Abschnitt. 3

Auf die geschichtlichen und Geschlechtssagen haben hie Bodenverhältnisse nun zwar nicht einen so unbedingten Einfluß; hier hat sich Preußen aber eben so wenig einer besondern Begünstigung zu erfreuen. Es ist nämlich im eigentlichen Preußen kein Volk, vielleicht kein Geschlecht mehr vorhanden, was eine Erinnerung an die Urzeit des Landes hätte bewahren können. Mit den Urbewohnern mußte auch ihre Geschichte, in soweit sie in der Tradition lebte, untergehn; nur das, was die Einzöglinge schon aufgenommen und selbst überlieferten, aber natürlich nach ihrer eigenen Individualität umgestaltet, und was gewiß nur einen geringen Teil des, wenn man nach dem Gebliebenen schließt, einst großen Reichthums ausmacht, ward aufbewahrt. Aber für den so erlittenen Verlust entschädigte kein neuer Erwerb. Denn da die Volkssage am Boden haftet, so kann sie nicht gleich einer fahrenden Habe mitgeführt werden. Sie gehört zu den unbeweglichen Besitzthümern eines Volkes. Die Erinnerungen aus der Heimath, an die Geschlechtsgenossen mußten in der Fremde verlöschen.

,,Es bleibt überhaupt“, sagt Grimm (deutsche Sagen Th. II. S. IX.) bei der Frage, auf welchem Boden die epische Poesie eines Volkes gedeihe und fortlebe, von Gewicht, daß sie sich in urdeutschen Geschlechtsfolgen am liebsten zeigte hingegen auszugehen und zu verkommen pflegt, du wo Unterbrechungen und Vermischungen mit fremden Völkern, selbst mit andern deutschen Stämmen vorgegangen sind. Dies ist der Grund, warum die in Deutschland eingezogenen und allmählig deutsch gewordenen slavischen Stämme keine Geschlechtssagen aufzuweisen haben, ja auch an örtlichen gegen die ursprünglichen Länder entblößt dastehn. Die Wurzeln greifen in das ungewohnte Erdreich nicht gern ein, ihrem Keime und Blättern schlägt die fremde Luft nimmer an.“


In dem eigentlichen Preußen gestalteten sich die Verhältnisse noch ungünstiger, wie in den ehemals slavischen Ländern. Denn in den letzteren blieb doch, mehr oder minder, der Stamm des Lebens, wie er im Ablauf der Zeiten im Geiste Wurzel geschlagen und in seinen Verästungen sich fortgebildet hatte, auch für die Zukunft stehen, und ihm ward Germanismus und Christenthum nur als eine geistige Veredlung aufgepfropft, so daß die frische Jugendkraft, welche in dem, Stamm lebte, noch dazu diente, das veredelte Reis zur Blüthe und Frucht heranreifen zu lassen; in Preußen aber ward der alte Baum ganz ausgerissen und an seine Stelle ein neuer Pflänzling gesetzt, der nun selbst erst Wurzel schlagen und sich unmittelbar aus dem Boden sein Mark hinaufziehen mußte, so daß er um so später zur Blüthe und Frucht zu gelangen vermochte.

Wie wahr die obige Bemerkung sei, zeigt sich am deutlichsten, wenn wir das eigentliche Preußen (Ostpreußen) mit den beiden zugehörigen Nachbarländern Litthauen und Westpreußen vergleichen. Im ersten ist vom Urvolke nichts geblieben, darum fehlen auch alle Erinnerungen an die vorchristliche und vordeutsche Zeit ganz; was sich an Sagen erhalten hat, ist entweder neuer oder schon zu einer Zeit, die jenem Untergange voranging, aufgezeichnet. In Litthauen treffen wir wenigstens Spuren der Urbewohner; noch ist ihre Sprache nicht ganz verklungen, so ist denn auch noch nicht jede Ueberlieferung aus der Vorzeit erloschen obgleich der gebliebene Urstamm wenig Anlage und Neigung für geschichtlich-epische Poesie zeigt, und nur das leichte, tändelnde Lied ihn anspricht. Am reichsten hat diese sich aber in Westpreußen erhalten; denn hier bildet, wenigstens in einzelnen Theilen, das slavische Urvolk noch den fast unvermischten Volksstamm. Darum fehlt es hier nicht an mancherlei Stimmen, die an die frühste Vergangenheit mahnen. Aber der Slave hat, eben so wie der Litthauner, wenig Anlage und Weisung für geschichtlich-epische Poesie, und darum ist auch hier die Ausbeute ziemlich dürftig.

So nachtheilig nun auch die vorstehend berührten Verhältnisse gewirkt haben, so ist doch nicht zu läugnen, daß die Geschichte Preußens im Mittelalter ein höchst eigenthümliches Gepräge an sich trägt. Einen geistlichen Kriegerstaat der Art finden wir sonst nirgends; der Kampf, wie e hier zur Verherrlichung und Ausbreitung der Kirche fast zwei Jahrhunderte hindurch gekämpft ward, hat nie etwas Geiches gehabt; nirgends begegnet man so vielen Beispielen von dem glühendsten, alles opfernden Glaubenseifer. Auf die Gestaltung der Volkssage konnte dies nicht ohne Einfluß bleiben. Wie der rothe Faden, zieht sich durch sie die Glaubenssache hindurch; überall treten die Beziehhungen auf die Religion, auf den zu ihrer und der Schutzpatronin des Ordens geführten Streit hervor.

Aus allem bisher Entwickelten lassen sich nun die Eigenthümlichkeiten der preußischen Volkssagen herleiten. Meistns beziehen sie sich auf die Einführung des Christenthums und den Kampf bei der Eroberung des Landes durch den deutschen Orden, gehören daher in die Klasse der Legenden; die Ortssagen knüpfen sich großentheils an Naturereignisse und Naturspiele, und wie beide Gattungen überhaupt nicht sehr mannigfaltig sein können, sind auch die einzelnen, denen wir begegnen, ziemlich einförmig; Geschlechtssagen sind fast gar nicht vorhanden, sagenhafte Geschichte nur so weit, als sie von den ersten christlichen Berichterstattern überliefert ist. Unter den Bewohnern stelbst erhielten sich bis zur Zeit des Aufblühens der Wissenschaften in Preußen, d. h. bis zur Secularisation des Landes und der Stiftung der Universität Königsberg, aus der Urzeit her fast nur einzelne abergläubische Meinungen.

Hiernach zertheilen sich die Sagen in folgende Klassen:
A. Historische. Charakteristisch ist ihnen, haß sie sich an eine bestimmte Localität entweder gar nicht knüpfen oder solche doch völlig außerwesentlich ist. Sie sind theits vorchristlich und zerfallen dann in die Ueberlieferungen aus der Geschichte der Urzeit und in die einzelnen abergläubischen Meinugen, die aus dem Heidenthum herübergewuchert sind; theils christliche älterer Zeit, wo sie dann sich entweder auf die Einführung des Christenthums und die Eroberung des Landes, oder auf spätere Heilige und einzelne Wunderzeichen, oder endlich auf den deutschen Orden und dessen Kämpfe mit den Nachbarvölkern beziehn; ferner solche, die späterer Zeit angehören, zuletzt Geschlechtssagen.