Handelsvermittler zwischen Nordeuropa und dem Orient (auch Indien). Sonst aber repräsentierten die Juden fast den ganzen damaligen Handel und wurden durch diese Tätigkeit zu Wanderungen gezwungen. Denn der Handel der damaligen Zeit — auch der größte — war fast ausschließlich ein Hausierhandel. Man hatte noch keine richtigen dauernden Handelsplätze, von denen man die gewünschten Waren jeder Zeit beziehen konnte; vielmehr musste der jüdische Kaufmann die Abnehmer seiner Waren selbst aufsuchen: so zog er, gut ausgerüstet, mit seinen Waren umher. Die hauptsächlichsten Handelsartikel waren damals diejenigen, die in Europa selten waren und das Leben auf verschiedene Weise angenehm machten: Zimt, Pfeffer, Ebenholz, Elfenbein, Edelsteine, Indigo, chinesische Seife, Seidenwaren, Edelmetallwaren — alles Dinge, die nur im Orient und in Indien zu haben waren.
Am deutlichsten treten uns diese Handelstätigkeit und Handelswanderungen der Juden in der Zeit Karls des Großen entgegen. Karl d. Große war immer und eifrig bemüht, den Handel in seinem Reiche zu heben; jedoch verfügte die einheimische Bevölkerung nicht über genügendes Kapital und die entsprechenden Fähigkeiten. Darum bevorzugte Karl d. Gr. so sehr die Juden, die, in der damaligen Gesellschaft die Lücke des Kaufmannsstandes ausfüllend, einfach unentbehrlich waren. Die Handelstätigkeit der Juden veranlasste fast überall im Reiche jüdische Niederlassungen; denn überall musste der Kaufmann Freunde haben, die ihn aufnehmen konnten, ihm Auskunft erteilten u. dergl. mehr. ,,Der Welthandel, den Karl der Große angebahnt hatte, und den die Räte Ludwigs zur Blüte bringen wollten, war größtenteils in den Händen der Juden, weil sie leichter mit ihren Glaubensgenossen anderer Länder in Verbindung treten konnten, und sie weder durch die Fessel des Ritterdienstes und Wehrstandes, noch durch die Gebundenheit der Leibeigenschaft daran verhindert waren und gewissermaßen den Bürgerstand bildeten" . . . Es war ,,für die Juden ein goldenes Zeitalter, wie sie es in Europa weder vorher noch später bis in die neuere Zeit erlebt haben" (36).
Neben dem Handel mit den Schätzen des Orients führte der Sklavenhandel — der zweitgrößte Artikel der jüdischen Händler im Mittelalter — sie nach dem Osten Europas. ,,Im Frankenlande, wo nach dem Siege des Christentums die eigentliche Sklaverei verschwand und aus dem servus der serf wurde, der Leibeigene, der in der Regel nur mit seinem Landbesitz verkauft werden konnte, war wenig Gelegenheit zum Sklavenkauf. So waren denn die jüdischen Handelsleute genötigt, weit gegen Osten nach den Slawenländern zu reisen, wo sie auf Halbbarbaren stießen" (37) . Doch führten diese Reisen zu keinen großen und dauernden Niederlassungen der Juden im Osten. Denn abgesehen davon, dass der Charakter des Handelsartikels es nicht direkt erforderte, verfuhren schon damals die slawischen Herrscher nicht gerade menschenfreundlich und mild mit den Juden; außerdem waren sie selbst gute Kaufleute. Nur in Polen, wo die Juden noch mit Salz und Pelz handelten, bildeten sie größere Gemeinden. Zwar gerieten sie später in eine erbitterte Konkurrenz mit deutschen Kolonisten, die sie zum Teil zur Auswanderung nötigte, doch können diese ersten Niederlassungen als Keime der späteren großen jüdischen Gemeinden Polens gelten.
Das goldene Zeitalter des jüdischen Großhandels dauerte jedoch nicht lange. Mit den Kreuzzügen fängt seine Konkurrenz mit dem inzwischen herangereiften Kaufmannsstande an, und am Ende des 12. Jahrhunderts ist der jüdische Warenhandel fast vernichtet.
An Stelle des Warenhandels ist das Geld- und Wechselgeschäft getreten.
Das Aufblühen der Städte, wo sich die christlichen Handelsleute nunmehr meist in monopolistischen Kaufmannsgilden organisierten, hat den jüdischen Händler überflüssig gemacht. Er ist nicht mehr der einzige Besitzer der begehrten orientalischen Waren, sondern ein lästiger Konkurrent, den man je schneller desto besser sich vom Halse schaffen muss. Dazu kam noch die Konkurrenz der italienischen Kaufleute. Die Kreuzzüge haben Nord- und Südeuropa näher zu einander gebracht. Waren doch die Italiener damals die bedeutendsten Seefahrer, auf deren Schiffen die Kreuzfahrer übers Meer transportiert wurden; durch dieselben Kreuzfahrer hat sich ein regelrechter Verkehr zwischen Italien und seinem Hinterlande gebildet. Italiener fingen an, in Deutschland Handelsniederlassungen zu gründen, und verdrängten nach und nach den jüdischen Kaufmann.
Treffend sagt über diese Konkurrenz und die ihr entsprungenen Verfolgungen Wilhelm Röscher: „Jahrhunderte lang sind die Juden gleichsam die kaufmännischen Vormünder der neueren Völker gewesen, zum Nutzen der letzteren selbst und nicht ohne Anerkennung dieses Nutzens. Aber jede Vormundschaft wird lästig, wenn sie länger dauern will, als die Unreife des Mündels; und ganze Völker emanzipieren sich, wie die Menschen nun einmal zu sein pflegen, nur unter Kämpfen von der Bevormundung durch andere Völker. Die Judenverfolgungen unseres späteren Mittelalters sind zum großen Teil ein Produkt der Handelseifersucht. Sie hängen zusammen mit dem ersten Aufblühen des nationalen Handelsstandes." „Man könnte sagen, die Judenpolitik verhält sich im Mittelalter fast umgekehrt, wie die sonstige wirtschaftliche Kultur" (39).
Die Judenverfolgungen dieser Zeit haben einen guten Teil der damaligen Juden vernichtet, der übrig gebliebene Teil hat sich auf Geldgeschäfte und später Wucher verlegt. Dies war nicht nur ein Ausfluss der jüdischen Eigenart, die für Geldgeschäfte und alles, was damit zusammenhängt, besonders prädestiniert ist, sondern geschah vor allem deshalb, weil das Geldgeschäft der einzige Weg war, der dem jüdischen Kaufmann noch offen stand. ,,Die Tatsache ist begreiflich", sagt Roscher (40): „einerseits wird ein solcher Geldhandel regelmäßig noch später reif, als der Warenhandel, zumal auch, weil er der internationalen Verbindung noch mehr bedarf; sodann aber auch, weil alle hochentwickelten Handelsvölker, wenn sie im Warenhandel von jüngeren Rivalen überflügelt zu werden anfangen, sich mit ihren großen Kapitalien in den Geldhandel zurückzuziehen pflegen."
Die veränderten wirtschaftlichen Zustände haben ihrerseits auf die Richtungen der jüdischen Wanderungen mächtig eingewirkt. Die Juden gehörten um diese Zeit zu den größten Steuerzahlern, und man bemühte sich, sie innerhalb der Grenzen des eigenen Staates zu behalten — eine Politik, die freilich nur die Landesherren treiben konnten. Die Freiheit der jüdischen Wanderungen hörte mithin zum größten Teil auf, man fing an, die Juden an gewisse Orte zu fesseln, wo sie infolge des kanonischen Verbotes die einzigen waren, die Zinsdarlehen gewähren durften, und wo man sie nach einer gewissen Spanne Zeit auf verschiedene Weise ausbeutete.
Besonders interessant sind die Bewegungen der Juden in England. Hier betrieben sie hauptsächlich Geldgeschäfte. Da das Bedürfnis aber in allen Teilen des Landes ein ziemlich starkes war, so mussten die Juden überall vertreten sein: „denn um geringe Summen auf kurze Zeit zu entleihen, hätte den Geldnehmern eine weite Reise nicht gelohnt" (41). Hier führte mithin das Geldgeschäft die Verbreitung der Juden über das ganze Land herbei, während in Deutschland, wo es eine Menge kleiner Herren gab, die alle das jüdische Geld nötig hatten, die Juden an bestimmte Orte — Sitze der Landesherren — gebunden blieben.
Es ist nun begreiflich, dass die Juden, im Bewusstsein, jeden Augenblick ihrer Schuldscheine oder auch des baren Geldes beraubt werden zu können, sich ganz ungeheure Zinsen zahlen ließen. Jedoch waren nicht alle Juden im Stande, solch große und riskante Geschäfte zu führen, und sie wurden mithin — besonders dort, wo sie etwas zahlreicher waren — ärmer und ärmer, obwohl Einige zu ganz großem Reichtum gelangten. Wie reich die Juden z. B. in England waren, zeigt ein kleines Verzeichnis der jüdischen „Strafen", das Schipper (42) zusammengestellt hat: ,,1140 trieb König Stephan von den Juden Londons eine Geldstrafe von 2.000 Pfund ein. — Derselbe König erpresste bei einer anderen Gelegenheit von seinen Juden 300 , „Exchange of money". — 1168 vertrieb Heinrich I. die reicheren Juden aus England. Sie blieben solange in der Verbannung, bis ihre Stammesgenossen 5.000 Mark bezahlten. — 1187 nahm Heinrich II. den vierten Teil jüdischer Güter auf dem Wege der willkürlichen Geldauflage (tallagium) weg. — 1187 zog Heinrich II. die immensen Güter Aarons von Lincoln ein. Die Schätze Aarons führte einst der König auf einer Fahrt nach der Normandie mit sich. Dabei gingen einige Schiffe unter, auf welchen ein Teil der Schätze Aarons geladen war. — 1188 zahlen die Juden dem Könige Heinrich II. eine Kreuzzugsteuer von 60.000 Pfund. — 1194 bezog Richard Löwenherz von den Juden ein Tallagium von 2000 Mark. — 1200 ließ sich Johann ohne Land von den Juden 4.000 Mark zahlen.
Geldstrafen und „Geschenke" einzelner Juden an den König: 1185 zahlte Jurnet Judaeus de Norvico dem König 2.000 Mark. — Bald darauf verfiel er in eine neue ,,miseria" und wurde von derselben für 6000 Mark erlöst. — 1185 zahlte Brunus Judaeus eine Strafe von 3.000 Mark. — 1189 verfiel Brunus in eine neue Strafe von 2000 Mark. — 1185 zahlte Benediktus Judaeus eine Geldbuße von 500 Pfund. — Der Jude Jurnet aus Norwich zahlte für die Erlaubnis, in England wohnen zu dürfen, 1.800 Mark." Die schweren Abgaben der Juden bildeten — den jährlichen Durchschnitt genommen — etwa den dreizehnten Teil des Einkommens der englischen Könige (60 — 70 Millionen Mark heutiger Währung). Dabei betrug die Zahl der englischen Juden nicht mehr als 15 — 16.000 Seelen, ja eben darum konnten sie so reich werden, während sie in Deutschland viel ärmer waren.
Schließlich wurden die Juden aus England vertrieben (1290). So ging es ihnen überall: zuerst geduldet und in ihrem Geschäfte sogar begünstigt, verbannte man sie, sobald sie ihre „Mission", die Fürsten zu bereichern, erfüllt hatten.
Nun gab es aber damals nicht viele Länder, wohin die Juden einwandern konnten. Denn der Osten Europas lag noch in allzu primitiven Zuständen, als dass er eine größere Masse von Juden hätte aufnehmen können, zumal die deutschen Kolonisten, die gerade in dieser Zeit sich in Polen festsetzten, eine heftige Agitation gegen die jüdische Einwanderung in Szene setzten, die auch zu gewalttätigen Judenverfolgungen führte (43). Byzanz war von den Türken noch nicht erobert, und die Türkei kam somit als Einwanderungsland für die Juden noch nicht in Betracht. In Spanien fingen ebenso die Judenverfolgungen an. Somit aber bewegten sich die jüdischen Wanderungen des 13. und 14. Jahrhunderts — also am Ende des Mittelalters — in einem geschlossenen Kreis: als Händler unterlagen die Juden im Konkurrenzkampfe mit dem nationalen Kaufmannsstande und mussten das Feld räumen; ein Teil von ihnen verlegte sich auf Geldgeschäfte, der andere Teil wanderte dorthin, wo der Warenhandel noch frei war. Solche Länder waren: anfangs England, wohin vornehmlich die französischen Juden auswanderten; in ganz geringem Maße der Osten Europas, in den die deutschen Juden eindrangen.
Im großen und ganzen aber gehört diese Epoche zu den traurigsten Zeiten der jüdischen Geschichte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden