Abschnitt. 2

Von dem Volksliede unterscheidet sich die Sage niccht sowohl dadurch, daß jenes lyrischer, diese epischer Natur ist, denn auch das Volkslied hat einen epischen Zweig: die Ballade; sondern, daß die Sage sich beständig als einen Theil der Geschichte betrachtet wissen will, das Volkslied dagegen sich bewußt ist, ganz der Welt der Dichtung anzugehören. Jene ist objectiv; sie haftet immer an einer bestimmten Localität, einem durch die Geschichte gesicherten Ramen; das Faktische, wenigstens das, was sie dafür hält, ist ihr so sehr Hauptsache, daß sie, wenn es ihr genommen wird, alle Bedeutung verliert. Das Volkslied ist subjectiv; es ist selbstständig und hat seinen Werth in sich, es bedarf keiner örtlichen und persönlichen Beziehungen; für die politische Geschichte der Nation ist es daher auch ohne allen Werth. Denn wir sehen, wie die Volkslieder von einem Volksstamme zu anderen, selbst über Meere und Gebiete ziehen, so daß es zuletzt unmöglich wird, ihr ursprüngliches Vaterland auszumitteln. So können sich Deutschland (des Knaben Wunderhorn Th. II. S. 19), Schottland (Percy Reliques Vol. III. p. 127) und Schweden (vergl. Geijer in der Einleitung zu seiner und Afzelius Sammlung schwedischer Volkslieder) um die Ehre streiten, die erste Heimath jener durch Bürgers Leonore so berühmt gewordenen Dichtung zu sein. Die schaudervolle altschottische Ballade: Edward und seine Mutter (Percy Reliq. I. p. 59) finden wir in Schweden (der Knabe im Rosenhain bei: Geijer und Afzelius Svenska Folk-Visor III. 3-4) und in Finnland (der blutige Sohn, in Schröters finnischen Runen S. 124) wieder. Dieser Uebereinstimmung, die sich noch mit unzähligen Beispielen belegen ließe und die sich selbst bis auf kleine Nuancen erstreckt, begegnet man nicht nur bei verwandten, sondern selbst völlig fremden, so den germanischen und slavischen Volksstämmen. Es vergleicht Swoboda (Königshofer Handschrift S. 36) daher auch treffend die slavischen Volkslieder mit freundlichen Tauben, die von Einem Stamme zu andern Brüderstämmen flogen.

Anders ist es mit der Sage; sie ist stets an den Boden gefesselt. „Aus dieser ihrer Gebundenheit“ sagt Grimm (deutsche Sagen Th. I. S. 7) „folgt, daß sie nicht gleich dem Mährchen überall zu Hause sein könne, sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche sie bald gar nicht da, bald nur unvollkommen vorhanden sein würde.“


Das Mährchen hat es mit dem Volksliede gemein, daß es nicht auf bestimmtem Boden ruht, dieselbe Gränze scheidet beide von der Sage, doch so, daß diese dem Volksliede noch näher liegt, wie dem Mährchen. Denn letzteres reißt sich absichtlich von allem Concreten los; es setzt sich zum Zweck, aller Wirklichkeit zu spotten. Entfernen sich Sage und Volkslied von dieser, so ist das unwesentlich; dem Mährchen aber ist dieser Gegensatz nothwendiges Element. Es gehört ganz dem Reiche der Dichtung an, und nur in so weit die poetische Anlage der Nationen überhaupt von den äußeren Einflüssen bedingt ist, wird sich bei ihm noch ein Merkmal des Urspunges kund thun.

Finden sich auch Beispiele, daß Volkssagen fast übereinstimmend bei verschiedenen Nationen angetroffen werden, wie z. B. die Sage von der Jungfrau, welche, um ihre Unschuld zu retten, sich selbst von ihrem Verfolger, unter dem Vorgeben, ihm ein Mittel, das ihn hiebfest mache, lehren zu wollen, tödten läßt, außer in Preußen auch in der Mark Brandenburg und selbst in Italien vorkommt, wie Aeneas Sylvius (Europa c. 20) von der Umhauung einer heiligen Eiche in Litthauen durch Hieronymus den Prager ganz dasselbe berichtet, was von der Entstehung Heiligenbeils erzählt wird, wie ferner der preußische Glaube von dem Erdmännlein in Deutschland, an dem von den Kobolden, Kurd Chimgen oder Heinzchen (Prätorius Welt-Beschreibung I. 315-320, Grimm deutsche Sagen Th. I. S. 90 fgg.) und im ganzen Norden (Voigt Gesch. Preußens Th. I. S. 594) ein Seitenstück hat, wie sich überall Sagen von, durch Versinken von Kirchen oder Schlössern gebildeten Seen (vergl. z. B. Grimm I. c. S. 201) von Steinen, in denen des Teufels Krallen abgedrückt (Grimm I. c. S. 275), oder in die Brod (Ders. S. 326) oder Menschen (Ders. S. 308) verwandelt sein sollen, finden, welche alle wir auch unter den preußischen antreffen, so ist doch durchgängig eine bestimmte Oertlichkeit, eine Begebenheit, die in das Gebiet der Geschichte fällt, an die sie angeknüpft sind, vorhanden, welche sie wesentlich von dem Mährchen unterscheiden und ihnen im Gebiete der Sage ihren Platz anweisen.

Ist nun aber die letztere so innig mit dem Boden und den Erlebnissen des Volkes verbunden, so müssen auch beide auf sie von dem wesentlichsten Einflusse sein, und in der That erhält sie von derselben überall nicht nur ihren Stoff, sondern auch ihre Form.

Hier zeigt sich nun aber, daß Preußen in doppelter Beziehung sich in ungünstigen Verhältnissen befindet. Zu förderst sind es nämlich stets die gebirgigen Länder gewesen, in denen dieser Zweig der Volksthümlichkeit am reichsten und mannigfaltigsten aufgeblüht ist. Ein weites Tiefland bietet in seinen räumlichen Bestandtheilen zu wenig Wechsel, als daß das, was auf ihm emporkeimt, was das Gepräge seines Ursprungs nicht verläugnen kann, eine bedeutende Vielseitigkeit zu zeigen vermöchte. Wie die Nation eines solchen Landes einen einförmigen Charakter an sich tragen muß, so wird es auch mit den Sagen der Fall sein. So sind in Deutschland es immer nur die Gebirgsgegenden, der Harz, Thüringen, Tyrol, Salzburg, Schwaben, die Rheinthäler, welche einen Reichthum in dieser Beziehung besitzen die weiten Ebnen Niedersachsens, Brandenburg, Pommern gewähren geringe Ausbeute und noch weniger der Zahl wie besonders dem Inhalte nach; die Ortssagen wenigstens zeigen hier überall die größte Einförmigkeit.