Turgeniews Novellen (Schluss)

Die drei größten Dichtungen („Das adelige Nest", „Väter und Söhne", „Rauch"). — Kleinigkeiten. — Turgeniew's Realismus. — Pisemski's „Tausend Seelen". — Die Sprache, der Stil und die Bedeutung Turgeniew's.

Die drei größten Dichtungen Turgeniew's sind „Ein Nest von Edelleuten", „Väter und Söhne" und „Rauch". Obwohl in der Anlage weiter und verwickelter als die übrigen Erzählungen, sind auch sie nur Novellen, nicht Romane, wie man sie zuweilen genannt hat. Allerdings verwischt sich der Unterschied zwischen Novelle und Roman immer mehr, indem die Dichter solchen Unterschied kaum noch beachten, die Ästhetiker ihn nicht recht zu definieren wissen. Zweierlei Anforderungen darf man jedoch unter allen Umständen an den Roman stellen: er muss, wie das Drama, eine wirkliche Handlung vorführen, eine einheitliche gegliederte Handlung; und die Träger derselben, die Helden dürfen nicht gleich fix und fertig auftreten, sondern ihr Charakter soll sich vor unseren Augen entwickeln und gestalten, objektiv in ihrem Tun und Treiben offenbaren. Legt man diesen Maßstab an die Erzählungen Turgeniew's, so hat keine von ihnen Anspruch auf den Namen eines Romans. Eine fortlaufende organische Handlung zu komponieren, geht über das Vermögen des Dichters: er gibt immer nur eine ziemlich lockere Kette von Bildern und Situationsgemälden; seine Charaktere sind innerlich sehr bewegt, aber äußerlich meist passiv, sie sind mehr Objekte als Subjekte, mehr die Kinder der Ereignisse als die Väter eigner Taten.


„Ein Nest von Edelleuten" verrät auffällig, wie schwierig dem Dichter jede größere Komposition wird, wie viel Beiwerk und Nebensächliches er nötig hat, nur um einen mäßigen Band zu füllen. Er beginnt mitten drin, verliert sich aber dann in die Vorgeschichte der auftretenden Personen, noch ehe wir uns für diese besonders interessieren können. Im siebenten Kapitel wird die Erzählung plötzlich unterbrochen, und nun der Stammbaum des Helden Lawretzki gezeichnet, das Leben seiner Ahnen bis zum Urgroßvater hinauf geschildert. Diese Episode aus der Welt der russischen Seigneurs, wonach die Novelle mit Unrecht den Titel führt, nimmt einen unverhältnismäßig großen Teil des Buchs ein; und ist doch für die eigentliche Geschichte ziemlich gleichgültig. — Lawretzki, dem seine Frau die Treue gebrochen und der sich deswegen von ihr getrennt hat, kehrt in die Heimat zurück und sieht hier eine junge Verwandte, Lisawetha, zu der er alsbald eine tiefe Leidenschaft fasst. Noch kämpft er mit seiner Neigung, da kommt die Nachricht, dass seine Frau im Auslande gestorben ist, und weil er sich nun frei weiß — nach den Satzungen der russischen Kirche scheidet die Ehegatten bekanntlich nur der Tod — erklärt er sich vor Lisawetha und erhält von ihr das Geständnis der Gegenliebe. Doch gleich darauf erweist sich jenes Gerücht als falsch; sein Weib, das er tot geglaubt, kehrt zurück, Lisawetha geht ins Kloster, und er selber flüchtet sich in die Einsamkeit. — „Das Glück auf Erden hängt nicht von uns ab“, spricht die fromme engelreine Lisawetha; und als der Sturm über sie gekommen, wiederholt sie jene Worte, und zieht sich, gebrochenen Herzens, aber still und ergeben, aus der Welt zurück. Drei Männer lieben dieses herrliche Wesen, jeder in seiner Art; außer Lawretzki der eitle Kammerjunker Panschin und der greise, sonst nur seiner Kunst lebende Musiker Lemm, ein eingewanderter Deutscher, aus dem der Dichter diesmal keine bloße Karikatur, sondern ein lebensvolles Original gemacht hat. Ein noch prächtigeres Original ist die alte Großtante Martha Timotheewna, neben welcher sich ihre beschränkte, alternde, aber noch immer gefallsüchtige Nichte Maria Dmitriewna sehr unvorteilhaft ausnimmt; während die keusche edle Lisawetha wieder an Warwara Pawlowna, der verderbten heillosen Gattin Lawretzki's, ihr Gegenstück hat. Die Geschichte atmet denselben tragischen Zauber, der auch die Novelle „Faust" erfüllt; und sie verdient vor dieser noch den Vorzug, insofern sie voller austönt und ihr Abschluss versöhnender ist.

Die beiden anderen großen Erzählungen haben wieder eine politische Tendenz. „Väter und Söhne" ist gegen den unter dem jungen Russland grassierenden Materialismus und Nihilismus gerichtet; gegen die beiden Systeme, die wir in Deutschland schon vergessen haben oder doch nicht mehr als ernsthaft betrachten. Die Novelle erschien 1861 und weiß daher noch nichts von den bedenklichen Verirrungen, von den Staat und Gesellschaft bedrohenden Ausschreitungen, deren sich die russischen Nihilisten seitdem schuldig gemacht haben. Der Nihilismus, den „Väter und Söhne" wiederspiegelt, gehört der gemäßigten Richtung an und ist noch harmloser Art, indem er sich nur in renommistischen Reden und absprechenden Urteilen Luft macht, nur deklamiert, nicht handelt, die Leute zwar ärgert, sie aber nicht schädigt. Als Nihilisten, wie sie sich selber nennen, treten zwei eben entlassene Studenten auf; was ganz wohl der Wirklichkeit entsprechen mag, dem spezifischen Gewichte der Dichtung aber von vorne herein Eintrag tut, insofern zwei Exstudenten als Träger der neuen Weltanschauung, als Apostel einer neuen Heilslehre nicht sonderlich imponieren können. Überdem hat nur Bazarow, der ältere von Beiden, eine eigene Meinung; während sein Kamerad, Arkad ihn bloß kopiert, und sich alsbald von der hübschen klugen Katia zu einem folgsamen Ehemann und soliden Landwirt bekehren lässt. Und selbst Bazarow, wiewohl eine ernste tiefe männliche Natur, zeigt sich in Worten und Taten doch noch etwas „grün“; sein eigentliches Wesen ist die raue Burschikosität des Studenten, hinter der aber, gegenüber seinen ihn anbetenden Eltern und im Umgange mit den Frauen, viel warmes und edles Gefühl durchschimmert; soviel Gefühl, wie sich für einen Nihilisten nimmer schickt. Sogar seine Leidenschaft zu der kalten besonnenen Madame Odinzow, die angeblich wilde mächtige Glut dieser Leidenschaft muss uns fragwürdig erscheinen, wenn wir kurz darauf ihn so zärtliche verlangende Blicke auf die rosige Bäuerin Renitschka werfen sehen.

„Väter und Söhne" ist in formaler Hinsicht vielleicht die vollendetste Leistung Turgeniews. Die Erzählung fließt ununterbrochen und beschwingt dahin, alles bloß Episodenhafte ist vermieden, Alles tritt klar und deutlich zu Tage. Wir haben das abgerundete Bild einer bestimmten Kulturepoche; der Wirrwar und die Verlegenheit, welche die großen Reformen, die so lange an den Grenzen Kusslands aufgehaltene, jetzt aber in hohen Wogen hereinbrechende moderne Wissenschaft zunächst hervorrufen, sind treu und anschaulich geschildert. Und doch verrät gerade diese Novelle wieder die Grenzen, welche dem Talente des Dichters gesteckt sind; die Grenzen des Gebiets, das er unumschränkt beherrscht, über das er aber nicht hinaus kann. Es sind kulturhistorische, nur äußerlich mit einander verbundene Bilder, die er gibt; es fehlt ihnen zu einem organischen Ganzen das innere einheitliche Band. Wir sehen den liberalisierenden hohen Staatsbeamten, den Aristokraten aus der alten Schule, die emanzipierte Fortschrittsdame und noch manch andere Typen der russischen Gesellschaft: allein sie tauchen auf und verschwinden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen; und noch weniger stehen sie zu den Helden der Dichtung in irgend einer wesentlichen Beziehung. Selbst Bazarow, die Hauptperson des Ganzen, geht nicht am Nihilismus zu Grunde, wie er doch eigentlich sollte; nicht einmal an seiner Leidenschaft zu Madame Odinzow — sondern er stirbt an einer Eiterblutvergiftung, die er bei der Sektion einer Leiche sich zugezogen hat. Sein Tod ist überhaupt ganz unnötig. Schon hat er sein aufrührerisches Herz zum Schweigen gebracht; schon bereitet er sich, voll Resignation und Selbstbeherrschung, im Hause seiner Eltern auf den Beruf eines Landarztes vor; schon dürfen wir hoffen, dass ein so ausgesprochenes Talent, ein so tüchtiger Charakter der Menschheit nicht verloren gehen, sondern in ihrem Dienste arbeiten und schaffen wird: da lässt ihn der Dichter, getreu seinem Prinzipe, oder auch vielleicht, weil er um einen anderen Abschluss verlegen ist, eine Beute des Zufalls werden.

Nach dem „Tagebuch eines Jägers" machte das meiste Aufsehen „Väter und Söhne"; begreiflicherweise erntete es jedoch weniger Zustimmung als Widerspruch und Erbitterung. Mit um so größerer Spannung sah man der neuen Tendenzdichtung entgegen, welche im Jahre 1867 erschien. Sie nannte sich „Dym", d. i. „Dunst" oder „Bauch", wurde zuerst im Märzheft der Monatsschrift „ Buszkj Wjestnik " (Der russische Bote) abgedruckt; und der Verfasser erhielt, nebenbei bemerkt, für diesen einmaligen Abdruck nicht weniger als 6.000 Rubel; was sowohl von der Dickleibigkeit der russischen Revuen, als von ihrem großen Absatz einen Begriff gibt. „Bauch" ist nicht nur tendenziös, sondern geradezu polemisch gehalten, und deshalb, mindestens für nichtrussische Leser, stellenweise langweilig und ermüdend. In dieser Dichtung zeigt Turgeniew zum ersten Male, dass er auch trocken und lehrhaft, breit und geschwätzig werden kann. Die Geschichte beginnt am 10. August 1862 Nachmittags 4 Uhr (!) in Baden-Baden, und spielt sich zum größten Teil auf deutschem Boden ab. Es wird das Wesen und Treiben der Russen im Auslande gezeichnet, das lächerliche Gebaren der hohen Aristokratie, das wüste Schwatzen von Demokraten und Slawophilen gegeißelt, und weitläufige Betrachtungen über Russlands Gegenwart und Zukunft angestellt. Mit diesen teils satirischen Schilderungen, teils sozialpolitischen Debatten sind die ersten fünf Kapitel angefüllt, so dass man schon viel Geduld besitzen muss, um das Buch nicht fortzuwerfen. Und selbst dann beginnt die eigentliche Geschichte noch lange nicht. Herr Litwinow, der Held der Erzählung, der das Alles hat schauen und mit anhören müssen, geht im 6. Kapitel mit schmerzendem Kopf zu Bett, erwacht in der Nacht plötzlich und überlässt sich nun seinen Erinnerungen, den Erinnerungen an eine unglückliche Jugendliebe, die weitere drei Kapitel einnimmt. Dieselbe Ungelenkheit, die in der Novelle „Ein Nest von Edelleuten" auffällt, macht sich auch hier geltend. Litwinow findet Irina, seine ehemalige Geliebte, die ihn einst treulos aufgegeben, in Baden-Baden als die Gemahlin eines russischen Generals wieder. Sie lockt ihn aufs Neue in ihr Netz, und spielt mit ihm noch einmal das alte treulose Spiel. Nachdem er um ihretwillen mit seiner verlobten Braut, der edlen Tatjana gebrochen, muss er einsehen, dass ihn Irina wiederum an der Nase geführt hat, dass er für dieses leichtsinnige Weib auch diesmal ein bloßer Zeitvertreib gewesen ist. Schon die Wiederholung dieses Minnespiels, genau mit demselben Ausgang, hat etwas Tragikomisches, kann an und für sich nur ein geringes Interesse einflössen. Dazu kommt noch, dass Irina ohne jeden sittlichen Wert ist; wie selbst ihr Freund Potugin sagt, zu den Weltdamen gehört, von denen „auch die Beste bis auf die letzte Ader vergiftet ist". In der Tat ist Irina nicht nur eine arge Kokette, sondern wahrscheinlich auch ein verbrecherisches schuldbeladenes Weib. Gewisse Jahre ihres Lebens in der Petersburger vornehmen Welt bleiben, Dank der Geheimniskrämerei des Dichters, in ein unheimliches Dunkel gehüllt; ihre Ehre scheint stark kompromittiert gewesen zu sein , und das Verhältnis, in welchem sie zu ihrem Gemahl steht, ist jedenfalls ein abscheuliches, und lässt in einen Pfuhl von beiderseitiger Verworfenheit blicken. Um eines solchen Weibes willen konnte Litwinow nicht gut zu Grunde gehen; wenn es auch kaum gerechtfertigt ist, dass die schwer gekränkte Tatjana dem reuigen Sünder so leicht und so freudig wieder verzeiht.

Wie „Väter und Söhne " in der Hauptsache drei nebeneinander laufende Liebesgeschichten enthält, so ist auch der eigentliche Kern im „ Rauch " eine Liebes-Affäre, alles Andere nur äußerliches und zum größten Teil unvermitteltes Beiwerk. Der Rauch" bietet lange nicht so zahlreiche und weite Perspektiven wie „Väter und Söhne"; und es klingt etwas gewaltsam, wenn der Dichter, um die Grundidee, welche ihm bei der Abfassung dieses Werkes vorschwebte, zu enthüllen, wenn er, um dem Ganzen eine Pointe zu geben, seinen Helden Litwinow, während dieser mit dem Bahnzuge Baden-Baden verlässt und die von der Lokomotive ausgestoßenen Dampfwolken verfolgt, in die Betrachtung ausbrechen lässt: „Bauch, Bauch! Das eigene Leben, das russische Leben ; alles Menschliche, namentlich aber alles Russische — Alles ist Bauch und Dunst!" Litwinow kann man solche Übertreibung, mit Rücksicht, auf seinen Zustand, zu Gute halten; aber von einem Dichter darf man verlangen, dass er einen ungleich höheren Standpunkt einnehme. Ist Baden-Baden denn Russland? Repräsentiert Irina denn die russische Frauenwelt? Und jenes in einem deutschen Badeorte die Zeit totschlagende Häuflein von Aristokraten, jener Trupp von politischen Narren ist dies etwa das russische Volk? — Fürwahr, die Landsleute des Dichters hatten diesmal gerechte Ursache, sich über ihn zu beklagen; und mochten die Batmirows, die Bambajews und die Gubarews auch an den Ufern der Newa und Moskwa zu Dutzenden spazieren: immerhin durfte um ihretwillen nicht der Stab über ganz Russland und die russische Nation gebrochen werden.

Noch mehr als deutsche Schriftsteller haben russische Autoren die Sucht, Reminiszenzen an andere Dichter zu bringen, Zitate aus anderen Dichtern einzuflechten. Dass Solches einem Kunstwerke nur schaden kann, liegt auf der Hand; es muss seinen Charakter alterieren und die Illusion stören. Ein Künstler sollte um seines eigenen Vorteils willen nie daran erinnern, dass es außer seinen Werken noch andere gibt. Alle russischen Poeten zitieren gern und viel, einheimische wie fremde Dichter; jene aus Nationalstolz, diese ihres eklektischen Bildungsganges wegen. Besonders stark im Zitieren ist nun Turgeniew. Er führt alle Augenblick Puschkin, Lermontow, Gogol und Andere im Mund; er zitiert aus dem Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen, was ihm zu sehr den Anstrich eines Literaten gibt. Im „Rauch" werden sogar Männer wie Lassalle, Schulze-Delitzsch, Riehl, Gneist, Virchow etc. genannt ; und da die Dichtung überhaupt mitten in die Tageswogen hineingestellt ist, hat sie etwas viel zu Unruhiges und Bewegtes, entbehrt sie fast aller Objektivität.

Der „Rauch" zeigt schon eine Erschöpfung des Dichters; und diese Erschöpfung ist eine sehr natürliche, da die Anzahl der Themata, welche er zu behandeln liebt, keine große ist. Noch merklicher fallen die späteren Sachen ab, unter denen nur noch die 1868 erschienene Novelle „Eine Unglückliche", trotz der bedrückenden Atmosphäre, die sie einhüllt, trotz des wieder sehr düstern Ausgangs, zu rühmen ist. Alle übrigen dagegen sind wahre Kleinigkeiten. „Das Abenteuer des Leutnants Jergunow" z. B. ist nichts als eine Gaunergeschichte; und überdies passt der leichte scherzhafte Ton, in welchem sie erzählt wird, durchaus nicht zu der doch immer schrecklichen Katastrophe. Andere Novelletten, wie „Der Hund", „Der Jude", „Petuschkow" und die kürzlich im „Salon" *) veröffentlichte „Wunderliche Geschichte" sind nur weiter ausgeführte Anekdoten.

*) Herausgegeben von Dohm und Rodenberg. Band V, Heft 1.

Selbstverständlich gilt dies Urteil nur beziehungsweise, nur mit Rücksicht auf die seltene Begabung des Dichters. Etwas gänzlich Werthloses hat Turgeniew überhaupt nicht geschrieben. Auch in seinen unbedeutendsten Sachen finden sich noch immer so reiche Gedanken, so viel echt poetische Schönheiten, dass manch zeitgenössischer Dichter ihn darum beneiden und damit seine Blöße bedecken könnte. Er weiß stets unseren Sinnen zu schmeicheln, unser Herz zu bewegen, unseren Geist zu beschäftigen. Er weiß uns fast immer in Atem zu halten, uns in Bann und Zauber zu schlagen; wir folgen ihm nicht selten unbehaglich und widerwillig, aber wir müssen ihm folgen. In jeder Skizze, in jeder Erzählung treten uns neue originelle Gestalten entgegen, und stets sind es leibhaftige Menschen, nie phantastische Schemen. Turgeniew besitzt eine fast dämonische Kenntnis des Menschenherzens, und er ist unerschöpflich darin, es bis auf die kleinste Faser zu zergliedern, jede seiner Regungen zu offenbaren. Er hat eine vielleicht zu starke Neigung, sich in die Abgründe der menschlichen Natur hineinzubohren und sie schonungslos aufzudecken. Psychologische Analysen sind seine Stärke, und sie müssen oft für den Mangel an Handlung entschädigen.

In der Auffassung und Darstellung des Lebens ist Turgeniew Realist. Er hat viel erfahren, viel beobachtet, viel nachgedacht; er hat die Natur und den Menschen nicht minder wissenschaftlich wie praktisch zu ergründen gesucht; und seinen Kenntnissen, seinem Talente entspricht seine Wahrheitsliebe und Unerschrockenheit, der Fleiß und die Treue, womit er schildert und malt. Etwas ganz Vollkommenes gibt es für ihn nicht; alle seine Helden zeigen neben ihren Tugenden und Vorzügen auch stets ihre Schwächen und Gebrechen, die Menschen und Dinge haben bei ihm mehr Schatten als Lichtseiten, und das Leben ist fast immer ein harter Kampf, eine schwere Last. Trotz alledem ist Turgeniews Realismus doch ein poetischer. Auch wenn er Elend und Sünde, das Hässliche und Gemeine zeichnet, wird er nie selber hässlich und gemein werden, nie geradezu widrig und verletzend wirken; sondern auch dann hält er sich noch innerhalb der ästhetischen Grenzen und versteht es noch, ästhetische Effekte hervorzubringen. Was er auch malt, wie treu er auch nach der Natur zeichnet: er weiß Alles zu durchleuchten und zu verklären, Alles zu vergeistigen, Alles in poetischen Duft und Schimmer zu hüllen. Sehr fern liegt ihm diejenige Abart von Realismus, welche das Alltagsleben sklavisch kopiert, die prosaische Wirklichkeit bar und nackt auftischt. Dieser harte trockne Realismus findet sich bei verschiedenen russischen Dichtern der Gegenwart, z. B. bei Pisemski; der übrigens, und nicht mit Unrecht, einen so bedeutenden Ruf genießt, dass wir hier auch seiner gedenken müssen.

Alexis Pisemski besitzt ein weit größeres Kompositionstalent als Turgeniew. Er weiß eine längere fortlaufende Handlung zu erfinden, und als ihren Mittelpunkt, von dem Alles ausgeht und um den Alles sich dreht, einen innerlich wie äußerlich gleich bewegten und tätigen Helden aufzustellen; seine Erzählungen sind nicht bloß dem Umfange, sondern auch dem spezifischen Gewichte nach wirkliche Romane. Er hält sich mit Naturschilderungen, philosophischen Betrachtungen und sonstigem Beiwerk wenig auf, sondern er bleibt bei der Sache und verfolgt, um zum Ziele zu gelangen, den kürzesten Weg. Er erzählt und schildert so einfach und schlicht, so unparteiisch und streng sachlich, dass man kaum an eine Dichtung und an einen Künstler denkt, sondern eine wirkliche Begebenheit und einen bloßen Berichterstatter zu hören glaubt. Seine Helden und alle seine Charaktere erscheinen uns wie persönliche Bekannte, wie die Personen unserer täglichen Umgebung, wo nicht gar — wie wir selber. An ihnen ist nichts verschönt, nichts verdeckt, nichts verhehlt, nichts entschuldigt, sondern furcht- und erbarmungslos Alles enthüllt, Alles verraten und ausgeplaudert; wir sind ob ihrer Nacktheit und Hässlichkeit nicht selten erschreckt und geradezu beleidigt, aber wir dürfen den Erzähler nirgends der Unwahrheit, nicht einmal der Übertreibung anklagen, sondern wir müssen errötend oder erbleichend den Kopf senken. Endlich sind auch die Mittel, welche Pisemski aufwendet, höchst einfach und fast trivial; die Motive, welche er seinen Helden unterlegt, nichts weniger als gesucht und verwickelt; er verfährt anscheinend ohne alle Berechnung und tatsächlich ohne jede Effekthascherei: allein trotzdem weiß er zu fesseln und zu überraschen; die Erwartung des Lesers ist keine fieberische, aber sie steigert sich im Laufe der Geschichte mehr und mehr, sie erreicht ihre Höhe erst gegen das Ende, dann aber auch ihre volle Lösung.

Nur Eins fehlt den Pisemski'schen Dichtungen, und das ist freilich nicht wenig: — der poetische Duft, die poetische Weihe. Sie können nicht erbauen, nicht erquicken, nicht erheben; kaum geistig oder sittlich anregen und fördern. Sie drücken uns in die Sphäre des prosaischen Lebens nieder, sie vernichten alle Illusionen, alle Ideale.

Das Gesagte bestätigt vollauf „Tausend Seelen"; ein Eoman Pisemski's, der vor etwa zehn Jahren erschien und bedeutendes Aufsehen erregte, insofern eiern treues farbensattes Bild des modernen Russland, des russischen Lebens in Staat und Gesellschaft liefert.*) Der Held, ein Literat, Namens Kalinowitsch , ist ein hartgesottener Egoist. Um seine Eitelkeit, seinen Stolz, seine sinnlichen Gelüste, seinen auf bloß äußerliche Erfolge gerichteten Ehrgeiz zu befriedigen, verübt er, ohne sonderliche Gewissensbisse und fast ohne zu schwanken, eine Gemeinheit nach der andern. Er verführt, misshandelt und verrät das Mädchen, das ihn abgöttisch liebt und ihm an geistiger Begabung keineswegs nachsteht; er bringt über ihre Familie, die ihn mit Wohltaten überhäuft hat, Schmach und Elend; er ruft die Geliebte zurück, als er krank und von Allem entblößt darniederliegt; er lebt von ihrem Gelde, bis dieses aufgezehrt ist, und verlässt sie dann zum zweiten Male. Er peinigt und misshandelt auch die Frau, die er um ihres Vermögens willen geheiratet hat, so dass sie ihm endlich davonläuft; brutale Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit kennzeichnen ihn auch da noch, als er in hoher Beamtenstellung für Gesetz und Recht eintritt, aber einer aristokratisch bürokratischen Clique gegenüber, kläglich unterliegt. Dieses Unterliegen ist hier nur eine Konsequenz des bitteren Realismus, der tiefpessimistischen Lebensauffassung des Dichters; aber in Erwägung des Helden und seiner eigenen Sünden entspricht es auch ganz wohl der poetischen Gerechtigkeit, der tragischen Sühne, denen so der Verfasser, wahrscheinlich wider Willen und Wissen, Ausdruck gegeben hat.

*) Eine treffliche deutsche Übersetzung gab L. Kayssler; 2 Bde. Berlin, Louis Gerschel’s Verlagsbuchhandlung, 1870.

Um nun wieder auf Turgeniew zurückzukommen, so bleibt vor Allem dessen Stil, dessen Sprache zu bewundern. Man rühmt von der russischen Sprache, dass sie äußerst reich, bildsam und klangvoll sei; dass sie die Kraft und Tiefe der germanischen , den Wohllaut und die Formenschöne der romanischen Sprachen in sich vereinige. Tatsache ist ihre große Assimilations Fähigkeit, die hohe Ausbildung, welche sie in so erstaunlich kurzer Zeit erfahren hat. Turgeniew sagt im „Rauch" davon: „Peter der Große überflutete unsere Sprache mit holländischen, französischen und deutschen Wörtern; er schüttete die Fremdwörter scheffelweise in den russischen Magen. Anfangs kam allerdings ein Ungeheuer zum Vorschein, aber mit der Zeit geschah die Verarbeitung — und jetzt, gehorsamer Diener vor unseren Stilisten! Sie übernehmen es gewiss, ohne auch nur ein einziges nichtrussisches Wort zu gebrauchen, irgend eine beliebige Seite aus Hegel — ja, ja, ich sage aus Hegel, zu übersetzen". Seit Puschkin und Lermontow zeigt sich bei den russischen Dichtern, auch wenn sie sich in den künstlichsten Formen bewegen, jene Klarheit des Ausdrucks, jene Einfachheit der Darstellung, jene glückliche Wahl und durchsichtige Plastik der Bilder und Figuren, welche die Blüte und Reife einer Sprache beurkunden. Nach Puschkin und Lermontow ist Turgeniew der größte Sprachbildner und Sprachbereicherer; sein Stil übertrifft den seiner beiden Vorgänger noch an Glätte und Präzision, seine Sprache ist noch musikalischer und hinreißender. Für ihn scheint es kaum Schwierigkeiten und Hindernisse zu geben; wenn er etwas sagen will, so weiß er auch stets den bezeichnendsten und erschöpfendsten Ausdruck dafür zu finden. Für ihn ist die Sprache ein Instrument, dem er jeden beliebigen Ton zu entlocken weiß, auf dem er mit vollendeter Virtuosität alle möglichen Weisen spielt, mit dem er die Herzen der Hörer nach Gefallen bewegt und lenkt. Und doch verschmäht er alle prunkenden Worte und bloßen Redensarten, in allen seinen Schriften ist keine leere Phrase, keine abgeblasste Floskel zu finden. Seine Sprache ist eine einfache, aber von der edlen Einfachheit, die nur einem echten Dichter und einem originellen Geiste zu Gebote steht, und mit der es kein zusammengetragener Schmuck aufnehmen kann.

In Deutschland ist Turgeniew's Ruhm erst im Aufsteigen begriffen, während er in Russland, aus Ursache der „Väter und Söhne" und des „Hauch", mancherlei Anfeindung und Verkümmerung zu erleiden hat. Wie der Dichter in einem Briefe, den wir einzusehen Gelegenheit hatten, mit vielem Humor mitteilt, äußerte sich kürzlich die gelesenste russische Zeitung über ihn und seine Verehrung in Deutschland folgendermaßen: „ Der beste Beweis des herabsinkenden Niveaus von Deutschlands geistiger Macht ist der Beifall, den unsere Nachbarn dem Herrn Turgeniew, diesem abgetragenen und in die Rumpelkammer geworfenen Schriftsteller, neuerdings zollen". — Man kann daraus ersehen, wie groß die Erbitterung ist, welche Turgeniew in Russland hervorgerufen hat; und welcher Albernheiten und Gehässigkeiten die Russen fähig sind, wenn sie sich an ihrer National-Ehre gekränkt fühlen. Denn ohne Frage ist Turgeniew nach Puschkin, Gogol und Lermontow das größte dichterische Talent, welches Russland hervorgebracht hat, und die Russen besitzen gegenwärtig Niemanden, welchen sie ihm auch nur an die Seite steilen könnten. Turgeniew ist überhaupt unter allen lebenden Novellisten einer der Ersten. Auch in Deutschland, Frankreich und England finden sich zur Zeit nur Wenige, die es auf dem Gebiet der Novelle mit ihm aufnehmen können.

Leider ist er mehr ein negativer als ein positiver Dichter, besonders seitdem er sich fast ausschließlich im Salon bewegt. Seine Vorwürfe bilden fast immer die korrumpierte höhere Gesellschaft, nicht mehr das frische unverdorbene reichbegabte Volk. In seinen Dichtungen lebt das ungesunde absterbende Russland, nicht das neuaufblühende hoffnungsvolle Vaterland. Alle seine Helden sind matt und siech, groß nur im Irren und Fehlen, voll Selbstsucht und Menschenverachtung; ohne Willen und Vermögen, sich dem Gemeinwesen ein- und unterzuordnen, sich der Welt und ihren Brüdern nützlich zu machen. Und es bleibt fraglich, ob Turgeniew denn etwas Anderes schaffen konnte, ob er trotz seines großen Talents wirklich auch die Kraft zu positiven Schöpfungen besitzt? Er selber ist von der Blasiertheit seiner aristokratischen Landsleute keineswegs frei, der Weltschmerz steckt ihm tief in den Gliedern, und sein Lebensprinzip ist der Pessimismus. Blasiertheit, Weltschmerz und Pessimismus aber bedingen immer eine gewisse Ohnmacht des Dichters.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,