Abschnitt. 2

Die Aufklärung inthronisierte die Vernunft — man musste über den Abgrund Pascal wegspringen — und machte die Welt nach ihrem Bilde vernünftig. Sie entkleidete die Religion, und das Gefühl stand nackt und fror: da wurde es zu der „Ungenauigkeit des Herzens“ leidvoller Menschen, wie Gebsattel den Sentimentalismus sehr richtig nennt, und verklagte die vernünftige Welt. Rousseau gab dieser Anklage das eindringlichste Wort, denn in ihm war die Leidenschaft stark genug, daß er das einzelne generalisieren konnte und sagen: „Der denkende Mensch ist ein degeneriertes Tier.“ Was hundert Jahre später wiederholt heißt: Der Mensch ist ein heraufgekommenes Tier. Rousseau sagte von sich: „Ich bin anders als alle, die ich gesehen habe; ich wage es, zu glauben, daß ich anders bin als irgendeiner.“ Oder: „Je suis un être à part.“ Dieser leidenschaftliche Glaube an sich selber, diese Dissoziierung von der Menschheit musste nur noch stärker werden aus der Einsicht in den Widerspruch zwischen Leben und Predigt dieses ganz unsozial Empfindenden. Er predigte die Liebe als christlich und gab seine fünf Kinder ins Findelhaus; er sprach gegen Rang und Verschwendung und lebte auf Kosten großer Herren; er eiferte für die Demokratie und hing an den Schleppen der Aristokraten; er weinte über den Reizen der Reinheit und bewies sie nur als Ausnahme von der Regel der Nicht-Reinheit. Unsozial stellte er der Gesellschaft das Gesetz, Rückkehr zur Natur verlangte der Unnatürlichste seiner Zeit. Er war ein Schriftsteller, den seine Worte trunken machten; und diese Trunkenheit seiner Worte schuf seinen Zeitgenossen die Erregung, nicht seine Ideen, die keinerlei Bestürzung hervorriefen. Rousseau organisierte die deliranten Worte zu einem Sklavenaufstand des Ungenauen, Undeutlichen: Gefühle zu schwach, um Aktionen zu zeugen. Gedanken, nicht stark genug, um elementare Ereignisse zu sein, zwei Unzulänglichkeiten, die, zusammengetan, ein schwer zu benennendes Drittes bilden, als welches das Ferment ist des Verhaltens bis auf unsere Zeit.

Es ist gewiss nicht schwer, zu beweisen, daß Rousseau nicht hatte, was man Überzeugungen nennt. In seiner Preisschrift war er für die Künste als Förderer der Menschheit. Diderot riet ihm, journalistisch aufgelegt, den entgegengesetzten Standpunkt als den interessanteren, und Rousseau schrieb gegen die Künste als die Verderber der Menschheit. Einer, dem die Erhitztheit nur aus den Vokabeln kommt, der kann so und das Gegenteil. Er war ein journalistisches Genie, das nicht besser als von Marat, Saint-Just und Robespierre zitiert werden konnte. Und war ein Dichter und Literat dazu, aber an der Einsicht, wie er sich mit allen diesen Talenten zu irgendetwas in sich in geheimen Widerspruch setzte, nährte sich die Leidenschaft dieses Mannes und trieb ihn ins Grenzenlose. Er liebte die Menschheit und konnte mit keinem Menschen in einem einfachen Frieden leben; und war ein Selbstgerechter. „Es gibt keinen besseren Menschen als mich“, schrieb er — wie oft! Und ist dies nicht sein einziges Thema? Er weinte mit seinen Zuhörerrinnen über sich, vor sich, seine Weste hinunter. Ganz Genfer Protestant sagt er: „Ich war ein Sklave in meinen Lastern, aber in meinen Gewissensbissen bin ich ein Freier.“ Also: das Motiv ist mehr als die Tat — diese Praxis der Quietisten brachte Rousseau in die Literatur, und sie hat davon ihren Charakter bis auf den heutigen Tag, dessen Psychologismus soeben im Sterben liegt. Und diese Praxis bedeutet im Ethischen eine Vereinfachung des moralischen Mittels, welche den Reichtum der Oberfläche so mindert wie die Lust dazu. Und dies bleibt Versuch und Forderung die ganze Zeit bis auf Tolstoi. Die Umkehrung, die Nietzsche Bifrons, der nach vorwärts und rückwärts Gewandte, zwischen den Zeiten stehende, dem Satze gab: Ich bin frei in meinen Lastern und ein Sklave in meinen Gewissensbissen, diese Umkehrung sagt den Satz Rousseaus noch einmal, denn Rousseaus Erlebnis ist auch das Nietzsches und ist ein Schrei aus persönlicher Not: ob das Wort so ist oder so, ist keine Unterscheidung im wesentlichen. Nietzsche sah nur als erster das Ende einer Zeit, ahnte in Qual und Sehnsucht die neue und suchte doch, ganz in der Gewöhnung der alten vernünftigen Zeit, das Leben zu beweisen, um es zu leben. Entblößt von aller Form, die es sich im Werden gab, lebte das Geistige der alten Zeit chaotisch in der neuen zu Ende. Im Unverständnis aller Form hielt die neue Zeit die Form für Spiel und Laune, war „Natur“, wie sie meinte, und nahm Formen vor wie Masken, lächelnd, ohne Glauben, ganz problematisch. Voll Erschütterungen und Skurrilitäten war diese Zeit, in die noch unsere Jugend fiel. Sie schreibt Zero, nun da sie die Bilanz zieht. Wie von einem Vergangenen möchte man schon von ihr sprechen und die auflebende neue erinnern, daß wir in den Bildungen des Rokokos stärkere Ressourcen haben für die Haltung, die uns bei Gott nötiger ist als „Stil“ und „Geist“ und „Fortschritt“. Nicht daß man sie, wie es bisher geschieht, weiter kopiert, sondern daß man den Begriff dieser Haltung bekomme: das ist, was dieser auch in ihren Sozialismen bourgeoisen Zeit Not tut, wenn anders sie ihren Reichtum äquilibrieren will, wonach doch ihre Sehnsucht steht. Ein aristokratischer Bekannter erzählte: „In dem Städtchen lässt die Frau Bürgermeister, wenn sie ausgeht, ihr Stubenmädchen acht Schritt hinter sich hertraben. Sie hält das für fein. Aber sie will vor allem damit auch vermeiden, daß man ihre Köchin für ihre Schwester hält. Glauben Sie, daß man meinen Chauffeur mit mir verwechselt?“ Der Titel ,Rokoko’ soll nur eine formale, keine historische Einheit begreifen. Auch eine moralische Abgrenzung ist damit nicht gemeint. Will man die differenten Perioden an dem Musterlande, an Frankreich, aufweisen, so unterscheidet man etwa die Periode von 1715 bis 1723, die Zeit des Regenten, die Zeit der „Singularité effrontée“ neubegierig, wild persönlich in allem sittlichen Tun und mit einem intellektuellen Zynismus unsittlich. Da auf die Zeit des Ministeriums Fleury von 1723 bis 1743: ein geschickter Machiavellismus bändigt noch die auseinanderstrebenden Elemente der Zeit, die alsbald nach des Kardinals Tode und nach dem Frieden von Aix-la-Chapelle als Opposition herrschend werden. Mit 1774 beginnt die Periode der Illusionen und Hoffnungen, der verspäteten Reformen und permanenten Aufstände. Das ruinierte Land treibt das städtische kaufmännische Bürgertum in die Revolution. Was diese Kultur auflöste, bildete sie aus sich selber: die öffentliche Meinung, die zur Demokratie tendiert bis auf heute. Sie bestand schon, bevor Voltaire, Diderot und Rousseau ihr ihr mächtiges Wort liehen. Sie bestand in den Chansons, in den Pamphleten, in den Memoiren und Korrespondenzen. Dieser öffentlichen Meinung bediente sich die Philosophia militans, die materialistische wie die spiritualistische, und gab ihr die Macht aus der Zersetzung alles dessen, was bisher Macht war: Königtum, Staat, Kirche, Adel. Eine absolute Monarchie mit allen Formen, doch ohne Prestige und ihre gesetzliche Macht nur zwischen Willkür und Schwäche schwankend äußernd. Ein Adel, den weder Pflicht noch Selbstbewusstsein halten und der aus Spaß zur Opposition geht. Ein Parlament, dessen Widerspruch kein Gedanke fruchtbar macht. Eine Kirche ganz im Weltlichen versunken. Da kein geistiges Gesetz ist und kein für alle gültiges Gebot, hat jeder eine Meinung und ist Richter und Urteiler in allem. Wie ein Barbier um 1760 sagte zu seinem Klienten: ,,Ich bin ein ganz armseliger Mensch, aber ich glaube nicht so viel an Gott.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.