Abschnitt 1

Siebentes Capitel


Der Herr Amtmann geht, den berühmten Luftschiffer auffliegen zu sehn, und trifft bey seiner Zurückkunft den jungen Herrn in einem kläglichen Zustande an.


Ein größeres Gewühl von Menschenkindern, versicherte der Herr Amtmann auf seine Ehre und Reputation, habe er in seinem Leben noch nirgends gesehn, als das hier, durch welches er sich mit seinen Freunden hindurchdrängen mußte, um vor das Thor auf den Platz zu kommen, der einer Schanze gegenüber lag, aus welcher Herr Blanchard in die Höhe stieg. Wir sind bey manchen andern Kenntnissen, die wir besitzen, und die, ohne uns zu rühmen, ein artiges ensemble ausmachen, beym ersten Unterrichte in der Fortification, wie im Hebräischen, sehr vernachlässigt worden, – lieber Gott! man kann ja auch nicht alles wissen – meinen aber, wollen es jedoch nicht gewiß behaupten, daß dieser Platz zu demjenigen Theile der Festungswerke gehörte, den man die Contre-Escarpe nennt. Genug, es war ein großer grüner Platz am Stadtgraben. – Doch, so weit sind wir noch nicht. Beym Gedränge im Thore verlohr die Frau Licentiatinn Bocksleder ihre Haube; ein Pfund Pferdehaare, in einen Wulst gebunden, womit der Boden der Mütze, faute de mieux, ausgefüllt war, fiel auf die Erde; der Herr Amtmann, welcher die Dame führte, wollte das Bündel aufheben, ein Schuhknecht trat ihm auf die Hand. Dem kleinen David Bocksleder, einem Kinde von zehn Jahren, das eben erst die Blattern überstanden und noch viel rothe Flecke im Gesichte hatte, riß ein Chor-Schüler aus Muthwillen den falschen Haarzopf aus. Ein lustiger Student aus Helmstädt, der den alten Licentiaten einmal in Schöppenstädt gesehn hatte und dem dieser würdige Mann nicht sehr gefiel, steckte ihm einen Stock zwischen die Beine, worüber er stürzte. Allein durch alle diese kleinen Ungemächlichkeiten des Lebens arbeitete sich dennoch die Gesellschaft hindurch und kam glücklich auf den Platz in der – nun ja! in der Contre-Escarpe an. Die Sonne brannte heiß auf die Schädel; Die wollnen Perücken sitzen wärmer als die von Haaren (das kann man uns auf unser Wort glauben, obgleich wir keine tragen), also litt der alte Herr Bocksleder sehr viel von der Hitze. „Es ist teufelmäßig heiß“, sprach er, „Wenn wir hier lange stehn müssen, so schmelze ich wie Butter zusammen, oder crepire vor Durst.“ „Es dauert wenigstens noch eine Stunde“, sagte ein dicker Mann, der mit aufgeknöpfter Weste und einem glänzenden, braunen Gesichte, als wäre es laquirt gewesen, neben ihm stand. „Es dauert wenigstens noch eine Stunde, ehe der Hof von der Tafel aufsteht und herkommt. Dann erst wird mit der Füllung der Anfang gemacht.“ „Wenn nur ein Wirthshaus in der Nähe wäre!“ seufzte der Licentiat. „Deren giebt es hier genug“, antwortete der dicke Mann. Würklich waren rings umher einzelne Garten- und andre Häuser gelegen, in welchen ächter teutscher Pontac, lübeckscher Franzwein und dergleichen verzapft wurde und unsre Gesellschaft trat in eines von diesen.

Für einen Physiognomiker, für einen Menschen-Beobachter und für einen Maler wäre es ein herrliches Fest gewesen, die Gesellschaft zu sehn, welche hier, theils in den kleinen Zimmern, theils im Vorplatze, im Hofe und im Garten, in einzelne Gruppen vertheilt, ihr Wesen trieb, indeß der grüne Platz, an welchen das Haus stieß und von dem wir geredet haben, einem bunten Gemälde von der Speisung der fünftausend Mann glich, wie man es hie und da in Dorf-Kirchen antrifft. Unsre Gäste aber waren weder Gesichter-Leser, noch Seelen-Späher, noch Künstler; also blieb ihr ganzes Augenmerk auf ein Winkelchen gerichtet, wo sie in Ruhe ihren Durst löschen könnten, und das wies man ihnen in einer Hinterstube unter dem Dache an; denn alle andren Zimmer waren gepropft voll. Indessen fehlte es auch hier nicht an Gesellschaft; Zwey Tische fanden sie umringt von Personen beyderley Geschlechts, an einem dritten war noch Raum für sie; der Student aus Helmstädt, dessen wir vorhin erwähnt haben, ein junger Gelehrter, der mit demselben noch auf der Universität gewesen war, jetzt aber in Gandersheim privatisirte und ein Landchyrurgus aus *** in Sachsen, hatten die eine Seite eingenommen; unsre Leute setzten sich ihnen gegenüber.

Wir fühlen einen unwiederstehlichen Trieb, ein Bruchstück aus dem Gespräche dieser interessanten Gesellschaft hier abdrucken zu lassen, und da wir uns nun einmal in Besitz gesetzt haben, solchen Trieben, unter angehoffter hoher Approbation, zu folgen; so wollen wir mit diesem Dialoge andienen, erlauben übrigens den Rezensenten, sobald wir von unserm Herrn Verleger das Honorarium werden eingestrichen haben, über die Weitschweifigkeit unsrer Erzählung Ach und Weh zu schreyen.

Der junge Gelehrte: „Nun, wahrlich! Es bedarf doch herzlich wenig, um der Menschen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehn. Da sind mehr als zehntausend Thoren aus allen Ecken zusammengelaufen, um einen andern Narren einen Bockssprung in die Luft machen zu sehn.“

Der Student: „Aber Herr Bruder! Du hast Dich doch auch eingestellt.“

Gelehrter: „Meinst Du, ich würde deswegen auch nur eine Meile reisen? Originale aller Art zu beobachten, darum bin ich hergekommen. Blanchard habe ich in Frankfurth und in Hamburg aufsteigen gesehn. Vermuthlich wird er sich hier wieder ein Document von fürstlichen und adelichen Personen ausfertigen lassen, daß er so viel tausend Toisen hoch über der Erde geschwebt hat – von Menschen, die, indem sie das schreiben, nicht einmal wissen, was eine Toise ist. Wie sich der Kerl nur einbilden kann, daß er mit einem solchen Zeugnisse bey Gelehrten und Männern von Kenntnissen sich Credit verschaffen werde!“

(Die geneigten Leser werden es nicht ungütig aufnehmen, daß der junge Herr auf die Authorität von Fürsten und Edelleuten in wissenschaftlichen Dingen nicht viel hält. Theils hat er wohl nicht ganz Unrecht, theils ist es jetzt unter den jungen Gelehrten so eingeführt, daß sie alles tadeln, was die höhern Stände sagen und thun, außer wenn sie ihre Schriften loben. Doch geht dieser Widerwillen nicht so weit, daß besagte Gelehrte nicht, wo sichs thun läßt, von Fürsten und Edelleuten Schutz und Wohlthaten vorliebnehmen sollten.)

Gelehrter: „Der Augenschein kann jeden verständigen Menschen überzeugen, daß seine Angaben um mehr als zwey Drittel übertrieben sind. Noch nie hat er sich bis zu der Höhe irgend eines beträchtlichen Berges erhoben. Betrachte man nur die römischen Zahlen auf dem Zifferblatte eines mäßig hohen Thurms! Sie sind mehrentheils über sechs Fuß lang und scheinen, wenn man unten steht, keine Spanne zu messen. Wie fast unsichtbar klein müßte nun nicht ein Ball erscheinen, dessen Durchschnitt ungefehr nur sechsmal größer ist als die Länge jener Zahlen, wenn er würklich zu einer so erstaunlichen Höhe emporstiege! – und nun vollends der kleine, geputzte Franzose mit seinem blauen Wämschen und seinem Federbusche! Wie würde der dem Auge verschwinden!“

Student: „Kann seyn! kann seyn! Wir wollen sehn. Nun, Herr Licentiat! Sie gehen doch diesen Abend in die Comödie?“

Licentiat: „Ich denke wohl –“

Landchirurgus: „Ach! was ist an so einer Comödie? Hören Sie! ich habe in Stuttgard die großen Opern gesehn. Da kamen Pferde und Wagen auf das Theater – Das war noch der Mühe werth.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Braunschweig