Sitten, Unsitten und Frauenleben unter den ersten Romanows
Am 19. April 1613 war es, da sah die alte Kremlstadt nach langen schweren Zeiten wieder einen fröhlichen Tag. Hell und freundlich schien die Frühjahrssonne auf den Einzug des ersten Romanow, der dem Reiche Ruhe und Frieden zu verheißen schien. Die Straßen prangten im Festtagsschmuck, laut jubelte das Volk.
Einige Tage vor dem Einzug in die Hauptstadt hatte der junge Zar einen Akt unterzeichnet und sich verpflichtet: die Religion zu schützen, das Wohl des Ganzen über persönliche Motive zu stellen, die alten Gesetze, unverändert zu lassen und keine neuen zu stiften, alle wichtigen Angelegenheiten nicht nach Gutdünken, sondern nach dem Gesetze zu entscheiden, ohne Einwilligung der Räte weder Krieg zu beginnen, noch Frieden zu schließen, und zur Vermeidung von Streitigkeiten seine Privatdomänen entweder an andere abzutreten oder als Krongüter dem Staatseigentum einzuverleiben.
Von Natur aus war Michael ein sanfter wohlwollender Charakter mit etwas Edelmut und dem Bestreben, dem Lande und Volke die gebührenden Freiheiten zu gönnen. Er schien ein konstitutioneller Herrscher werden zu wollen, wie kein besserer zu wünschen ist . . .
Da hatte er zum Unglück für sich und für Russland einen — Vater, einen grenzenlos ehrgeizigen Vater. Dieser, welcher als Patriareh seinen bürgerlichen Vornamen Feodor in Philaret umgewandelt hatte, verstand es, den eigentlichen Zaren, den jugendlichen Sohn, ganz in den Schatten zu stellen. Die Patriarchenwürde ward gleich mächtig wie die des Zaren. Philaret setzte seinen Namen auf fast allen Urkunden neben den Namen Michaels. Er nahm an allen politischen Anordnungen Teil und erließ sogar aus eigener Macht Ukase, zu denen er als Patriarch nicht das mindeste Recht besaß und die selbst Michael ohne Zustimmung der Räte nicht veröffentlichen hätte dürfen.
Philaret waltete im Reiche ebenso unumschränkt wie auf seinen Gütern, deren Zahl er nach und nach weise mehrte, indem er sie sich als „Kirchengüter" vom guten Volke verehren ließ, während sie in Wahrheit nur für ihn persönlich fette Pfründe waren.
So entstand das Fundament des Romanowschen Reichtums, so entstand die Romanowsche Tyrannei, die zarische Selbstherrlichkeit . . .
Und das Volk merkte nichts, das gute blinde Volk.
Vergessen waren die Schwüre, welche Michael bei seiner Thronbesteigung getan; niemand mahnte ihn daran, und um die verheißenen Freiheiten war es geschehen, ehe man sich's versehen . . .
Die Ära Romanow, die so hoffnungsvoll begonnen, trübte sich von Jahr zu Jahr.
Die Staatseinrichtungen, statt dem Volke Bewegung zu gestatten, statt dem Lande Nutzen zu stiften, wurden zu formlosen, verknöcherten Geißeln, die alles freie Lehen zerschmetterten , die selbst das Denken und Fühlen erstickten. Handel und Wandel wurden gehemmt; im Innern entstand ein grenzenloses moralisches und physisches Elend; nach außen bildete sich hermetische Abgeschlossenheit, starre Unbeweglichkeit.
Und als Philaret endlich, endlich 1634 gestorben war, blieb Michael auf der von dem Vater vorgezeichneten Bahn — —
Der Zar, der den Thron betreten unter Beteuerungen konstitutionellster Natur — der liberale Zar ward zum unbeugsamen Autokraten! —
Gar eigentümliche Zustande sind es.
Der Zar ist alles, ihm gehört alles. Nicht nur das Volk, nicht nur das Land. Nein, auch alle Erzeugnisse des Landes, alle Arbeiten des Volkes, und Luft und Wasser und Licht sind sein Eigentum.
Braucht der Zar Arbeiter, so winkt er bloß.
Und siehe da — aus allen Winkeln des Reiches, auf unwegsamen Stegen und Wegen , aus den asiatischen Wüsten, aus den Ödnissen Sibiriens, aus den südlichen Steppen und aus den westlichen Fruchtgebieten kommen sie herbeigeströmt, die Sklaven, um ihrem Herrn zu dienen, um Tag und Nacht, und Nacht und Tag, im Winter und Sommer, bei erstarrenden Frösten, im Glühen der Sonne, unentgeltlich für ihn zu arbeiten.
Unentgeltlich, denn die Krone zahlt keinen Lohn. Sei glücklich, elende Kreatur, dass der große edle Zar dir erlaubt, für ihn zu schaffen und zu leiden.
Du hungerst, du dürstest? Du willst ruhen nach den Mühen der Arbeit?
Was kümmert das die Krone? Die armen Gemeinden mögen dich ernähren, sollen dir Essen und Trinken und Schlafstatt geben . . .
Der Handel ist Monopol des Zaren, das Verdienen Monopol des Zaren . . .
Niemand im Lande darf mit einem Gegenstand Handel treiben, bevor nicht der Zar seine Vorräte von diesem Gegenstände vorteilhaft verkauft oder billig erworben hat.
Waren, die aus dem Auslande kommen, müssen zuerst der Krone gemeldet und angeboten werden.
Sie hat das Vorkaufsrecht, sie bestimmt den Preis oder die Ware, die sie dagegen geben will. Erst wenn sie genug hat, erst das, was sie übrig lässt, das dürfen die Gosty, die „Kaufleute“, erwerben, die übrigens auch verpflichtet sind, die Handelsgeschäfte des Zaren gratis zu führen und bei allem erst das zarische, dann das eigene Interesse im Auge haben dürfen. Wehe dem, der bei Übervorteilung der Krone ertappt wird!
Und doch gibt es kühne Leute, welche gewagte Spekulationen unternehmen, welche sich sogar zu einer gewissen Höhe und Wohlhabenheit aufschwingen. Allerdings, kaum ist ihnen solch ein Zauberwerk gelungen, kaum ist ein von ihnen geförderter Artikel beliebt worden, so erscheint ein kaiserlicher Ukas, welcher diesen Artikel mit einem Monopol belegt; die Vorräte der Kaufleute werden niedrig abgeschätzt, eingezogen und dann zu ungeheuren Preisen wieder verkauft . . .
Unmöglich ist jegliches Vorwärts streben, töricht und unnütz das Verdienen, das Erwerben. Das Erblühen einer Industrie an irgend einem Orte wird zum Verderben desselben. Sofort erscheinen zarische Beamte, und die unglückliche Stadt muss wochenlang, monatelang umsonst für die Krone arbeiten — arbeiten, bis der Ruin hereinbricht und der Zar gezwungen ist, einen andern Ort für seine „Aufträge" auszusuchen . . .
Am besten geht es daher dem, der in Trägheit dahinlebt oder sich mit so viel Verdienst begnügt, dass er mit den Seinen knapp das Dasein fristen kann —
Dazu das elende geistige Vegetieren.
Aberglaube, ärgerer Aberglaube als bei den andern damaligen Völkern hielt die Menschen in Russland gefangen. Es gab keine eigentlichen Schulen, es gab daher auch fast gar keine „Gebildeten". Da und dort fand man einige, die sich so nannten. Aber worin bestand ihre Bildung? In der Kenntnis einiger Psalmen und Gebete, in etwas Lesen und Kalligraphie.
Lernen ist schädlich; wer lernt, verfällt in Ketzerei.
Dieser Satz galt durchwegs, und die Erfahrung schien ihn immer bestätigt zu haben.
Zur Ketzerei verurteilt wurden Leute, die seltsamerweise einen Bildungstrieb verraten, die sich „höhere Kenntnisse" angeeignet hatten, die dadurch auf verfluchte Gedanken kamen und über die seltsamen Zustände des Landes nachdachten, die sich fragten, ob hier alles so sein musste, wie es war.
Zuweilen waren es auch Leute, denen absonderliche Schicksale gestattet hatten, Uber die Grenzwalle Moskowiens einen Blick zu werfen; Leute, welche fremde Sitten und fremdes Leben und fremde Freiheit kennen gelernt und nun anfingen Vergleiche zwischen hüben und drüben zu ziehen.
Fand sich doch im Zarenhause selbst solch ein Freidenker, solch ein Ketzer!
Das war der Bojar Nikita Iwanowitsch, der Oheim des Zaren Michael.
Er ritt — welche Kühnheit — in polnischem Kleide auf die Jagd . . . Eigenhändig verbrannte der Patriarch das heidnische Kleid und zwang Nikita, sich durch Weihwasser wieder heiligen zu lassen . . .
Zu verwundern ist nur, dass Nikita mit so leichter Strafe davonkam. Diese Milde mag aber auch der Grund gewesen sein, weshalb der Ketzer sich zu noch schlimmeren Schandtaten hinreißen ließ: er hielt in seinem Hause — es ist entsetzlich! — ein musikalisches Orchester — mit ausländischen Musikanten! . . . Alles Drohen des Zaren, alles Fluchen der Geistlichkeit nützte bei diesem unverbesserlichen Freigeist nicht, der sich sogar von heidnischen Holländern ein Boot bauen ließ — jenes Boot, welches Peter der Große nachmals fand und das ihm Veranlassung ward zur Gründung der russischen Flotte. —
Zar Michael starb 1645. Ihm folgte sein Sohn Alexey, der damals erst 16 Jahre zählte, also im gleichen Alter zur Regierung kam wie sein Vater.
Alexey Michaylowitsch soll ein aufgeklärter Mann gewesen sein.
Betrachten wir seine Epoche, seine Reformen, seine Erfolge.
Die ersten Jahre seiner Regierung war Alexey — das gestehen selbst seine eifrigsten Lobredner zu — ein Frömmling und ein Zeitvertändler; um die Staatsangelegenheiten kümmerte er sich zunächst nicht, die überließ er seinem Günstling Boriß Morosow.
Morosow war ein ebenso kluger wie herzharter Mann. Als ehemaliger Erzieher des Zaren besaß er dessen volles Vertrauen, wie heute Pobedonofszew das Vertrauen Alexanders des Dritten . . . Alexey hing so an seinem Günstling, dass er sich sogar mit ihm verschwägerte. Sie heirateten im Januar 1648 zwei Schwestern, die Töchter des Elias Danilowitsch Miloslawsky.
Nun kannte der Hochmut des Günstlings keine Grenzen. Er umgab den Thron mit seinen Verwandten; er beutete das Volk aus, dass es mehr blutete als je.
Das Volk blutete und jammerte, aber sein Jammer drang nicht zum Ohre des Zaren.
Hoch ist der Himmel und weit der Zar — das gilt nicht bloß heute, das galt in Russland schon vor Jahrhunderten.
Endlich brach die Geduld der Sklaven, und am 26. Mai 1648 erscholl in den Straßen Moskaus blutdürstiges Revolutionsgeschrei, und entmenschte Männer und Frauen stürzten sich auf die Paläste der vom Blute des Volkes gemästeten zarischen Beamten . . .
Morosow wurde dem Volkswillen geopfert. Aber der Aufruhr legte sich nichts durch lange Jahre tobte er fort an allen Enden und Ecken; das Elend konnte nicht genug Sühne finden . . .
Da sah sich Alexey gezwungen, eine „Kammer für geheime Angelegenheiten" zum Schutze gegen die Revolutionäre zu errichten. Sibirien als Verbannungsheim für politische Verbrecher, oder solcher Verbrechen Verdächtige, kam in Mode — und das wirkte etwas.
Jetzt vermochte Alexey sich der Aufgabe, die ihm zustand, bewusst zu werden, und er ging mit einem gewissen Ernst daran, ihr gerecht zu werden. An Reformen — was man eben darunter versteht — dachte er indessen nicht. Er wollte nichts Neues einführen, er wollte nur das Alte reinigen.
Es gelang ihm nur Manches. Am wenigsten aber gelang ihm die Vertilgung der Bestechlichkeit und Trunksucht . . .
Eine wichtige Tat, welche Anerkennung verdient, war die Sanierung des Gerichtswesens: die genaue Festsetzung der Strafen, die Abschaffung der Todesstrafe für bürgerliche Verbrechen.
Um der Willkür der Beamten vorzubeugen, befahl Alexey, dass fortab jeder Untertan freien Zutritt zu ihm haben sollte, und eine hübsche Sage berichtet, dass vor dem Fenster seines Lustschlosses im Dorfe Kolomenskoje sich eine blecherne Büchse, eine „Gnadenbüchse" befand, in welche allmorgendlich, sobald der Zar ans Fenster trat, die schon draußen angesammelten Bittsteller vor den Augen ihres Fürsten die Beschwerden und Gesuche hineinwarfen.
Die Steuern wurden gemildert, einige der Vorrechte, welche die Großen zum Nachteile der Armen besaßen, aufgehoben, Handel und Wandel ermuntert, die Kirchentexte geprüft und gebessert.
Die Tagesgeschichte Europas schien wichtig genug, dass der Zar eine deutsche Zeitung hin und wieder übersetzen und unter seine Hofleute verbreiten ließ. Doch waren die Russen keineswegs so neugierig, alles jenseits ihrer Grenzen Vorgefallene schnell wissen zu wollen. So geschah es oft, dass Ereignisse, die schon Jahre alt waren, am Hofe zu Moskau als brennende Neuigkeiten aufgetischt wurden; dass das Beglaubigungsschreiben einer russischen Gesandtschaft nach Spanien im Jahre 1667 an den zwei Jahre zuvor verstorbenen König Philipp den Vierten gerichtet war.
Diese „Taten" verliehen Alexey den Beinamen des — Aufgeklärten. Aber im Lande des aufgeklärten Alexey wurden die Frauen ärger als im ganzen übrigen Orient behandelt.
Man hielt sie vom männlichen Umgang so abgeschieden, dass selbst der „aufgeklärte" Alexey dem Arzte nur im dunklen Zimmer zur Zarin Maria zu treten gestattete, und diese durfte ihren Puls erst fühlen lassen, nachdem sie die Hand mit einem feinen Seidenzeug verhüllt hatte, damit die unmittelbare Berührung derselben durch einen fremden Mann vermieden würde.
Erst in den letzten Lebensjahren des Zaren Alexey traten Verhältnisse ein, welche man einigermaßen als freiere bezeichnen kann.
Die erste Gemahlin Alexeys, Zarin Maria Iljinitschna, war gestorben, und im Jahre 1669 beschloss Alexey, wieder eine junge Gattin in seinen Palast an der Moskwa zu führen.
In früheren Jahrhunderten, zur Zeit der Teilfürsten, wählten die Herrscher ihre Frauen vorzugsweise aus regierenden russischen, aber auch ausländischen Häusern, besonders aus Griechenland oder Polen, einmal aus dem Polowzen-Chanat. Die Großfürsten von Moskau hielten dieselbe Regel, bis Wassily Iwanowitsch zuerst von ihr abwich, indem er sich eine Braut aus dem Stande seiner Untertanen erwählte. Seinem Beispiele folgten seine Nachkommen und auch die ersten Romanows.
Als nun Alexey zum zweiten Male zu heiraten beschlossen, wurden aus allen Enden und Winkeln des Reiches siebzig schönheitsstrahlende Jungfrauen, nicht nur aus den Häusern der Vornehmen und Reichen, sondern auch aus den Hütten der Armen, nach der Krönungsstadt gebracht.
Die zarische Oberhofmeisterin nahm die Mädchen in Empfang und unter ihre Aufsicht und wies einer jeglichen ein besonderes Zimmer im zarischen Schlosse an, allwo sie bis nach Verlauf der Wahlzeit ihren Aufenthalt haben sollten. Doch speisten alle Brautkandidatinnen zusammen an einer großen Tafel.
Reichlich hatte der Zar Gelegenheit, die Jungfrauen zu sehen.
Manchmal verkleidete er sich und wartete den Fräuleins als schlichter Speisenträger auf, um unerkannt die Manieren einer jeden studieren zu können. Indessen blieb dies den jungen Damen nicht verborgen, und gar sehr nahmen sie sich in acht, dass sie bei Tische recht nett und lieb waren.
Anders war es allerdings, wenn der Zar die „Bräute" durch Ritzen und Löcher in den verschiedenen Zimmerwänden beobachtete. Da konnte er eher das wahre Wesen der Mädchen erkennen, von denen sich jedes in der Hoffnung wiegte, Zarin des moskowitischen Riesenreiches zu werden.
Es ist nur natürlich, dass man von vielen Seiten den Fürsten zu bestimmen suchte, diese oder jene Jungfrau vorzuziehen.
Der Zar indessen hatte einzig und allein sein Herz entscheiden lassen und — gewählt.
Doch niemand erfuhr vor der Stunde der Entscheidung sein zartes Geheimnis.
Eines Tages rief Alexey Michaylowitsch die Oberhofmeisterin und befahl ihr:
„Lasse für 69 der Jungfrauen prächtige Kleider verfertigen, das prächtigste aber, das Brautkleid, für die siebzigste, deren Namen du am Wahltage erfahren wirst. Denn gewählt habe ich aus dem wundersamen Kranze die köstlichste Blume. Neunzehnmal durchwanderte ich die Frauengemächer. Durch Tage und Wochen beobachtete ich das Wesen einer jeglichen. Aber keine übertraf die Eine, welche nun der Wunsch meines Herzens ist."
Und als der Morgen des 17. Februar 1669 die Kuppeln des Kremls vergoldete und die Oberhofmeisterin mit dem Brautkleide vor dem Zaren erschien und fragte, wem sie es bringen solle, da erwiderte Alexey:
„Gehe zu Natalia, der Tochter des Kirill Naryschkin, und huldige ihr, deiner Zarin.''
Und wenige Stunden später ward die Auserwählte feierlich mit Alexey getraut. Die anderen 69 Jungfrauen aberzogen reich beschenkt wieder heim in ihre Häuser und Hütten . . .
Natalia Kirillowna Naryschkina, die plötzlich zur Zarin geworden, war die Tochter eines einfachen Reiteroffiziers und einer Ausländerin, einer geborenen Hamilton.
Aus Schottland war unter einem der früheren Zaren ein Hamilton nach Russland gekommen, und seine Nachkommen lebten als Dienstleute der Krone in der deutschen Sloboda bei Moskau. Der Obrist des Reiterregiments, in welchem Kirill Naryschkin diente, namens Matwejew, heiratete eine Hamilton; deren Nichte wieder vermählte sich mit Naryschkin. Dieser wie auch Matwejew waren beide niederer Herkunft. Selbstverständlich erschien es den Russen, dass der Zar eine niedriggeborene Landestochter heiraten konnte; denn „ein Zar braucht weder Reichtum, noch eine grobe Verwandtschaft, sondern nur ein schönes und tugendhaftes Gemahl". Aber gräulich war ihnen die Heirat selbst des niedrigsten Russen mit der vornehmsten Fremden, einer Genossin des heidnischen römischen oder gar lutherischen Glaubens, und an der Sache änderte ein Übertritt der Braut zur orthodoxen Kirche nur wenig.
Matwejew und Naryschkin wurden von ihren Landeleuten ob ihrer Heiraten recht scheel angesehen, aber sie ließen sich ihre Wahl nicht verdrießen und lebten in heiterer Zufriedenheit; ja, Matwejew erreichte sogar einen gewissen Wohlstand, der es ihm gestattete, die Tochter des Kirill in sein Haus zu nehmen, um sie hier besser zu erziehen, als es sonst in der Sitte der Zeit lag.
Matwejews Haus war anders als die Häuser der übrigen Russen. Die nahende Aufklärungszeit warf in dasselbe ihre ersten Lichter. Hier herrschten europäische Art und Weise, hier war ein Mittelpunkt für alle Fremden, hier fanden sich die Gesandten der Staaten Europas ein, und die „aufgeklärten Geister" der Zeit — was man damals so nannte — hielten hier ihre Versammlungen. Die Frauen nahmen teil an den Unterhaltungen der Männer und pflogen mit ihnen einen freieren, beinahe ungezwungenen Verkehr.
Natalie Kirillowna sah andere Sitten als Muster vor ihren Augen, wie die übrigen russischen Mädchen jener Epoche, und infolgedessen eignete sie sich schönere Umgangsformen an, die den Zaren wohl bestricken konnten.
So geschah es — merkwürdiges Schicksal! — , dass die Tochter des abtrünnigen Kirill Naryschkin und der heidnischen Fremden zur Zarin von Moskau emporstieg und die Mutter Peters des Großen ward.
Zwar hatte sie einen schweren Stand, da aber der Zar sie aufrichtig liebte, hielt er treu und innig an ihr fest, so dass sie es wagen durfte, der Aufklärung eine Gasse zu bahnen — eine ganz kleine schmale Gasse.
Sie war es, welche nach Alexeys wenige Jahre später erfolgtem Tode die Erziehung des jungen Peter ganz an sich nahm und in ihm Liebe für das Ausland, für ausländisches Wesen, für ausländische Bildung erweckte.
Ihr verdankt also eigentlich Russland alle die gewaltigen Neuerungen, welche bald darauf den asiatischen Staat in einen halbeuropäischen verwandelten. —
Dem Zaren Alexey folgte 1676 sein fünfzehnjähriger kranker Sohn Feodor. Der frühe Tod desselben im Jahre 1682 schien Russland wieder einer schweren Zeit anheimgeben zu wollen. Feodor hinterließ keine Kinder, sondern nur einen leiblichen Bruder und einen Stiefbruder. Der eine, Iwan, Sohn der ersten Gemahlin Alexeys Maria Iljinitschna Miloslawska, war volljährig, aber krank und blödsinnig; der andere, Peter, Sohn der Gemahlin Alexeys Natalia Kirillowna Nuryschkina, zählte erst zehn Jahre. Den Bemühungen der energischen Zarin Natalia gelang es, dass neben Iwan, dem rechtlichen Thronfolger, auch Peter zum Zaren ausgerufen wurde; sie konnte es aber nicht verhindern, dass im Namen dieser beiden Zaren nicht sie , sondern ihre Stieftochter Sophia Alexejewna die Regentschaft erhielt, welche diese ehrgeizige Fürstin in Gemeinschaft mit ihrem Günstling Galitzin auch durch sieben Jahre ausübte. Aber schließlich ging ihre Herrlichkeit zu Ende. In aller Stille war Peter herangewachsen; sein großer Geist erwachte, sprengte die Bande, mit denen Sophia ihn noch zu fesseln versuchte, und er trat aus dem Dorfe Preobrashenskoje, wo ihn die Stiefschwester eingesperrt gehalten, plötzlich auf die Bühne der Welt. Obgleich noch jung, zeigte er entschiedenen Willen der Selbstbestimmung; Sophia erschrak vor ihm und sandte aus den Reihen der Streljzen-Leibwache Mörder ab, Peter zu verderben. Allein gewarnt, rettete sich der junge Zar, trat, an der Spitze der von ihm selbst aus gleichaltrigen Genossen gebildeten, bisher nur zu Spielereien verwendeten Soldatenschar, der herrschsüchtigen Schwester und ihrem Günstling gegenüber und entsetzte sie ihrer Macht. Und nun nahm er die Alleinherrschaft an sich, indem er auch den blödsinnigen Iwan vom Throne stieß.
Eine neue Zeit begann . . .
Einige Tage vor dem Einzug in die Hauptstadt hatte der junge Zar einen Akt unterzeichnet und sich verpflichtet: die Religion zu schützen, das Wohl des Ganzen über persönliche Motive zu stellen, die alten Gesetze, unverändert zu lassen und keine neuen zu stiften, alle wichtigen Angelegenheiten nicht nach Gutdünken, sondern nach dem Gesetze zu entscheiden, ohne Einwilligung der Räte weder Krieg zu beginnen, noch Frieden zu schließen, und zur Vermeidung von Streitigkeiten seine Privatdomänen entweder an andere abzutreten oder als Krongüter dem Staatseigentum einzuverleiben.
Von Natur aus war Michael ein sanfter wohlwollender Charakter mit etwas Edelmut und dem Bestreben, dem Lande und Volke die gebührenden Freiheiten zu gönnen. Er schien ein konstitutioneller Herrscher werden zu wollen, wie kein besserer zu wünschen ist . . .
Da hatte er zum Unglück für sich und für Russland einen — Vater, einen grenzenlos ehrgeizigen Vater. Dieser, welcher als Patriareh seinen bürgerlichen Vornamen Feodor in Philaret umgewandelt hatte, verstand es, den eigentlichen Zaren, den jugendlichen Sohn, ganz in den Schatten zu stellen. Die Patriarchenwürde ward gleich mächtig wie die des Zaren. Philaret setzte seinen Namen auf fast allen Urkunden neben den Namen Michaels. Er nahm an allen politischen Anordnungen Teil und erließ sogar aus eigener Macht Ukase, zu denen er als Patriarch nicht das mindeste Recht besaß und die selbst Michael ohne Zustimmung der Räte nicht veröffentlichen hätte dürfen.
Philaret waltete im Reiche ebenso unumschränkt wie auf seinen Gütern, deren Zahl er nach und nach weise mehrte, indem er sie sich als „Kirchengüter" vom guten Volke verehren ließ, während sie in Wahrheit nur für ihn persönlich fette Pfründe waren.
So entstand das Fundament des Romanowschen Reichtums, so entstand die Romanowsche Tyrannei, die zarische Selbstherrlichkeit . . .
Und das Volk merkte nichts, das gute blinde Volk.
Vergessen waren die Schwüre, welche Michael bei seiner Thronbesteigung getan; niemand mahnte ihn daran, und um die verheißenen Freiheiten war es geschehen, ehe man sich's versehen . . .
Die Ära Romanow, die so hoffnungsvoll begonnen, trübte sich von Jahr zu Jahr.
Die Staatseinrichtungen, statt dem Volke Bewegung zu gestatten, statt dem Lande Nutzen zu stiften, wurden zu formlosen, verknöcherten Geißeln, die alles freie Lehen zerschmetterten , die selbst das Denken und Fühlen erstickten. Handel und Wandel wurden gehemmt; im Innern entstand ein grenzenloses moralisches und physisches Elend; nach außen bildete sich hermetische Abgeschlossenheit, starre Unbeweglichkeit.
Und als Philaret endlich, endlich 1634 gestorben war, blieb Michael auf der von dem Vater vorgezeichneten Bahn — —
Der Zar, der den Thron betreten unter Beteuerungen konstitutionellster Natur — der liberale Zar ward zum unbeugsamen Autokraten! —
Gar eigentümliche Zustande sind es.
Der Zar ist alles, ihm gehört alles. Nicht nur das Volk, nicht nur das Land. Nein, auch alle Erzeugnisse des Landes, alle Arbeiten des Volkes, und Luft und Wasser und Licht sind sein Eigentum.
Braucht der Zar Arbeiter, so winkt er bloß.
Und siehe da — aus allen Winkeln des Reiches, auf unwegsamen Stegen und Wegen , aus den asiatischen Wüsten, aus den Ödnissen Sibiriens, aus den südlichen Steppen und aus den westlichen Fruchtgebieten kommen sie herbeigeströmt, die Sklaven, um ihrem Herrn zu dienen, um Tag und Nacht, und Nacht und Tag, im Winter und Sommer, bei erstarrenden Frösten, im Glühen der Sonne, unentgeltlich für ihn zu arbeiten.
Unentgeltlich, denn die Krone zahlt keinen Lohn. Sei glücklich, elende Kreatur, dass der große edle Zar dir erlaubt, für ihn zu schaffen und zu leiden.
Du hungerst, du dürstest? Du willst ruhen nach den Mühen der Arbeit?
Was kümmert das die Krone? Die armen Gemeinden mögen dich ernähren, sollen dir Essen und Trinken und Schlafstatt geben . . .
Der Handel ist Monopol des Zaren, das Verdienen Monopol des Zaren . . .
Niemand im Lande darf mit einem Gegenstand Handel treiben, bevor nicht der Zar seine Vorräte von diesem Gegenstände vorteilhaft verkauft oder billig erworben hat.
Waren, die aus dem Auslande kommen, müssen zuerst der Krone gemeldet und angeboten werden.
Sie hat das Vorkaufsrecht, sie bestimmt den Preis oder die Ware, die sie dagegen geben will. Erst wenn sie genug hat, erst das, was sie übrig lässt, das dürfen die Gosty, die „Kaufleute“, erwerben, die übrigens auch verpflichtet sind, die Handelsgeschäfte des Zaren gratis zu führen und bei allem erst das zarische, dann das eigene Interesse im Auge haben dürfen. Wehe dem, der bei Übervorteilung der Krone ertappt wird!
Und doch gibt es kühne Leute, welche gewagte Spekulationen unternehmen, welche sich sogar zu einer gewissen Höhe und Wohlhabenheit aufschwingen. Allerdings, kaum ist ihnen solch ein Zauberwerk gelungen, kaum ist ein von ihnen geförderter Artikel beliebt worden, so erscheint ein kaiserlicher Ukas, welcher diesen Artikel mit einem Monopol belegt; die Vorräte der Kaufleute werden niedrig abgeschätzt, eingezogen und dann zu ungeheuren Preisen wieder verkauft . . .
Unmöglich ist jegliches Vorwärts streben, töricht und unnütz das Verdienen, das Erwerben. Das Erblühen einer Industrie an irgend einem Orte wird zum Verderben desselben. Sofort erscheinen zarische Beamte, und die unglückliche Stadt muss wochenlang, monatelang umsonst für die Krone arbeiten — arbeiten, bis der Ruin hereinbricht und der Zar gezwungen ist, einen andern Ort für seine „Aufträge" auszusuchen . . .
Am besten geht es daher dem, der in Trägheit dahinlebt oder sich mit so viel Verdienst begnügt, dass er mit den Seinen knapp das Dasein fristen kann —
Dazu das elende geistige Vegetieren.
Aberglaube, ärgerer Aberglaube als bei den andern damaligen Völkern hielt die Menschen in Russland gefangen. Es gab keine eigentlichen Schulen, es gab daher auch fast gar keine „Gebildeten". Da und dort fand man einige, die sich so nannten. Aber worin bestand ihre Bildung? In der Kenntnis einiger Psalmen und Gebete, in etwas Lesen und Kalligraphie.
Lernen ist schädlich; wer lernt, verfällt in Ketzerei.
Dieser Satz galt durchwegs, und die Erfahrung schien ihn immer bestätigt zu haben.
Zur Ketzerei verurteilt wurden Leute, die seltsamerweise einen Bildungstrieb verraten, die sich „höhere Kenntnisse" angeeignet hatten, die dadurch auf verfluchte Gedanken kamen und über die seltsamen Zustände des Landes nachdachten, die sich fragten, ob hier alles so sein musste, wie es war.
Zuweilen waren es auch Leute, denen absonderliche Schicksale gestattet hatten, Uber die Grenzwalle Moskowiens einen Blick zu werfen; Leute, welche fremde Sitten und fremdes Leben und fremde Freiheit kennen gelernt und nun anfingen Vergleiche zwischen hüben und drüben zu ziehen.
Fand sich doch im Zarenhause selbst solch ein Freidenker, solch ein Ketzer!
Das war der Bojar Nikita Iwanowitsch, der Oheim des Zaren Michael.
Er ritt — welche Kühnheit — in polnischem Kleide auf die Jagd . . . Eigenhändig verbrannte der Patriarch das heidnische Kleid und zwang Nikita, sich durch Weihwasser wieder heiligen zu lassen . . .
Zu verwundern ist nur, dass Nikita mit so leichter Strafe davonkam. Diese Milde mag aber auch der Grund gewesen sein, weshalb der Ketzer sich zu noch schlimmeren Schandtaten hinreißen ließ: er hielt in seinem Hause — es ist entsetzlich! — ein musikalisches Orchester — mit ausländischen Musikanten! . . . Alles Drohen des Zaren, alles Fluchen der Geistlichkeit nützte bei diesem unverbesserlichen Freigeist nicht, der sich sogar von heidnischen Holländern ein Boot bauen ließ — jenes Boot, welches Peter der Große nachmals fand und das ihm Veranlassung ward zur Gründung der russischen Flotte. —
Zar Michael starb 1645. Ihm folgte sein Sohn Alexey, der damals erst 16 Jahre zählte, also im gleichen Alter zur Regierung kam wie sein Vater.
Alexey Michaylowitsch soll ein aufgeklärter Mann gewesen sein.
Betrachten wir seine Epoche, seine Reformen, seine Erfolge.
Die ersten Jahre seiner Regierung war Alexey — das gestehen selbst seine eifrigsten Lobredner zu — ein Frömmling und ein Zeitvertändler; um die Staatsangelegenheiten kümmerte er sich zunächst nicht, die überließ er seinem Günstling Boriß Morosow.
Morosow war ein ebenso kluger wie herzharter Mann. Als ehemaliger Erzieher des Zaren besaß er dessen volles Vertrauen, wie heute Pobedonofszew das Vertrauen Alexanders des Dritten . . . Alexey hing so an seinem Günstling, dass er sich sogar mit ihm verschwägerte. Sie heirateten im Januar 1648 zwei Schwestern, die Töchter des Elias Danilowitsch Miloslawsky.
Nun kannte der Hochmut des Günstlings keine Grenzen. Er umgab den Thron mit seinen Verwandten; er beutete das Volk aus, dass es mehr blutete als je.
Das Volk blutete und jammerte, aber sein Jammer drang nicht zum Ohre des Zaren.
Hoch ist der Himmel und weit der Zar — das gilt nicht bloß heute, das galt in Russland schon vor Jahrhunderten.
Endlich brach die Geduld der Sklaven, und am 26. Mai 1648 erscholl in den Straßen Moskaus blutdürstiges Revolutionsgeschrei, und entmenschte Männer und Frauen stürzten sich auf die Paläste der vom Blute des Volkes gemästeten zarischen Beamten . . .
Morosow wurde dem Volkswillen geopfert. Aber der Aufruhr legte sich nichts durch lange Jahre tobte er fort an allen Enden und Ecken; das Elend konnte nicht genug Sühne finden . . .
Da sah sich Alexey gezwungen, eine „Kammer für geheime Angelegenheiten" zum Schutze gegen die Revolutionäre zu errichten. Sibirien als Verbannungsheim für politische Verbrecher, oder solcher Verbrechen Verdächtige, kam in Mode — und das wirkte etwas.
Jetzt vermochte Alexey sich der Aufgabe, die ihm zustand, bewusst zu werden, und er ging mit einem gewissen Ernst daran, ihr gerecht zu werden. An Reformen — was man eben darunter versteht — dachte er indessen nicht. Er wollte nichts Neues einführen, er wollte nur das Alte reinigen.
Es gelang ihm nur Manches. Am wenigsten aber gelang ihm die Vertilgung der Bestechlichkeit und Trunksucht . . .
Eine wichtige Tat, welche Anerkennung verdient, war die Sanierung des Gerichtswesens: die genaue Festsetzung der Strafen, die Abschaffung der Todesstrafe für bürgerliche Verbrechen.
Um der Willkür der Beamten vorzubeugen, befahl Alexey, dass fortab jeder Untertan freien Zutritt zu ihm haben sollte, und eine hübsche Sage berichtet, dass vor dem Fenster seines Lustschlosses im Dorfe Kolomenskoje sich eine blecherne Büchse, eine „Gnadenbüchse" befand, in welche allmorgendlich, sobald der Zar ans Fenster trat, die schon draußen angesammelten Bittsteller vor den Augen ihres Fürsten die Beschwerden und Gesuche hineinwarfen.
Die Steuern wurden gemildert, einige der Vorrechte, welche die Großen zum Nachteile der Armen besaßen, aufgehoben, Handel und Wandel ermuntert, die Kirchentexte geprüft und gebessert.
Die Tagesgeschichte Europas schien wichtig genug, dass der Zar eine deutsche Zeitung hin und wieder übersetzen und unter seine Hofleute verbreiten ließ. Doch waren die Russen keineswegs so neugierig, alles jenseits ihrer Grenzen Vorgefallene schnell wissen zu wollen. So geschah es oft, dass Ereignisse, die schon Jahre alt waren, am Hofe zu Moskau als brennende Neuigkeiten aufgetischt wurden; dass das Beglaubigungsschreiben einer russischen Gesandtschaft nach Spanien im Jahre 1667 an den zwei Jahre zuvor verstorbenen König Philipp den Vierten gerichtet war.
Diese „Taten" verliehen Alexey den Beinamen des — Aufgeklärten. Aber im Lande des aufgeklärten Alexey wurden die Frauen ärger als im ganzen übrigen Orient behandelt.
Man hielt sie vom männlichen Umgang so abgeschieden, dass selbst der „aufgeklärte" Alexey dem Arzte nur im dunklen Zimmer zur Zarin Maria zu treten gestattete, und diese durfte ihren Puls erst fühlen lassen, nachdem sie die Hand mit einem feinen Seidenzeug verhüllt hatte, damit die unmittelbare Berührung derselben durch einen fremden Mann vermieden würde.
Erst in den letzten Lebensjahren des Zaren Alexey traten Verhältnisse ein, welche man einigermaßen als freiere bezeichnen kann.
Die erste Gemahlin Alexeys, Zarin Maria Iljinitschna, war gestorben, und im Jahre 1669 beschloss Alexey, wieder eine junge Gattin in seinen Palast an der Moskwa zu führen.
In früheren Jahrhunderten, zur Zeit der Teilfürsten, wählten die Herrscher ihre Frauen vorzugsweise aus regierenden russischen, aber auch ausländischen Häusern, besonders aus Griechenland oder Polen, einmal aus dem Polowzen-Chanat. Die Großfürsten von Moskau hielten dieselbe Regel, bis Wassily Iwanowitsch zuerst von ihr abwich, indem er sich eine Braut aus dem Stande seiner Untertanen erwählte. Seinem Beispiele folgten seine Nachkommen und auch die ersten Romanows.
Als nun Alexey zum zweiten Male zu heiraten beschlossen, wurden aus allen Enden und Winkeln des Reiches siebzig schönheitsstrahlende Jungfrauen, nicht nur aus den Häusern der Vornehmen und Reichen, sondern auch aus den Hütten der Armen, nach der Krönungsstadt gebracht.
Die zarische Oberhofmeisterin nahm die Mädchen in Empfang und unter ihre Aufsicht und wies einer jeglichen ein besonderes Zimmer im zarischen Schlosse an, allwo sie bis nach Verlauf der Wahlzeit ihren Aufenthalt haben sollten. Doch speisten alle Brautkandidatinnen zusammen an einer großen Tafel.
Reichlich hatte der Zar Gelegenheit, die Jungfrauen zu sehen.
Manchmal verkleidete er sich und wartete den Fräuleins als schlichter Speisenträger auf, um unerkannt die Manieren einer jeden studieren zu können. Indessen blieb dies den jungen Damen nicht verborgen, und gar sehr nahmen sie sich in acht, dass sie bei Tische recht nett und lieb waren.
Anders war es allerdings, wenn der Zar die „Bräute" durch Ritzen und Löcher in den verschiedenen Zimmerwänden beobachtete. Da konnte er eher das wahre Wesen der Mädchen erkennen, von denen sich jedes in der Hoffnung wiegte, Zarin des moskowitischen Riesenreiches zu werden.
Es ist nur natürlich, dass man von vielen Seiten den Fürsten zu bestimmen suchte, diese oder jene Jungfrau vorzuziehen.
Der Zar indessen hatte einzig und allein sein Herz entscheiden lassen und — gewählt.
Doch niemand erfuhr vor der Stunde der Entscheidung sein zartes Geheimnis.
Eines Tages rief Alexey Michaylowitsch die Oberhofmeisterin und befahl ihr:
„Lasse für 69 der Jungfrauen prächtige Kleider verfertigen, das prächtigste aber, das Brautkleid, für die siebzigste, deren Namen du am Wahltage erfahren wirst. Denn gewählt habe ich aus dem wundersamen Kranze die köstlichste Blume. Neunzehnmal durchwanderte ich die Frauengemächer. Durch Tage und Wochen beobachtete ich das Wesen einer jeglichen. Aber keine übertraf die Eine, welche nun der Wunsch meines Herzens ist."
Und als der Morgen des 17. Februar 1669 die Kuppeln des Kremls vergoldete und die Oberhofmeisterin mit dem Brautkleide vor dem Zaren erschien und fragte, wem sie es bringen solle, da erwiderte Alexey:
„Gehe zu Natalia, der Tochter des Kirill Naryschkin, und huldige ihr, deiner Zarin.''
Und wenige Stunden später ward die Auserwählte feierlich mit Alexey getraut. Die anderen 69 Jungfrauen aberzogen reich beschenkt wieder heim in ihre Häuser und Hütten . . .
Natalia Kirillowna Naryschkina, die plötzlich zur Zarin geworden, war die Tochter eines einfachen Reiteroffiziers und einer Ausländerin, einer geborenen Hamilton.
Aus Schottland war unter einem der früheren Zaren ein Hamilton nach Russland gekommen, und seine Nachkommen lebten als Dienstleute der Krone in der deutschen Sloboda bei Moskau. Der Obrist des Reiterregiments, in welchem Kirill Naryschkin diente, namens Matwejew, heiratete eine Hamilton; deren Nichte wieder vermählte sich mit Naryschkin. Dieser wie auch Matwejew waren beide niederer Herkunft. Selbstverständlich erschien es den Russen, dass der Zar eine niedriggeborene Landestochter heiraten konnte; denn „ein Zar braucht weder Reichtum, noch eine grobe Verwandtschaft, sondern nur ein schönes und tugendhaftes Gemahl". Aber gräulich war ihnen die Heirat selbst des niedrigsten Russen mit der vornehmsten Fremden, einer Genossin des heidnischen römischen oder gar lutherischen Glaubens, und an der Sache änderte ein Übertritt der Braut zur orthodoxen Kirche nur wenig.
Matwejew und Naryschkin wurden von ihren Landeleuten ob ihrer Heiraten recht scheel angesehen, aber sie ließen sich ihre Wahl nicht verdrießen und lebten in heiterer Zufriedenheit; ja, Matwejew erreichte sogar einen gewissen Wohlstand, der es ihm gestattete, die Tochter des Kirill in sein Haus zu nehmen, um sie hier besser zu erziehen, als es sonst in der Sitte der Zeit lag.
Matwejews Haus war anders als die Häuser der übrigen Russen. Die nahende Aufklärungszeit warf in dasselbe ihre ersten Lichter. Hier herrschten europäische Art und Weise, hier war ein Mittelpunkt für alle Fremden, hier fanden sich die Gesandten der Staaten Europas ein, und die „aufgeklärten Geister" der Zeit — was man damals so nannte — hielten hier ihre Versammlungen. Die Frauen nahmen teil an den Unterhaltungen der Männer und pflogen mit ihnen einen freieren, beinahe ungezwungenen Verkehr.
Natalie Kirillowna sah andere Sitten als Muster vor ihren Augen, wie die übrigen russischen Mädchen jener Epoche, und infolgedessen eignete sie sich schönere Umgangsformen an, die den Zaren wohl bestricken konnten.
So geschah es — merkwürdiges Schicksal! — , dass die Tochter des abtrünnigen Kirill Naryschkin und der heidnischen Fremden zur Zarin von Moskau emporstieg und die Mutter Peters des Großen ward.
Zwar hatte sie einen schweren Stand, da aber der Zar sie aufrichtig liebte, hielt er treu und innig an ihr fest, so dass sie es wagen durfte, der Aufklärung eine Gasse zu bahnen — eine ganz kleine schmale Gasse.
Sie war es, welche nach Alexeys wenige Jahre später erfolgtem Tode die Erziehung des jungen Peter ganz an sich nahm und in ihm Liebe für das Ausland, für ausländisches Wesen, für ausländische Bildung erweckte.
Ihr verdankt also eigentlich Russland alle die gewaltigen Neuerungen, welche bald darauf den asiatischen Staat in einen halbeuropäischen verwandelten. —
Dem Zaren Alexey folgte 1676 sein fünfzehnjähriger kranker Sohn Feodor. Der frühe Tod desselben im Jahre 1682 schien Russland wieder einer schweren Zeit anheimgeben zu wollen. Feodor hinterließ keine Kinder, sondern nur einen leiblichen Bruder und einen Stiefbruder. Der eine, Iwan, Sohn der ersten Gemahlin Alexeys Maria Iljinitschna Miloslawska, war volljährig, aber krank und blödsinnig; der andere, Peter, Sohn der Gemahlin Alexeys Natalia Kirillowna Nuryschkina, zählte erst zehn Jahre. Den Bemühungen der energischen Zarin Natalia gelang es, dass neben Iwan, dem rechtlichen Thronfolger, auch Peter zum Zaren ausgerufen wurde; sie konnte es aber nicht verhindern, dass im Namen dieser beiden Zaren nicht sie , sondern ihre Stieftochter Sophia Alexejewna die Regentschaft erhielt, welche diese ehrgeizige Fürstin in Gemeinschaft mit ihrem Günstling Galitzin auch durch sieben Jahre ausübte. Aber schließlich ging ihre Herrlichkeit zu Ende. In aller Stille war Peter herangewachsen; sein großer Geist erwachte, sprengte die Bande, mit denen Sophia ihn noch zu fesseln versuchte, und er trat aus dem Dorfe Preobrashenskoje, wo ihn die Stiefschwester eingesperrt gehalten, plötzlich auf die Bühne der Welt. Obgleich noch jung, zeigte er entschiedenen Willen der Selbstbestimmung; Sophia erschrak vor ihm und sandte aus den Reihen der Streljzen-Leibwache Mörder ab, Peter zu verderben. Allein gewarnt, rettete sich der junge Zar, trat, an der Spitze der von ihm selbst aus gleichaltrigen Genossen gebildeten, bisher nur zu Spielereien verwendeten Soldatenschar, der herrschsüchtigen Schwester und ihrem Günstling gegenüber und entsetzte sie ihrer Macht. Und nun nahm er die Alleinherrschaft an sich, indem er auch den blödsinnigen Iwan vom Throne stieß.
Eine neue Zeit begann . . .
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Romanows