Vorwort - Fortsetzung

Wie wir gesehen haben, bildet der Kanton die Grundlage des Landes. Das Staatsgebilde der „Confoederatio Helvetica“ ist nicht etwa durch Verschmelzung oder Eroberung entstanden, sondern hat sich aus dem Kanton heraus entwickelt, indem sich einer nach dem andern dem Bund der Urkantone anschloss. Dabei trat er dem Bund nur gerade so viel von seiner Souveränität ab, als dieser brauchte, um das Gedeihen des Ganzen zu verbürgen und so wiederum für die Bewahrung der Eigenart eines jeden seiner Glieder einstehen zu können. Auch heute noch besitzt jeder Kanton seine eigene Verfassung, seine Gesetze, seine Regierung. Außerdem erhebt er seine eigenen Steuern und genießt auf diese Weise auch die zu wirklicher Freiheit notwendige finanzielle Unabhängigkeit. Auf der Suche nach einer gewissen Einheit in diesem bunt zusammengewürfelten Land könnte man versucht sein, zu glauben, sie nun innerhalb des Rahmens des Kantons gefunden zu haben. In vielen Fällen wird auch dies ein Trugschluss sein. Gewisse Kantone, wie das Wallis, Freiburg und Bern, sind zweisprachig, andere sogar dreisprachig, wie zum Beispiel Graubünden, dessen Bewohner Schweizerdeutsch, im Vorderrheintal und Engadin romanisch und im Puschlav italienisch sprechen. Man wird gewahr, dass es fast unmöglich ist, vom Schweizervolk zu sprechen, ohne der Eigenart seiner einzelnen Glieder, aus denen es sich zusammensetzt, Gewalt anzutun. Was auf Neuenburg zutreffen mag, wird mit größter Wahrscheinlichkeit in St. Gallen seine Geltung verloren haben, und so wäre es unangebracht, im Falle der Schweiz irgendeine Verallgemeinerung suchen zu wollen.

Und doch gibt es in diesem Land der verwirrenden Vielfalt eine gewisse Einheit, etwas, das allen Schweizern, welcher Sprache, Herkunft und Religion sie auch seien, gemein ist. Jeder Fremde, der die Grenze überschreitet, wird diesen Eindruck empfinden. Woran liegt das nun? Einmal ist jeder Schweizer stolz auf seine Heimat, deren demokratische Einrichtungen zu den vollkommensten gehören, die es gibt, und die es ihm ermöglichen, seine persönliche Freiheit und Eigenart zu bewahren. Diese Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit waren es ja, die zur Gründung des Bundes führten, der Schweizer Bürger ist sich bewusst, dass die föderalistische Staatsordnung seines Landes die Gewähr für die Erhaltung dieser hohen Ideale bietet. Dann, als noch augenfälligerer gemeinsamer Wesenszug, hegen die Schweizer eine besondere Vorliebe für Ordnung und Disziplin, was sich in ihrer ganzen Haltung, in kleinen und kleinsten Dingen des täglichen Lebens ausdrückt. Hier ist nicht das Land der begeisterten, lärmenden Menschenmenge; hier geht es still und überlegt zu, und in den Häusern, Dörfern und Städten, die gepflegt und sauber sind, spielt sich das Leben ruhig und wohlgeordnet ab. Die Schweiz ist auch das Land der Vorschriften, was einmal einen Franzosen zum Ausspruch veranlasste, was hier nicht verboten sei, sei bestimmt obligatorisch.


So friedliebend das Schweizervolk auch ist, so sehr gefällt es ihm doch in seiner gutgeschulten und wohlausgerüsteten Armee zu dienen, und diese beiden Wesenszüge, die als Widerspruch erscheinen könnten, finden ihren Ausdruck in der ungewöhnlichen Tatsache, dass jeder militärdienstpflichtige Bürger — d.h. sozusagen die gesamte erwachsene männliche Bevölkerung — Ausrüstung, Gewehr und Munition zwischen zwei Dienstleistungen zu sich nach Hause nimmt. „Es gibt wohl kaum einen Staat“, schrieb Montesquieu, „dessen Politik gestatten würde, alle seine Bürger zu bewaffnen.“ Dass dies im Falle der Schweiz doch zutrifft, zeugt nicht nur von der nüchternen Wesensart der Schweizer, sondern ist vor allem ein sicheres Zeichen des guten Einvernehmens von Volk und Regierung, oder um es anders auszudrücken — beweist das Vorhandensein von Einrichtungen, die es dem Volk ermöglichen, seinen Willen kundzutun und ihm Nachdruck zu verschaffen. Der Schweizer ist von Haus aus Demokrat. Nie hat er eine andere Souveränität als die seine gekannt und sein Misstrauen gegen jegliche persönliche Machtentfaltung hat ihn immer die Lösung der Kollegialregierung vorziehen lassen. Man trifft in der Schweiz noch das letzte Beispiel von direkter Demokratie, nämlich in den Kantonen Appenzell, Glarus und Unterwaiden, wo sich jedes Jahr die stimmfähigen Bürger zur sogenannten Landsgemeinde vereinigen und durch Handerheben ihre Vertreter wählen, über die vorgeschlagenen Gesetze abstimmen, ihre Meinung über die zu zahlenden Steuern abgeben und über sonstige öffentliche Angelegenheiten entscheiden. Demokratische Einrichtungen dieser Art haben es ermöglicht, dass Menschen verschiedenster Art, Sprachen und Glaubensbekenntnisse in bestem Einvernehmen nebeneinander leben können. Der Fremde empfindet die Atmosphäre der Ruhe, Ordnung und Achtung vor der Eigenart des Nächsten angenehm, umso mehr als er in der Schweiz ein Land findet, wo bis zu einem gewissen Grade ein Lebensstil fortbestehen konnte, wie er in Europa vor 1939, oder sogar vor 1914, herrschte. Man darf nicht vergessen, dass die Schweiz, mit Ausnahme der kurzen Napoleonischen Besetzung, seit dem 16. Jahrhundert eine lange Zeit des Friedens gekannt hat und von den Schrecken zweier grausamer Kriege verschont geblieben ist, die das Gesicht Europas so vollkommen veränderten. Sie konnte ihre gewohnte Lebensweise fortführen, ihre Ideen beibehalten, die Dinge heranreifen lassen, ohne den gewaltsamen Riss zwischen Vergangenheit und Gegenwart erleben zu müssen. So ist sie denn eines der wenigen Länder geblieben, wo der Fremde beglückt eine Atmosphäre wiederfindet, die er in vielen Fällen in seiner Heimat vielleicht nicht mehr kennt und die er doch unbewusst vermisst.

Wir haben die große Anziehung zu erklären versucht, die die Schweiz immer und immer wieder auf den Fremden ausübt, und wenn dabei vor allem von den mannigfaltigen landschaftlichen Schönheiten, von den einzigartigen Einrichtungen und dem Geist der Ordnung und Ruhe die Rede war, könnte man leicht zu der Auffassung kommen, es mit einem Bauernland zu tun zu haben, dessen Städte weder zahlreich noch sehr interessant sein dürften. Dies zu glauben, wäre ein Irrtum, denn, obschon es in der Schweiz keine Weltstädte gibt, die Zentrum des gesamten geschäftlichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Lebens sind und für das ganze Land den Ton angeben, so gibt es doch auch keine Provinzstädte, die in ihrem Schatten leben müssen. Jede größere Schweizerstadt ist ja zugleich Hauptstadt eines souveränen Staates, der seine eigene Geschichte, seine eigene Tradition besitzt, und so hat sie noch immer ihre Ursprünglichkeit und ihr ganz besonderes Gepräge bewahrt. Auch in den modernsten unter ihnen kommt heute noch die enge Beziehung zur Vergangenheit sichtbar zum Ausdruck. Wenn man am späten Abend in den laubengedeckten Gassen Berns, mit ihren buntbemalten Brunnen spazieren geht und in der malerischen Gerechtigkeitsgasse oder etwa der Junkerngasse in der Nähe des Münsters stehenbleibt, könnte man sich in eine Stadt des 16. oder 17. Jahrhunderts zurückversetzt wähnen. Auch Genf besitzt eine wunderschöne Altstadt seltener Prägung. Aus den engen, winkligen Gässchen, den ruhigen Plätzen, den schönen, strengen Häuserfronten in der Nähe der Kathedrale von St. Pierre, des Bourg-de-Four und der rue de la Cité, blickt uns die Stadt Calvins entgegen.

Viele Schweizerstädte haben eine wunderbare Lage, sei es an einem See, wie Luzern, Lausanne, Zürich, Lugano oder Genf, oder in die Windung eines Flusses eingeschmiegt wie Bern, Freiburg oder Basel. Man könnte glauben, ihre Gründer hätten keine andere Sorge gehabt, als sich nach einem möglichst schönen Fleckchen Erde umzusehen. Kaum eine Stadt, von der aus man mit dem Blick nicht ein Stückchen See, einen Wald, Hügel oder einen Schneeberg erhaschen könnte. Die Naturnähe ist es wohl, die den Schweizerstädten ein so gesundes Aussehen verleiht. Dieser Eindruck wird im Sommer noch durch den prächtigen Blumenschmuck erhöht, der im Überfluss Gassen und Plätze ziert und ihnen ein heiteres, festtägliches Gesicht verleiht; man kann sich nur wundern, dass die Geranie noch nicht dem Edelweiß als Symbol der schweizerischen Flora den Rang abgelaufen hat. Es ist daher nicht erstaunlich, dass immer mehr Fremde in den Städten haltmachen, um auch dort einen angenehmen und erholenden Aufenthalt zu verbringen. Außerdem werden sie hier die Entdeckung machen, dass die Schweiz eine beachtliche Anzahl wertvoller Kunstschätze besitzt, deren Vorhandensein sie niemals vermutet hätten.

Die Schweiz ist reich an Denkmälern aus den verschiedensten Kulturepochen, die das Land je berührt haben, so vor allem aus der Zeit der römischen Herrschaft und aus frühchristlicher Zeit. Die politische Beständigkeit und die lange Friedenszeit konnten der Kunst und der Erhaltung ihrer Zeugen nur förderlich sein. Dabei muss gesagt werden, dass hier der politische und soziale Aufbau des Landes eine größere Rolle gespielt hat, als man anzunehmen geneigt wäre. Das Mäzenentum der großen Fürstenhäuser fehlte gänzlich; der Souverän — in diesem Falle der Kanton — konnte es naturgemäß niemals den europäischen Höfen an Prachtentfaltung gleichtun. So sind denn auch meistens die Baudenkmäler der Städte irgendeinem öffentlichen Zweck bestimmt: es sind Kirchen, Rathäuser, Kornspeicher, Zeughäuser. Deshalb fügen sich auch diese Gebäude dem Stadtbild auf so natürliche Weise ein, ohne dessen Schlichtheit und Einheit zu stören. In allen Gebieten der Kunst fällt der Einklang des künstlerischen Ausdrucks mit den Anforderungen des täglichen Lebens auf. So findet man in Bern, Basel, Freiburg und Lausanne prächtige Rathäuser spätgotischen Stils, was aber nicht heißen will, dass nur die größeren Städte beachtenswerte Bauwerke besitzen. Städtchen wie Sursee, Appenzell oder Le Landeron können sich ebenfalls reizvoller baulicher Sehenswürdigkeiten rühmen. In größerem Maße noch als die Rathäuser waren die Kirchen Versammlungsort des ganzen Volkes, das seinen Stolz darin legte, seiner Stadt eine möglichst schöne Kirche zu erbauen, ihm und Gott gleicherweise zur Ehre. In der Taufkirche von Riva San Vitale im Tessin, die aus der Zeit um 500 stammt, besitzt die Schweiz wohl ihr ältestes christliches Baudenkmal, das sozusagen unversehrt erhalten geblieben ist. Zahlreich sind die Zeugen des romanischen Stils, so die lombardischen Kirchen des Tessins, und um nur einige der bekanntesten zu nennen — die Kirche von St. Sulpice, diejenige von St. Pierre de Clages im Wallis, die Benediktinerkirche von Payerne, das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen oder das Großmünster in Zürich. Aus der Zeit der Gotik sind zu erwähnen: die Kathedrale von Lausanne, ein vollkommenes Beispiel frühgotischen Stils, die Kathedralen von Genf und Freiburg, die Stiftskirche von Neuenburg, das Basler Münster, das sich durch seine Skulpturen auszeichnet. Wenn das Barock im Gegensatz zu anderen Stilarten die Schweiz weniger berührt hat, so sind doch die wenigen, meist kirchlichen Bauwerke aus dieser Zeit, wie zum Beispiel die Klosterkirche von Einsiedeln oder die Stiftskirche von St. Gallen, von bedeutendem Wert.

Der beschränkte Raum in einem Vorwort lässt es nicht zu, dass wir mehr als einige Hinweise auf die Baukunst des Landes geben. Dennoch möchten wir nicht versäumen, auf die vielen malerischen Bergkirchlein und Kapellen hinzuweisen, die sich in rührender Schlichtheit in das großartige Landschaftsbild der Alpen einfügen. Vor allem in Graubünden und im Wallis finden sich zahlreiche derartige Orte der Einkehr und des Gebets, so etwa das entzückende Kirchlein von Fex, oberhalb Sils im Engadin, das weiß und winzig klein, umgeben von mächtigen Berggipfeln, dasteht. Im ganzen Land kann man auf Kirchen und Schlösser von eindrucksvollem Aussehen stoßen — das bekannte Schloss Chillon am Genfer See bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung — die immer mit ihrer Umgebung in schönstem Einklang stehen. Es wäre schade, sich nur auf die Betrachtung ihres Äußeren zu beschränken, denn oft enthüllen sie ihre Reichtümer erst im Innern. Es lohnt sich auch, die Museen zu besuchen, die Gegenstände von hohem Wert beherbergen, wie zum Beispiel das Landesmuseum in Zürich, die Historischen Museen von Bern, Basel oder Genf. Die Volkskunst, die ja von jeher in der Schweiz sehr lebendig war und liebevoll gepflegt wurde, hat viele beachtenswerte Werke hervorgebracht, die, wenn auch nicht von überragender Bedeutung, doch sehr aufschlussreich für den Geist und die Art eines Bevölkerungsteils sein können. Nirgends könnten die Besonderheiten einer Landschaft besser zum Ausdruck kommen als in diesen Werken einheimischen Schaffens, aber auch in den Volksfesten, die sich zum Teil bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Es seien in diesem Zusammenhang etwa die Winzerfeste, die Älplerfeste, die Basler Fasnacht, das Züricher Sechseläuten oder die Engadiner Schlittedas erwähnt.

Außer ihren landschaftlichen, menschlichen und künstlerischen Anziehungspunkten besitzt die Schweiz noch einen weiteren darin, dass der Zugang zu all diesen Schätzen mühelos und angenehm erlangt werden kann. Die Fremdenbetreuung hat hier einen Stand erreicht, wie man ihn selten antrifft. Keine Anstrengung wird gescheut, um dem Fremden den Aufenthalt so angenehm als möglich zu gestalten, was sicher für ihren internationalen Ruf verantwortlich ist. Da die Ferienreisenden sich oft in die naturgemäß eher ungastlichen Gebirgsgegenden gezogen fühlen, wurde alles getan, um auch den wenig berggewohnten unter ihnen die Möglichkeit zu geben, die Alpenwelt in ihrer ganzen Schönheit zu erleben. Bergbahnen, Seilbahnen, Sesselbahnen und Skilifte erschließen eine immer wachsende Zahl von Berggipfeln und führen den Reisenden zum Beispiel bis aufs Jungfraujoch, in eine Höhe von 3500 m. Dass auf diese Weise bald jeder Berg auf Stöckelschuhen erreicht werden kann, hat nichts daran geändert, dass die Schweiz nach wie vor das Paradies der Alpinisten ist. Das Berner Oberland, das Wallis, Graubünden, die Zentralschweiz bieten unerschöpfliche Gelegenheiten zu Bergbesteigungen; der geruhsame Wanderer wird ebenso auf seine Rechnung kommen wie der waghalsige Kletterer. Dabei ist der Alpinismus nur eine der vielen Möglichkeiten körperlicher Betätigung. Der einst so trübe, lange Winter wird heute von Tausenden mit Sehnsucht erwartet, um sich in Schnee und Sonne auf den Hängen zu tummeln. Die Schweiz ist die Heimat des Wintersportes.

Die Fremdenbetreuung im Wirtschaftsleben der Schweiz ist unbestritten recht bedeutend; man darf darüber jedoch die anderen Erwerbszweige nicht vergessen, die aus der Schweiz ein reiches Land machten, obschon es dafür die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen besitzt. Als Binnenland hat es keinen Zugang zum Meer, es besitzt auch keine Bodenschätze; der kleine Teil bebaubaren Landes ist eher karg und steinig, und doch ist es ein wohlhabendes Industrieland neuzeitlicher Prägung in dem rauchende, Fabrikkamine der Vergangenheit angehören. Da der einheimische Markt zu klein ist, um eine Massenfabrikation wirtschaftlich zu gestalten, hat sich die Industrie von jeher der Erzeugung von Qualitätsprodukten zugewandt. Die Uhrenindustrie versinnbildlicht am deutlichsten die Eigenart des Schweizervolkes zur genauen, wohl ausgeführten Arbeit. Erwähnt sei noch besonders die Maschinen- und die Textilindustrie, ebenso die chemisch-pharmazeutische und die Lebensmittelindustrie, die in hohem Maße zum wirtschaftlichen Wohlstand des Landes beigetragen haben.

Das vorliegende Bildwerk möge der Schweiz viele neue Freunde gewinnen und in ihnen den Wunsch erwecken, hier einmal die Ferien zu verbringen um das Land aus der Nähe kennenzulernen; es möchte auch in den vielen alten Freunden Erinnerungen an unvergessliche Stunden inmitten herrlicher Landschaft wachrufen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Schweiz