Abschnitt. 1

Ist den wissenschaftlichen Bestrebungen der neuesten Zeit irgend ein Verdienst hoch anzurechnen, so ist es die Vielseitigkeit. So wie sie überall, selbst bis nach Indien und in das verschlossene China hinein, sich einheimisch machten, so gewannen sie auch intensiv an Ausdehnung und Mannigfaltigkeit. Längst bei Seite gelegte, ja verachtete Zeige des Wissens wurden hervorgeholt und sorgfältig gepflegt. Vorzugsweise aber ward diese Gunst dem zu Theil, das, seiner Entstehung nach, gerade der Wissenschaft entgegengesetzt, unter denen zuerst aufgewachsen ist, welche aller Schulbildung fremd waren und das daher die Gelehrten von Fach auch bisher nur mit Mitleiden betrachten zu müssen geglaubt hatten - der Volkssage, dem Mährchen, dem Volksliede. - Kaum ist ein halbes Jahrhundert verflossen, seit man zuerst begann, diesem Zweige geistiger Tätigkeit Aufmerksamkeit zu widmen, und schon sind wenige Länder, wo nicht wenigstens etwas gesehen wäre. Und läugnen läßt es sich nicht, daß die Volksliteratur dieser Pflege wohl werth war. ,,Obgleich,“ sagt Selden (bei Percy Reliques of ancient english poetry) ,,Manche die Flugschriften verachten, so kann man doch aus ihnen sehen, was für ein Wind weht. Nimm einen Strohhalm und wirf ihn in die Luft empor, so wirst du daraus entnehmen, woher der Wind kommt, was du nicht vermagst, wenn du einen Edelstein emporwirfst. Schwere Dinge geben den Geist der Zeiten nicht so erkennen, als Lieder und Flugschriften.

Dies gilt nun vorzugsweise von den Volkssagen. Sie sind es, die uns von dem Geiste und der Gemüthsart der Nation das treueste, sprechendste Abbild gewähren. Denn, dem Volke entwachsen, tragen sie den Charakter seiner Individualität an sich; und ebendieselbe Verschiedenheit, welche, von der Uranlage, von Clima, Bodenbeschaffenheit, bürgerlicher Verfassung, Religion, den bisherigen Schicksalen sonstigen physischen und moralischen Einflüssen bedingt, in der geistigen Befähigung und Richtung, in der sittlichen Bildung und Gemüthsbeschaffenheit der Volksstämme obwaltet, findet sich auch in ihren Sagen wieder. So charakterisirt düstere Gluth die spanischen, witzige und sanguinische Heiterkeit die französischen, Genialität und Schwermuth die britischen, sinniger Ernste die germanischen; in den nordischen prägt sich die starre großartige Natur ihrer Heimath aus, in den italienischen die frische Ueppigkeit und der ewig unbewölkte Himmel der Umgebungen, unter welchen sie erwachsen.


Theilen nun die Volksagen diese Seite ihres Werths meist mit den Volksliedern .und Volksmährchen, so ist doch der, welchen sie für die Geschichte bieten, ihnen eigenthümlich, und je höher hinauf ihr Ursprung steigt, um so bedeutsamer werden sie in dieser Beziehung. Ueber den Urzustand des Landes und Volkes verbreiten sie ein viel helleres Licht, und bieten ein Gemälde in viel treueren Farben, als dies selbst die ältesten schriftlichen Zeugnisse vermögen, deren Überlieferer, meist einem fremden Volke angehörig, gewöhnlich die Dinge nicht mit unbefangenem Auge, sondern durch Okulare anschauten, welche die Farben mannigfach brachen und die Gegenstände bald zu klein, bald zu groß erscheinen ließen. Ja, die Urgeschichte jedes Landes besteht mehr oder minder aus Volkssagen. Vorzugsweise wichtig werden diese aber, wenn, wie bei Preußen, die Ureinwohner gar keine schriftlichen Denkmäler hinterlassen, wenn die ältesten Berichterstatter nach Volksstamm, Gottesverehrung und durch Gelübde deren erbitterte Gegner waren, wenn überhaupt ältere schriftliche Quellen so äußerst sparsam fließen, daß sie weite, zwischen inne liegende Gebiete ganz unberührt lassen und das Ganze einer großen Wüste gleicht, wo wenige Oasen dem Wanderer einen Haltpunkt gewähren.

Berücksichtigt man endlich noch, wie die Volkssagen in hohem Grade geeignet sind, den Nationalsinn zu wecken und zu fördern, so bedarf die Herausgabe einer Sammlung gerade solcher, die sich auf Preußen beziehen, wohl um so weniger einer Rechtfertigung, als für dieses Land in der gedachten Beziehung noch so gut wie nichts geschehen ist.

Um nun aber das beim Sammeln beobachtete Verfahren zu rechtfertigen, scheint es vor allem nothwendig, die Gränzen des Gebietes genau zu bestimmen, welches der Volkssage angehört.

Auf der einen Seite gränzt dasselbe an das der Geschichte, auf der andern an die des Märchens und des Volkliedes. Der Geschichte gehört alles an, was urkundlich bewährt ist; die vorhistorische Zeit fällt daher ganz in den Bereich der Sage und bilden in dieser den Kreis der sagenhaften Geschichte, denjenigen Theil der letzteren, der, von den ersten Ueberlieferern dem Munde des Volks entnommen, in der Tradition sein Fundament hat, mithin bei kritischer Sichtung von dem Historiker, als nicht vollkommen beglaubigt, bei Seite geschoben werden muß. Von der eigentlichen Sage unterscheidet sich die sagenhafte Geschichte auch namentlich dadurch, daß bei ihr das Unbegreifbare kein nothwendiges Element ist.

Erst von da an, wo gleichzeitige Gewährsmänner vorhanden sind, gewinnt die Geschichte vollkommen sicheren Boen, aber neben ihr wuchert die Sage noch fort. Hier verwachsen beide oft so innig in einander, daß es schwer wird zu bestimmen, welche Sprößlinge dieser, welche jener angehören. Denn es ist nicht noch alles, was bei strenger Kritik ungerechtfertigt bleibt, Sage; Irrthümer, Erdichtungen der Schriftsteller gehören nicht in deren Gebiet. In so weit sich nun nicht wirklich ein volksmäßiger Ursprung ergiebt, bleibe der nur Ein Kriterium: das wunderbare, der Natur der Dinge nach Unmögliche. Wenn bei allem Uebrigen die Vermuthung gegen eine Entstehung aus dem Volke her spricht, so zeugt sie hier dafür, und nur wo andere Thatsachen diese Präsumtion entkräften, es sich, z. B. bei den Legenden, nachweisen läßt, daß sie von denen, welche sie überliefern, selbst ersonnen sind, wird eine Ausschließung erfolgen müssen. Das Wunderbare, als nochwendiges Element für die Volkssagen der historischen Zeit, ist es denn auch, was dieselben von den geschichtlichen Anekdoten, von denen auch gewiß viele einer vollkommen zuverlässigen Beglaubigung ermangeln, scheidet. Obwohl die preußischen Chronisten deren eine große Zahl und theilweise nicht eben uninteressante enthalten, so haben wir dennoch geglaubt, dieselben, in so fern sich nicht wirklich etwas Volksthümliches in ihnen kund that, ausscheiden zu müssen, so die Erzählungen von der Bestrafung des ungerechten Richters durch den Hochmeister Ludger von Braunschweig, von der Jungfrau, die um ihre Ehre zu retten, sich selbst der Augen beraubt, von der Bekehrung des Sudauerfürsten Skomand, von dem gottlosen Wucherer und frommen Masuren, von dem Maurenkampfe des Hans von Baysen, von den Preußischen Messerschluckern u. a. m.