Die Widersprüche in Alexanders Charakter

Wenn man bedenkt, dass dieses lästige Leben ungefähr vier und ein halbes Jahr dauerte und die besten Jünglingsjahre Alexanders umfasste, und dass seine trostlosen Eindrücke einen Menschen trafen, der wenig für das Leben vorbereitet war, so muss man, wie mich dünkt, anerkennen, dass dies alles Umstände waren, welche den glücklichsten Charakter verderben konnten, und wenn Alexander später durch seinen Argwohn und sein Misstrauen unangenehm überraschte, so waren dazu leider in der Vergangenheit viele Ursachen vorhanden gewesen. Andererseits verging in Betreff ernster Studien die ganze Zeit fruchtlos; die Zeit wurde auf Wachtparaden und militärische Exerzitien verwendet, und sie scheinen zuletzt Alexander selbst den Geschmack am Militarismus eingeimpft zu haben, den man früher an ihm nicht merkte; mit solcher Vergangenheit bestieg Alexander den Thron. Bereits von Anfang an zeigten sich bei ihm alle Keime der künftigen Regierung; er war von den besten Absichten und erhabensten Plänen erfüllt, aber sie blieben sentimentale Schwärmereien; die langsame, ausdauernde Arbeit, welche zu der Erfüllung dieser Unternehmungen nötig war, schreckte ihn ab, und er wurde bald abgekühlt für Dinge, für welche er sich vor kurzem noch begeisterte. Kaum bestieg er den Thron, als er sich schon seiner müde fühlte, und er träumte von der Zeit, wo er, nachdem er Russland glücklich gemacht, fern von den Menschen die Früchte seiner Tätigkeit genießen würde. In den Briefen an Laharpe bald nach dem Regierungsantritt spricht er schon davon, dass es, nachdem er Russland Freiheit und Glück gegeben, seine erste Sorge sein werde, auf den Thron zu verzichten und in irgend einer Ecke Europas sich einsam anzusiedeln, um das Gute, welches er dem Vaterlande verschafft, zu genießen. Seine Pläne waren sehr weit umfassende, aber wie er früher keine Gelegenheit und Möglichkeit hatte, sie ernsthaft zu überdenken und irgend einen derselben praktisch durchzuführen, so erreichte auch jetzt ihre Realisierung nie den kühnen Flug seiner Träume; jener Mangel an Energie, an fester Entschlossenheit, an unablässiger Verfolgung einer Idee, jener Mangel, welcher früher eine notwendige Bedingung seines Lebens war, blieb ihm auch jetzt eigen, wo er völlig Herr seiner selbst und seiner Umgebung war.

Er wollte die Grundinstitutionen des Staates reformieren aber das, was gewöhnlich in den Träumen so klar scheint wird bei der Verwirklichung trübe und schwierig; so wurden von den in Aussicht genommenen Reformen nur die minderwichtigen Sachen verwirklicht. In seiner Phantasie herrschte der großmütige Drang, Russland frei zu machen; aber die Erziehung gab ihm keine klaren Begriffe davon, worin eigentlich diese Freiheit bestehen könnte, und er wurde von Gereiztheit ergriffen, sobald er irgend welchen schwachen Schimmer dieser Freiheit merkte, trotzdem, dass er soeben laut seine liberalen Ansichten geäußert hatte, und so brachte er die Unbedingtheit seiner Alleinherrschaft jenen in Erinnerung, welche sich auf die von ihm geäußerten liberalen Prinzipien verlassen wollten.


„Ich werde nie imstande sein, mich an den Gedanken, despotisch zu regieren, gewöhnen zu können", schrieb er eben damals an Laharpe, sich über die Unbeschränktheit seiner Macht beklagend. „Ich bin überzeugt, sagt der unparteiische Zeitgenosse, dass in vielen Fällen die unbeschränkte Macht Alexander lästig war, obwohl es ihm mehr oder minder leicht gewesen wäre, sich davon zu befreien, hätte er dazu den festen Willen gehabt. Er war nicht imstande, immer Alleinherrscher zu sein; manchmal wollte er Mensch bleiben. Oft fehlte es ihm an Mut, wenn auch nicht an Macht, um, wie er es wohl konnte, despotisch in betreff mancher zu handeln, welche ihm missfielen. Es ist bekannt, dass er auf wichtigsten Posten, z. B. auf dem Ministerposten Leute duldete, die er völlig verachtete, die sich aber den Anschein gaben, seine Kälte und Verachtung nicht zu verstehen. Aber endlich kam der Tag, wo sie nolens volens ihren Platz verlassen mussten: Dann begannen sie über die vermeintliche Doppelzüngigkeit Alexanders zu zetern, der noch am Vorabende der Ungnade Beziehungen zu ihnen unterhielt".

Aber wie groß auch die Unbeständigkeit und der Wankelmut seines Charakters sein mochten, so gab es dennoch Zeiten und Fälle, wo er im Gegenteil eine merkwürdige Ausdauer zeigte, die sogar seine strengen Richter in Erstaunen setzte. Solche Energie bewies er besonders in der Zeit seiner Kriege mit Napoleon, die überhaupt die Epoche der höchsten Entwicklung seiner moralischen Kraft war. Alexander, gewöhnlich unentschlossen und unbeständig, ohne in sich die Kraft zur Überwindung der Schwierigkeiten finden zu können, erregte damals durch sein festes Streben zum einmal gewählten Ziele Verwunderung, obwohl die Ereignisse anfangs keineswegs einen glücklichen Verlauf nahmen, und er einen sehr schwierigen Stand hatte. Ich will hier die Worte eines Ausländers anführen, welche darum von Bedeutung sind, weil sie ein unbestechliches Urteil enthalten. Der berühmte preußische Minister Stein empfing einen durchaus nicht günstigen Eindruck von Alexanders Charakter bei der ersten Begegnung mit ihm vor dem Tilsiter Frieden — wie überhaupt die damalige politische Lage Russlands in Bezug auf Napoleon den Hoffnungen des deutschen Patriotismus nicht entsprach.

Im Jahre 1812 vom Kaiser Alexander nach Russland berufen und höchst wohlwollend von ihm empfangen, änderte Stein dennoch wenig an seiner früheren Meinung:

Der Hauptcharakterzug Alexanders besteht in seiner Gutherzigkeit, Freundlichkeit, in dem Wunsche, zum Glücke und der geistigen Entwicklung der Menschheit beizutragen. Sein Lehrer Laharpe aus Genf hat ihm früh Hochachtung gegen den Menschen und seine Rechte eingeflößt, die er nach seiner Thronbesteigung aufrichtig zu realisieren suchte. Der Kaiser beschäftigte sich anfangs mit den Schulanstalten, mit einer Verbesserung der Lage der Bauern. Allein es fehlte ihm an geistiger Kraft zur Erforschung der Menschheit, an Fähigkeit, um seine Unternehmungen trotz aller Hindernisse durchzuführen und den Willen der Gegner zu beugen; seine Gutherzigkeit wird entstellt, wird zu Charakterschwäche, und er nimmt nicht selten Zuflucht zur Waffe der List und Schlauheit, um seine Zwecke zu erreichen. Diese letzten Eigenschaften wurden bei ihm durch die Unterweisungen seines Erziehers, des Fehlmarschall Saltykov, entwickelt, eines alten Höflings, der ihn früh dazu anhielt, der Großmutter und ihren Lieblingen, auch der Laune des Vaters zu gefallen, späterhin aber musste die Strenge des Vaters jene Gewohnheiten in ihm befestigen.

Aber als Stein im Jahre 1813 nach Deutschland zurückgekehrt war, setzte er seine Freunde in Erstaunen wegen seines grenzenlosen Vertrauens zu Alexander, so dass man ihn sogar der blinden Voreingenommenheit für Russland beschuldigte. Seine damaligen Äußerungen zeigen die größte Hochachtung und wurden sogar durch die Verschiedenheit der Ansichten, die zwischen ihm und dem Kaiser in den Jahren 1814-1815 entstand, nicht erschüttert:

Der Kaiser Alexander, schrieb Stein zu Anfang des Jahres 1814 in einem intimen Briefe, handelt beständig in der glänzendsten und herrlichsten Weise. Man kann sich nicht genug wundern, bis zu welchem Grade derselbe fähig ist, sich einer Sache hinzugeben, sich selbst aufzuopfern, sich für alles Große und Edle zu begeistern, möge es der Niedrigkeit und Gemeinheit nicht gelingen, seinen Aufflug zu hemmen und Europa zu hindern, in seinem ganzen Umfange das Glück zu benutzen, das ihm die Vorsehung bietet *).

*) Pertz, Steins Leben III, 541. Vgl. das Buch Life and times of Stein by J. R. Seeley (Professor der neueren Geschichte in Cambridge). London 1878. Daraus sind die auf Russland bezüglichen Episoden im „Russkij Archiv" übersetzt. 1880. II, 437.

Diese Entwicklung des Charakters Alexanders erklärte man dadurch, dass der Kampf mit Napoleon, die Lösung des Schicksals Europas ihm eine Tätigkeit boten, die seine Eitelkeit und Ruhmsucht verlockten; zweifelsohne ist dem aber so, dass Alexanders Energie dadurch angefacht wurde, dass er diesmal von der Notwendigkeit seines Unternehmens und von dessen Wohltätigkeit für die Menschheit völlig überzeugt war, auch deshalb, weil diesmal seine Tätigkeit eine vollständige unbedingte Stütze in seinem Volke fand. Dies weckte alle seine moralischen Kräfte und schuf feste Entschlüsse, sowie eine Tätigkeit voll Ausdauer, was man bei keinem seiner früheren Unternehmen erblicken kann. Dem gesellte sich noch ein neues anregendes Element hinzu, welches früher nicht mitwirkte, das religiöse. In der ersten Periode ihrer Entwicklung verstärkte diese Religiosität seine Ergebenheit für diese Idee, ohne noch in den pietistischen Fatalismus Überzugehen. Im Jahre 1815 gab sich Alexander zugleich seiner biblischen Pietät und den liberalen Plänen hin; später verschwanden die letzten.

Das Ende der napoleonischen Kriege rief neue Züge in Alexanders Stimmung hervor. Nach langer Abwesenheit, die mit glänzenden Triumphen endigte, nach Russland zurückgekehrt, schien er für sein Land erkaltet: die europäische Politik schob sich vor die inneren Interessen seines Staates, in welchen er keine Genugtuung fand, und wo er sich endgültig für machtlos erkennen musste, irgend welche großen Reformen vorzunehmen. Die apathische Faulheit und Teilnahmslosigkeit in betreff dieser Angelegenheiten bewirkte endlich, was Masson schon lange vorher für möglich hielt: der allmächtige Mann im Staate wurde Arakceev. Am meisten wandte Alexander seine Aufmerksamkeit den militärischen Angelegenheiten zu, nämlich wegen ihres Zusammenhanges mit der europäischen Politik: der Gedanke, eine sehr große Armee zu schaffen, die Russlands Einfluss und Europas Ruhe sichern könnte, rief eine der unglücklichsten Schöpfungen der Zeit Alexanders hervor — die militärischen Ansiedlungen. Jene Unkenntnis des wirklichen Volkswesens, welche Alexanders Erziehung verschuldet hatte — und welche übrigens nicht ausschließlich allein sein Mangel war — ließ ihn nie die ganze Verderblichkeit und Unmenschlichkeit dieser Institution begreifen, sowie die Gerechtigkeit aller Verurteilungen, welche er über sie zu hören bekam. Die Mängel in der Verwaltung, die Menge von Missbräuchen, die Beraubung des Staatsschatzes, die Bestechlichkeit des Gerichtswesens — alles dies erregte in ihm nur gallige Empörung, jedoch ohne dass er wirkliche Maßnahmen zu deren Ausrottung ergriffen hätte. Diese Maßnahmen hätten nur folgende sein können: die Verbreitung von Bildung und Einführung gewisser vollkommenerer Institutionen, wie Befreiung der Bauern, eine gewisse Pressefreiheit, öffentliches Gerichtswesen u. dgl., — Maßregeln, auf die schon damals die besten Repräsentanten der öffentlichen Gesinnung hinwiesen.

Für Alexander war dies aber unmöglich. Im Anfange seiner Regierung erwarb er sich um die russische Bildung unvergessliche Verdienste durch Gründung von Universitäten und sonstiger Lehranstalten, aber die wahren Aufgaben und der Bildungsgang waren ihm wenig bekannt; die Pietisten und Obskuranten jammerten damals über die falsche Bildungsrichtung, und Alexander war leider, wie es sehr oft mit Personen seiner Stellung der Fall ist, so wenig maßgebend in dieser Sache, dass er sich durch diese vermeintlichen Gefahren der Aufklärung, die noch in den Windeln lag, einschüchtern ließ. Das Ende der Regierung zeichnete sich durch den gröbsten Obskurantismus aus. Andererseits herrschte auch dieselbe Inkompetenz in folgendem: Die „gesetzlich-freien" Institutionen beschäftigten ihn seit langem, aber der schwärmerische Charakter seines Liberalismus bewirkte es, dass ihn nur grandiose Pläne beschäftigten, mit denen er mit einem Male Russland beglücken könnte; er trachtete nach Einführung von vollständigen konstitutionellen Formen — und fürchtete das zuzulassen, was ohne jegliche Konstitution möglich war. Nämlich die Frage der Institutionen stellte in seinen Augen nichts Reelles vor, und er konnte sich wohl schwer eine praktische Wirkung derselben denken; das Leben selbst, welches solche Reformen erheischte, war ihm auch wenig bekannt, so dass er einerseits die wesentlichen Erscheinungen in demselben von nebensächlichen und kleinlichen nicht unterscheiden konnte, andererseits in ihm das Vorhandensein von Elementen voraussetzte, welche es nicht besaß.

So schwärmte er von der Möglichkeit der Verbesserung des Lebens durch die Proklamierung der Prinzipien der heiligen Alliance und durch die mechanische Verbreitung der Bibel; oder er hielt die russische Gesellschaft für erfüllt von den revolutionären Ideen und dem Carbonarismus. Infolgedessen begann er außerordentlich jener Reaktion zuzuneigen, die ihn später beherrschte; er begann furchtsam zu werden und schließlich nutzten die Reaktionäre dies vortrefflich aus.

Gleichzeitig blieb er persönlich in vielem seinen früheren besten Neigungen treu, trotz seines Pietismus und abgesehen davon, dass er das Reaktionsprogramm in der europäischen wie in der inneren russischen Politik vollkommen angenommen hatte. Nicht selten offenbarte er eine edle Toleranz anderen Meinungen gegenüber und bewies eine liebenswürdige Aufmerksamkeit gegen Männer, deren Gedankenrichtung er als gefährlich liberal genau kannte.

Zur Zeit der heiligen Alliance begannen sich bei Alexander besonders Züge zu offenbaren, die sogar in der russischen Gesellschaft Antipathie gegen ihn hervorriefen. Teilnahmslos Interessen gegenüber, welche den denkenden Teil der Gesellschaft bewegten, verhielt er sich erbittert gegen das russische Leben, welches im Vergleich mit dem europäischen so armselig und unschön war; dagegen gab er sich fremden Interessen hin und baute Pläne, in welchen sich keine Sympathie für die besten Repräsentanten der russischen Gesellschaft zeigte. In diesem Sinne war auch selbst der Plan der heiligen Alliance. Auf die Gesellschaft machte es einen unangenehmen Eindruck, dass Polen, welches man für erobert betrachten durfte, eine Repräsentation bekommen sollte, während Russland bei seiner alten Ordnung blieb. Und in der Tat äußerte Alexander nicht einmal seine Vorliebe für Polen: er nahm an demselben noch seit den Zeiten Kosciuskos Anteil, und seit damals hatte er sich vorgenommen, sein Schicksal zu sichern; Polen kam ihm vor als ein Teil Europas unter russischer Herrschaft, und schon lange vor dem Wiener Kongress äußerte er seine Sympathien für dieses in einer Weise, welche die Russen betrübte und sogar empörte. Unter dem Einfluss dieses Gefühls verfasste Karamzin seine bekannte Denkschrift über Polen. Später erregten Alexanders Beziehungen zu Polen auch auf einer ganz anderen Seite, unter den liberalen Patrioten, Erbitterung. Es bildete sich die Meinung, dass Alexander Russland abhold wäre; man sagte, dass er die russische Sprache und Literatur nicht liebe, ja sie sogar nicht kenne u. s. w. Mit dem letzteren hatte es wohl seine Richtigkeit; das erste erklärt sich hinreichend aus den Aufwallungen seiner galligen Gereiztheit infolge der Übelstände, welche Alexander in Russland erblickte und denen er nicht abhelfen konnte; manchmal aber durch das Aufbrausen eines kleinlichen Ärgers, da, wo er selbst im Unrechte war.

Infolgedessen begannen in den liberalen Kreisen die Urteile über Alexanders Charakter äußerst ungünstig auszufallen. Ein Beispiel davon finden wir in den Memoiren von Varnhagen:

Alexander hatte nie einen starken Geist, sagte ein Russe (im Jahre 1822), er ist nur ein ganz mittelmäßiger Kopf und liebt auch nur die Mittelmäßigkeit. Ein wirkliches Genie, ein Geist, ein Talent schüchtern ihn ein, und er benutzt sie nur mit Widerwillen, mit abgewandtem Gesicht nur in den äußersten Fällen. Niemals ist er auch nur eine Minute lang aufrichtig und ungekünstelt, immer steht er auf Vorposten. Seine wesentlichsten Eigenschaften sind Eitelkeit und Schlauheit der Verstellung; wenn man ihm ein Frauengewand anzöge, so könnte er recht gut eine Frau abgeben . . . . In russischer Sprache könnte er kein eingehendes Gespräch führen *).

*) Varnhagen von Ense, Blätter aus der preuß. Geschichte. Leipzig 1868—69. II, 188.

Zu solchen ungünstigen Schlüssen kamen die Leute, die durch die Ungültigkeit und Schwäche Alexanders in der inneren Verwaltung enttäuscht waren. Das Endurteil war ein zu schroffes, aber in der Tat, Alexanders Geist war nicht ganz regelrecht und nur nach einer Seite hin entwickelt. Der Kaiser Alexander, — sagte Frau von Staël, auf die er einen starken Eindruck machte, — ist ein Mann von einem merkwürdigen Geiste und Kenntnissen, und ich glaube nicht, dass er in seinem Reiche einen Minister finden könnte, der ihn in Hinsicht auf die Beurteilung und Leitung der Geschäfte überträfe", und einen derartigen Eindruck machte er auf viele. Er hatte einen schnell erfassenden durchdringenden, aber keinen tiefen Verstand; am stärksten war er nämlich in der Diplomatie, mit der er sich abzugeben liebte; er legte hier viel Schmiegsamkeit und Gewandtheit an den Tag, aber es mangelte ihm an wirklicher Tiefe, die für das Verständnis des Praktischen unentbehrlich ist, und in anderen Fällen einfach — an Kenntnis des russischen Lebens. Und eben darum außerstande, einen Weg zu wählen, schwankte er unentschieden in den inneren Angelegenheiten sowohl, als in der äußeren Politik, wo die praktischen Folgen der theoretisch gefassten Maßnahmen zu Tage treten.

So war es in der Angelegenheit der „Biblischen Gesellschaft", der polnischen Verfassung und in einer Menge anderer solcher Fälle, aber am meisten, wie es scheint, in der griechischen Frage, wo der Widerspruch zwischen der von ihm gegen die Griechen befolgten reaktionären Politik und den augenfälligen Forderungen der Gerechtigkeit und Menschenliebe für ihn der Gegenstand einer peinlichen seelischen Unruhe wurde. Für die Griechen sprach entschieden alles, was er nur über Menschenrechte und Völkerfreiheit dachte; aber man redete ihm ein, dass diese Ungerechtigkeit den Griechen gegenüber für die Befestigung den rettenden Prinzips und der Ruhe Europas nötig wäre, und so blieb er hilflos zwischen den Widersprüchen und ertrug sogar Russlands Erniedrigung, indem er schließlich der Türkei unwürdige Zugeständnisse machte. Indem er das Prinzip der Glaubenstoleranz in der biblischen Angelegenheit zuließ, sah er nicht voraus, dass dieselbe zu einem Zusammenstoß mit der traditionellen Unduldsamkeit führen könne, und er ließ das Prinzip bei dem ersten solchen Konflikt im Stich; indem er Polen eine Verfassung gab, ließ er den Gedanken nicht zu, dass dies von ihm irgendwelche Abtretung seiner Macht erfordern könne u. s. w. Er hörte allerlei Meinungen mit an, und schließlich begann er sogar, sich von den Extravaganzen des Archimandriten Fotij zu überzeugen. Diese Unsicherheit in seinen Prinzipien machten seine politische Tätigkeit, die innere sowohl als die äußere, schwankend und widerspruchsvoll. Man beschuldigte Alexander überhaupt der Unaufrichtigkeit und Inkonsequenz in seiner Diplomatie, man verließ sich nicht auf seine Worte, man traute seinen Versprechungen nicht. Nach den Worten Napoleons war er ein „nordischer Talma", ein „byzantinischer Grieche". Chateaubriand sagte, dass Alexander „aufrichtig darin wäre, was sich auf die Menschheit beziehe, aber heuchlerisch wie ein Halbgrieche in der Politik". Eine interessante Charakteristik in dieser Hinsicht finden wir in dem Urteil des französischen Gesandten in Petersburg, des Vicomte La Ferronné, eines Mannes, der überhaupt mit ihm sympathisierte: „Was mir täglich schwieriger wird, zu verstehen, das ist der Charakter des Kaisers selbst," so schreibt er an Chateaubriand im Mai 1823 *).

*) Dieser Brief wurde in Chateaubriands Buche über den Kongress in Verona abgedruckt, aber bei der Veröffentlichung des Werkes wurden diese Seiten ausgelassen, wahrscheinlich auf Grund irgendwelcher russischer Einmischung. Der Brief ist bei Schnitzler angeführt. Vgl. Histoire intime. Paris 1854. I, 62—63.

„Ich glaube nicht, dass man besser als er die Sprache der Aufrichtigkeit und Geradheit sprechen kann: das Gespräch mit ihm hinterlasst immer einen günstigen Eindruck; man verlässt ihn in der vollen Überzeugung, dass dieser Herrscher mit den schönsten Eigenschaften eines Edelmannes alle Eigenschaften eines großen Monarchen, eines Mannes von tiefem Geiste und größter Energie vereinigt. Er redet vorzüglich, seine Beweisgründe sind höchst überzeugend; er spricht mit Beredsamkeit und mit der Wärme eines Menschen von Überzeugung. Aber zuletzt wird man durch die Erfahrung, durch die Geschichte seines Lebens und durch das, was man tagtäglich sieht, gewarnt, nicht zu viel alledem zu vertrauen. Zahlreiche Beispiele von Schwäche beweisen, dass die Energie, die er in seinen Worten äußert, nicht immer in seinem Charakter liegt. Aber andererseits kann dieser schwache Charakter plötzlich Anfällen von Energie und Gereiztheit unterworfen sein, und ein derartiger Anfall kann genügen, damit er die schroffsten Entschlüsse fasst, deren Folgen unberechenbar sind. . . . Er ist auf uns ein wenig eifersüchtig; er kann sich noch nicht damit befreunden, dass Paris immer noch die Hauptstadt Europas, Petersburg dagegen nur ein Prachtbau auf einem Sumpfe ist, den niemand besuchen will, und dessen Bewohner womöglich öfters sich von da entfernen oder fortlaufen. Endlich ist er äußerst misstrauisch , — Beweise der Schwäche; und diese Schwäche ist ein Unglück um so mehr, als dieser Kaiser (wenigstens denke ich so) im vollen Sinne des Wortes der ehrlichste Mensch ist, den ich kenne. Es ist möglich, dass er oft Böses tun wird; jedenfalls wird er immer das Gute wollen."

In den letzten Jahren verfiel Alexander immer mehr in eine trübe Stimmung, die übrigens seine persönliche Weichherzigkeit nicht vernichtete, — auch in Religiosität. Diese Stimmung, die teilweise aus seinem körperlichen Zustande stammte, hatte auch moralische Gründe: er erkannte die Misslichkeiten seiner Regierung, weil Stimmen der Unzufriedenheit zu ihm drangen, und er selbst sah viel rohe Unordnung und Missbrauch, welche nicht selten von eben jenen ausgingen, denen er die verschiedensten Verwaltungszweige anvertraute; er konnte nicht die reaktionären Forderungen der äußeren Politik, die ihm unvermeidlich schienen, mit der öffentlichen Meinung und den eigenen noch nicht vergessenen Idealen versöhnen. Sein Ehrgeiz litt, wenn er die nicht beneidenswerte Gegenwart mit der Vergangenheit, Russland mit Europa verglich; manchmal befürchtete er innere Gefahren, weil Metternich ihm von revolutionären Ränken in Russland selbst sprach; endlich erhoben sich vor ihm jetzt noch lebhafter die düsteren Erinnerungen an seinen Regierungsantritt, die, wie es scheint, ihn nie verließen *).

*) Dies bemerkte Fürst Kozlovskij im Jahre 1812. Dorow, Fürst Kosloffsky. Leipzig 1846. S. 8.

Er beschäftigte sich sehr wenig mit den inneren Angelegenheiten Russlands, indem er dieselben seinen Ministern anvertraute, an deren Spitze Arakceev stand; er suchte Zerstreuung durch fortwährende Reisen ins Ausland und ins Innere Russlands, und bemühte sich, in der Religiosität Ruhe zu rinden. Es ist bekannt, in was für extremen und absonderlichen Formen diese seine Stimmung sich äußerte. Er war von der offiziellen Religion, die so oft mit völliger Herzensstarrheit und Selbstsucht vereint ist, nicht befriedigt, und suchte in der Religion einen versöhnenden und besonders einen mystischen Inhalt: er begeisterte sieh für die Herrnhuter, für Frau von Krüdener, für die Quäker; er unterhielt sieh sogar mit dem Archimandriten Fotij, in dem er eine tiefe Frömmigkeit vermutete *).

*) Vergl. die Aufsätze über die biblische Gesellschaft „Vestnik Evropy" 1868, Buch 8—9, 11—12; „Der Kaiser Alexander und die Quäker" , ibid. 1869, Oktober: „Frau von Krüdener" ebend. 1869, August u. September.

Aber wie merkwürdig es auch ist, die Beschreibung seiner Gebete mit den Quäkern zu lesen, was für Mutlosigkeit sich auch in seiner demütigen Selbsterniedrigung zeigte, so kann man ihm doch nicht eine traurige Sympathie versagen, weil sich darin immerhin menschliche Regungen dieses Charakters offenbarten. So verschiedenartig äußerte sich diese Persönlichkeit: bald hell und wohltuend, bald düster und bedrückend für das öffentliche Leben. Was auch die Quellen dieser Doppelseitigkeit sein mochten, so fielen sie doch nicht zufällig mit dem doppelseitigen Charakter der Zeit selbst zusammen, in welcher Alexanders Tätigkeit sich abspielte. In Europa war diese Zeit von dem Kampfe zwischen den von der Revolution aufgestellten Prinzipien und der Rückbewegung des Konservatismus erfüllt, — ein Kampf, der die tiefsten politischen und sozialen Grundanschauungen der alten Gesellschaft ergriff, einen entschiedenen Schlag gegen die alte monarchische Tradition führte und das System der europäischen Staaten umänderte. In dem russischen gesellschaftlichen Leben begann auch unter dem Einflüsse der europäischen Ideen und unter der unmittelbaren Einwirkung der vor sich gehenden Ereignisse der Kampf zwischen zwei verschiedenen Richtungen, — zwischen dem Bestreben, dem russischen Leben die europäischen sozial-politischen Ideen und Institutionen zu verleihen, und zwischen dem konservativen Stillstande, der seinerseits die Anstauungen und das Verfahren der europäischen Obskuranten Reaktion anzuwenden begann. Alexander stand nicht über seiner Zeit, und in seiner Tätigkeit spiegelten sich die unruhige Gärung und der Kampf dieser Elemente, der europäischen und der heimischen. Wir werden aber die moralische Würde Alexanders höher zu schätzen wissen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die zeitgenössischen Monarchen und seine Verbündeten ohne jegliches Bedenken sich mit vollem Vergnügen der Reaktion unterwarfen; dass sie auch selbst solche Zweifel wie Alexander nicht hatten und dass endlich sich offen auf den liberalen Weg zu stellen und von ihm nicht zu weichen, zu jener Zeit und bei der Lage Alexanders, sowie bei den damaligen Verhältnissen Europas eine Sache war, deren nur wirklich ein genialer Geist von großer Kühnheit fällig gewesen wäre.

Bei dieser Sachlage ist es schwierig, zu bestimmen, inwiefern diese seine Tätigkeit einerseits der gesellschaftlichen Entwicklung förderlich war, und wie weit sie andererseits dieselbe störte und hinderte. Das Fazit einer solchen Rechnung zu ziehen, ist nicht leicht, aber kaum fällt es zu Ungunsten derselben aus. In unmittelbarer Beziehung zum gesellschaftlichen Leben stellte Alexander überhaupt, trotz aller Mängel, eine besondere, für die russischen Sitten sehr ungewöhnliche Erscheinung vor. Auch in seinen Händen war die unbeschränkte Macht manchmal grausam und despotisch, aber zur selben Zeit offenbarte Alexander so viel aufrichtiges Bestreben für das Gute und Gerechte, dass er sogar ein warmes Mitempfinden in denen erregte, die sich in den Hoffnungen auf seine gesellschaftlichen Reformen getäuscht sahen. Es steht außer Zweifel, dass seine persönlichen Bestrebungen stark das Aufleben der gesellschaftlichen Interessen förderten. Aber außer dieser Initiative hatte seine vernünftige Meinungsduldsamkeit einen großen Einfluss, — wenigstens in seinen besten Augenblicken. Für die russischen Sitten war diese Duldsamkeit etwas Neues: Zwar milderte Katharina die altherkömmliche Strenge der Regierungssitten und wollte scheinbar die alte Stimmlosigkeit der Gesellschaft abschaffen (teils aus natürlicher Einsicht, die jeder unnötigen Grobheit und Grausamkeit abhold war, teils wegen der philosophisch-philanthropischen Mode; teils beschränkte sieh diese "Weichheit nur auf indifferente Sachen), aber Katharina zeichnete sich keineswegs durch Meinungstoleranz aus, — sogar in literarischen Kleinigkeiten rief jeder Widerspruch in ihr eine Unzufriedenheit hervor, welche wahrscheinlich genug bedrohlich war, da sie unverzüglich das Schweigen desselben veranlasste. Alexander dagegen flößte der aufrichtige Wunsch, unparteiisch zu sein, diese Meinungstoleranz ein, und nicht einmal bekämpfte er dadurch seine Gereiztheit; den Widerspruch gegen seine Ideen und eine nach seiner Meinung sogar bestimmt schädliche Gedankenrichtung wollte er nicht für eine persönliche Beleidigung oder für ein Staatsverbrechen halten, wie es gewöhnlich vor und nach der Fall war. So zeigte er sich in seinen Beziehungen zu Parrot, Karamzin und N. Turgenev. Nachdem er im Anfange seiner Regierung die geheime Expedition abgeschafft hatte, hatte er die Schwäche, später die Wiederherstellung des geheimen Polizeiamtes zuzulassen; aber dasselbe besaß unter ihm nie dieselbe Bedeutung, welche es gewöhnlich besitzt; er liebte das Spionwesen nicht, schenkte, wie man sagt, politischen Denunziationen keine Aufmerksamkeit, und wirklich verfolgte er nicht die geheimen Gesellschaften, deren Vorhandensein ihm bekannt war; oder, indem er die Freimaurerlogen als etwas politisch Gefährliches schließen ließ, dachte er nicht daran , sie zum Gegenstande inquisitorischer Untersuchungen zu machen. Obwohl Alexander auch in dieser Hinsicht nicht konsequent war, und er einige Beispiele davon gab *), bei alledem konnte die öffentliche Meinung existieren: ihr erster Schimmer entwickelte sich unter ihm dermaßen, dass er später den Druck ungünstiger Verhältnisse aushalten konnte und den Grund zu jenem Streben nach selbständiger Tätigkeit legte, in welchem die einzige Garantie des gesellschaftlichen Wohles liegt.

*) Siehe weiter über seine Beziehungen zu Speranskij in den Memoiren von de Sanglin.

Indem uns der Zeitgenosse der Epoche Alexanders u. a. von einer Menge von Memoirs und Denkschriften erzählt, die Alexander von Privatpersonen eingereicht wurden, bemerkt er: „Selbstverständlich kann sich der Selbstherrscher aus der Klemme befreien, in welcher sich Alexander notwendigerweise befinden musste, als er sich in Hülle und Fülle von Vorstellungen, Denkschriften, Memoirs u. dergl. belagert sah; — er kann wohl einmal für allemal deren Einreichung verbieten. Aber eben darum tat Alexander es nicht; sein Herz erlaubte es ihm nicht, ganz unzugänglich für jene Wünsche zu bleiben, welche das Streben für das allgemeine Wohl diktiert hatte; eben dadurch erwarb er sich die Achtung und Verehrung ehrlicher Menschen. Obwohl dieses Gefühl und dieser Eifer für das allgemeine Wohl an nützlichen Resultaten nicht überreich waren, so werden sie dennoch seinen Namen in der Geschichte verewigen *).

Und das um so mehr, als dies Streben für das allgemeine Wohl zum großen Teile durch seine Anregung und sein eigenes Beispiel hervorgerufen war.

*) La Russie I, 319.