Abschnitt 3

Siebentes Capitel


Da sich indessen keine Hofnung fassen ließ, die treuen Gefährten aus Biesterberg in dem Gewühle von Menschen hier zu finden, so dachte der alte Herr Waumann jetzt nur an seinen Rückzug, um verabredetermaßen im goldnen Engel sie wieder anzutreffen. Um neuen Wiederwärtigkeiten in dem Gedränge bey dem Eintritte in die Stadt auszuweichen, beschloß unsre Gesellschaft, durch die Contre-Escarpe nach einem andern Thore hin zu gehn, wo sie vermuthlich weniger Volk finden würden. Allein zum Unglück waren die mehrsten Zuschauer auf denselben Einfall gerathen, so daß hier der Zusammenfluß noch größer war, als vorhin beym Herausgehn. Sich wieder zurück durch alle diese Erdensöhne hindurch zu arbeiten, das ließ sich nicht wohl thun; Nun mußte man aber, um das nächste Thor zu erreichen, sich über eine Art von Teiche oder Graben setzen lassen; Einige tausend Menschen standen am Ufer und harrten auf den Fährmann; es war aber unglücklicherweise nur ein einziger Nachen zum Überfahren da; also gieng es langsam.


Wie hieß doch der Fluß, von welchem die verdammten Heiden fabulirten, daß ein gewisser Charon die Seelen der Verstorbnen da hinüber in die elisäischen Gefilde transportiren müßte? Ohrfeigen habe ich von meinem Informator bekommen, dessen erinnere ich mich noch, als ich bey dieser Stelle im Ovidius nicht Achtung gab; aber wie der Fluß heißt, dessen besinne ich mich nicht mehr. Genug! grade wie diese Wasser-Reise in jene Welt abgebildet zu werden pflegt, so sah es hier aus. So oft der Charon eine Anzahl Pilger hinüber geschafft hatte und nun wieder diesseits landete, war das Herzudrängen der Ungeduldigen so groß, daß würklich Passagiers, die nicht, wie Charons Gäste nur Seelen, sondern zum Theil dicke, mit braunschweigscher Mumme wohl ausgemästete Cörper waren, Gefahr liefen. Schon war der Licentiat Bocksleder nebst seiner sanften Gemahlinn und dem lieben Kleinen im Nachen; da wollte der Amtmann sich nicht von seinem Freunde trennen; Er drängte sich durch den Haufen, wagte einen Sprung und – hier fällt mir aus Wehmuth die Feder aus der Hand. – Wenden wir unsre Blicke nach einer andern Seite!

Herr Carino war kaum mit seiner Beute zum Hause hinaus, als der wackre Jüngling, den er an dem bewußten Orte eingesperrt hatte, nicht ahnend, welch’ ein Unfall ihm begegnet war, die Thür des Cabinets ergriff, sie öfnen wollte, aber verriegelt fand. Vergebens wendete er alle Kraft seiner starken Arme an, Holz und Eisen zu sprengen; die Thür wich nicht. Vergebens rief er, schrie er, brüllte er endlich; niemand hörte seine Stimme. Wie Hercules, als er das Hemd der – nun! wie hieß denn das Nickel? – ha! Dejanira ja! das Hemd der Dejanira auf seinem Leichname kleben hatte, so gebehrdete sich Musjö Valentin, so durchschnitt er mit seiner heulenden Stimme die mephitische Luft, von welcher der Leidende jetzt umgeben war – alles umsonst! Als endlich die Kräfte zu sinken anfiengen und die Muskeln, welche seine Lunge ausdehnten (oder liegen da keine Muskeln? Ich weiß es nicht so eigentlich), herabgespannt waren; da gieng sein Gebrülle in Winseln, Klagen und Seufzen über, und seinen Augen entquollen salzige Thränen. Ich bitte meine hochgeehrtesten Leser dieser Schilderung einige Aufmerksamkeit zu widmen. Sie werden dann finden, daß ich ohne mich zu rühmen, nicht ganz ungeübt in poetischen Malereyen bin, daß ich das Crescendo und Diminuendo gut anzubringen weiß, und daß mein Ausdruck wenigstens eben so edel und kraftvoll ist, als der unsrer mehrsten Romanen- und Comödienschreiber.

Der Schmerz kann nur auf einen gewissen Grad steigen, wie wir Philosophen das wissen, und dann bricht die Welle und es erfolgt wenigstens auf einige Zeit ein Stillstand. Nachdem der junge Herr Waumann lange genug getobt und gejammert hatte, fand er in der Vorrathscammer seiner Vernunft den Trost, daß doch sein Ungemach nicht ewig dauren könne. Er setzte sich also so bequem, wie sich’s thun ließ, nieder; seine Augenlieder, vom Weinen müde, sanken – er schlief ein. Was konnte er auch bessers thun? Zwar lagen ihm zur Seite wohl ein Paar Blätter von der frankfurthischen gelehrten Zeitung, die ein Reisender da, nebst einigen Maculatur-Bogen von dem Romane Nettchen Rosenfarb hatte liegen lassen; aber Herr Valentin las nicht gern und wer kann denn auch in einem solchen Zustande mit Aufmerksamkeit lesen? Lassen wir ihn nun noch ein Weilchen schlafen! Es ist hohe Zeit, daß wir uns nach seinem theuren Herrn Vater umsehen. – Der Himmel weiß, wir haben jetzt alle Hände voll zu thun; Man kann nicht aller Orten zugleich gegenwärtig seyn; indessen ist es doch leichter zu verantworten, einen Menschen auf dem Abtritte eingesperrt, als jemand, der nicht schwimmen kann, im Wasser liegen zu lassen. Und schwimmen konnte der Herr Amtmann nicht; Er wurde aber sogleich herausgezogen, und als er am jenseitigen Ufer gehörig abgetröpfelt war, brachte der Ärger über diesen Vorfall und über das laute Lachen der zahllosen Zuschauer seine durch die Kälte des Wassers erstarrten Glieder und betäubten Lebensgeister wieder so lebhaft in den Gang, daß wir weiter keine schädlichen Folgen für seine Gesundheit zu befürchten brauchen. Er eilte nun nach dem Gasthofe zurück, um seinen blauen, mit Golde besetzten Rock auszuziehen und trocknen zu lassen.

Welcher neue Kummer ihn aber hier erwartete, das wissen wir. Indessen fand er seinen geliebten Sohn schon aus der Gefangenschaft erlöst. Er war kurz zuvor erwacht, hatte seine Klagetöne auf’s Neue angestimmt und dazu ein so vollstimmiges Accompagnement mit den Fäusten an der Thür gemacht, daß endlich von den Hausgenossen, welche indeß heimgekommen waren, Einer ihn gehört und befreyet hatte. Vater und Sohn klagten sich gegenseitig ihr Leid – es war eine herzbrechende Scene. – Zum Glück war der Werth dessen, was Herr Carino mitgenommen hatte, nicht groß; allein lag nicht in der ganzen Verkettung ihrer Unglücksfälle schon Ursache genug zur Traurigkeit? Doch überließen Beyde sich derselben nicht bis zur Verzweiflung; Vielmehr sorgte der Herr Amtmann für seine werthe Gesundheit, zog die nassen Kleidungsstücke aus, legte sich zu Bette, bestellte ein gutes Abend-Essen und unter anderm eine erquickende Wein-Suppe; Valentin ließ sich’s vor seines Vaters Bette wohlschmecken, und gieng dann auch schlafen. Wir wünschen ihnen eine angenehme Ruhe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Braunschweig