Abschnitt 1

Achtes Capitel


Geschichte des Fremden, der in der Eulenburg vor Peina abgetreten war.


„So sehen meine Augen Dich endlich wieder, mein theurer, geliebter Louis!“ rief der Fremde in der Eulenburg dem österreichschen Officier entgegen, als Dieser zu ihm in das Zimmer trat und in seine Arme eilte. – „Mein Wohlthäter! mehr als Vater! Wie viel Dank!“ – stammelte der Officier. – „Orede nicht von Dank!“ „Wie sollte ich nicht?“ – „Komm an mein Herz!“ Und so gieng es noch ein Weilchen fort, in abgebrochnen Worten. – Ein rührender Auftritt! Der Hausknecht, welcher dem Officier die Thür öfnete, hat ihn uns beschrieben, und wenn wir unsern Verleger hätten bewegen können, Kupferstiche zu diesem unserm Romane verfertigen zu lassen; so hätte die Darstellung dieser Zusammenkunft eines der schönsten Blätter liefern müssen. – Vielleicht läßt er sich noch bewegen, der sechsten oder siebenten Auflage einige Bilderchen beyzufügen; bis dahin mag die jetzige Generation der Leser sich die ganze Geschichte mit dem Pinsel ihrer Phantasie vormalen.

Nachdem diese ersten Entzückungen vorüber waren, reichte der fremde alte Herr dem Officier einen schriftlichen Aufsatz dar: „Hier, mein Lieber!“ sprach er, „habe ich die Haupt-Begebenheiten meines Lebens, in welche auch die Geschichte Deiner Jugendjahre mit einverwebt ist, zu Papier gebracht. Längst wollte ich Dir diesen Aufsatz schicken; nur die jetzt erfüllte Hofnung, Dich selbst wieder zu umarmen, hielt mich davon ab. Ich kann ihm ja dann alles mündlich erzählen, sprach’ ich zu mir selber. Nun aber, da ich wieder bey Dir bin, denke ich doch, es sey besser, ich lasse Dich das schriftlich lesen, weil es einmal aufgezeichnet ist; vielleicht könnte ich außerdem manches vergessen. Lies es in müßigen Augenblicken durch, und laß uns jetzt die Freude des Wiedersehens recht genießen!“

Der Officier umarmte nochmals den alten Herrn und steckte das Papier in die Tasche. Da aber die Leser vielleicht ungeduldig werden könnten, bis er es wieder hervorholt, wollen wir hier eine Abschrift dieses Aufsatzes mittheilen.


Geschichte des fremden Herrn in der Eulenburg

Mein Vater war ein redlicher und geschickter Schullehrer in Blankenburg am Harze. Freylich war man damals in der Pädagogic noch weit zurück; Man hatte noch nicht die Entdeckung gemacht, daß man der Jugend die ernsthaftesten, wichtigsten wissenschaftlichen Kenntnisse, selbst von philosophischer Art, durch Kartenspiel und sonst auf tändelnde Weise beybringen könne. Man hielt bey dem Unterrichte sehr viel auf Übung des Gedächtnisses durch Auswendiglernen, besonders in den Jahren, wo man so leicht auffaßt und so viel Stunden übrig hat, die man nicht besser anwenden kann, als damit, daß man in dem Magazine für die ganze übrige Lebenszeit die rohen Materialien aufhäufe, welche die reifere Vernunft in der Folge ordnet, auswählt und zum herrlichen Genusse für das Alter bearbeitet. Indessen gestehe ich gern, daß, wenn irgend etwas, was man lernt, unnütz seyn kann, mein Vater seine Schüler manches unnütze Wort lernen ließ. übrigens fühlte er schwer die Last seines undankbaren Berufs. – Geringe Besoldung, schwere, vielleicht oft gänzlich verlohrne Arbeit vom frühen Morgen bis in die Nacht, und manche Demüthigung von Seiten andrer, weniger nützlicher, aber darum nicht weniger übermüthiger Stände. Er war daher fest entschlossen, seine beyden Söhne (denn ich hatte, oder vielmehr habe noch einen jüngern Bruder) eine andre Laufbahn antreten zu lassen. Der Eine sollte zu Hause, in Blankenburg selbst, die Jägerey lernen – mein Großvater war Oberförster gewesen – ich aber wurde der Kaufmannschaft gewidmet und desfalls zu einem Verwandten nach Nürnberg geschickt.

Wir hatten kaum beyde ein Paar Jahre in dieser neuen Lebensart zugebracht, als mein Vater starb und gar kein Vermögen hinterließ. Dies war grade zu der Zeit des siebenjährigen Krieges; Es wurde im Braunschweigschen ein Jägercorps errichtet und mein Bruder nahm Dienste in demselben. Was mich betrifft, so wollte mir das ruhige Leben am Comtoir-Pulte auch gar nicht gefallen; von allen Seiten her ertönte nichts als Kriegesgeschrey; das machte mir dann Lust, mein Heil bey den Waffen zu suchen. An einem schönen Morgen packte ich meine kleinen Habseligkeiten zusammen, gieng fort aus Nürnberg und ließ mich bey dem Freycorps des französischen Obersten Fischer anwerben.

Es schien, als wenn das Glück meinen raschen Schritt begünstigen wollte; gleich im ersten Feldzuge wurde ich Unterofficier und in dem darauf folgenden, wo ich Gelegenheit hatte, bey einigen Vorfällen Muth und Gegenwart des Geistes zu zeigen, Officier. Hierzu kam noch, daß ich ein paarmal sehr reiche Beute machte, jedoch unter Umständen, die, ich darf es mit gutem Gewissen behaupten, meinem Herzen nicht zur Schande gereichten, denn ich haßte das Plündern und alle die Grausamkeiten, welche unsre Leute sich zuweilen erlaubten. Einst – es war im Winter, und wir hatten Ruhe von den Feinden – war ich mit dem Major von Hoym und dem Hauptmanne Faber nach einem Nonnenkloster geritten, welches eben keine strenge Clausur hatte, am wenigsten jetzt, im Kriege, wo man es so genau nicht nehmen durfte, sondern muntre Gesellschaft ganz gern sah und sich sogar gefallen ließ, zuweilen ein Tänzchen mit Officiers zu machen. Dort lernte ich ein Fräulein von Weißenbaum kennen, ein liebenswürdiges, edles Geschöpf, das der Eigennutz ihrer Familie, wider ihre Neigung, zu dem Klosterzwange verurtheilet hatte. Bey wiederholten Besuchen fühlten wir uns zu einander hingezogen, gestanden uns gegenseitige Liebe, und ohne uns, die wir Beyde kein Vermögen hatten, um die Zukunft zu bekümmern, verabredeten wir, daß ich sie entführen sollte. Mein Freund, der Hauptmann Faber, eine gute, dienstfertige, lustige Seele (Er lebt jetzt als Schloßhauptmann am Hofe des Fürsten von Nassau-Saarbrück) leistete mir, bey Ausführung dieses Plans, treue Dienste. Ich nahm meine Geliebte hinter mir auf mein Roß und brachte sie glücklich nach Fritzlar, wo uns niemand kannte und wo ein Geistlicher das Petschaft des priesterlichen Segens auf unsre Verbindung drückte. Acht Tage nach unsrer Hochzeit mußten wir marschieren und meine Frau folgte mir bey der Bagage der Armee nach Einbeck, wo wir den Rest des Winters zubrachten. Mein Herz schlug mir voll Verlangen, meine Vaterstadt wiederzusehn, da ich ihr jetzt so viel näher war; aber der Dienst litt es nicht. Das Frühjahr kam heran und wir zogen uns zurück nach Hessen; allein zu meinem Unglücke fiel meine liebe Frau in eine schwere Krankheit, und da sie sich noch obendrein im vierten Monate schwanger befand, war es durchaus unmöglich, sie fortzubringen.

In dieser Verlegenheit bat ich unsern commandirenden General um Erlaubniß, an meinen Bruder, der bey der feindlichen Armee war, schreiben zu dürfen. Die braunschweigischen Jäger standen nicht weit von uns; also hielt es nicht schwer, den Brief sicher in meines Bruders Hände zu liefern, der mir auch sogleich freundschaftlich antwortete. Ich bat ihn nämlich und beschwor ihn bey den Banden des Blutes, sich meines verlassenen Weibes anzunehmen, bis ich Anstalten zu ihrer Wieder-Vereinigung mit mir treffen könnte, und er versprach, alles zu thun, was in seinen Kräften stünde und sich von einem zärtlichen Bruder erwarten ließe. Auch hielt er Wort; Sobald die dortige Gegend wieder in den Händen der alliirten Armee war, eilte er nach Einbeck, besuchte meine kranke Gattinn, gab sich ihr zu erkennen, both ihr seine Hülfe an und empfahl sie, als er mit der Armee fortmußte, einem geschickten und redlichen Arzte, wollte auch Geld für sie dort lassen, dessen sie jedoch nicht bedurfte, weil ich sie damit versehn hatte.

Mein gutes Weib kränkelte noch fort, bis zur Zeit ihrer Entbindung, so daß man es nicht wagen durfte, sie von Einbeck wegzuführen. Endlich brachte sie einen Knaben zur Welt; allein das schwächliche Kind starb gleich nach seiner Geburt; die Mutter hingegen wurde durch die treue Sorgfalt ihres Arztes gerettet, erhielt nach und nach ihre Kräfte und endlich ihre völlige Gesundheit wieder. Sobald sie im Stande war zu reisen, dachte ich ernstlich darauf, sie zu mir kommen zu lassen. Es war im Jahre 1762; die französische Armee hielt sich nur mit Mühe noch in Hessen, und weil ich sie also bey mir nicht sicher glaubte, ließ ich sie nach Straßburg bringen, wohin auch ich, gleich nach dem bald darauf erfolgten Frieden, in ihre Arme eilte.

Allein der Frieden, welcher Trost und Ruhe in so manches Herz senkte, war für mich eine Quelle peinlicher Sorgen. Ich wurde reducirt; Das Wenige, was ich durch Beute gesammelt hatte, konnte nicht lange vorhalten, einen großen Theil davon hatte meine Frau schon in Einbeck zusetzen müssen; Was für traurige Aussichten hatte ich daher nicht für die Zukunft? Da indessen doch ein Entschluß gefaßt werden mußte, folgte ich dem Rath eines Freundes, zog nach Worms und legte dort eine kleine Schule an, in welcher wir, mein Weib und ich, Kindern von beyden Geschlechtern Unterricht im Schreiben, Rechnen und in weiblichen Arbeiten gaben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Braunschweig