Moderne Kunst in Darmstadt

Lange Jahre war in künstlerischen Dingen vollständiger Stillstand gewesen. Die Kunst spielte keine Rolle mehr in Hessen. Stets waren zahlreiche Künstler aus dem Lande hervorgegangen, aber sie waren in die Fremde, nach den Kunststätten gezogen, da die Heimat ihnen nichts bot. Früher war das anders, lange Zeit hindurch war Darmstadt eine Zentrale der graphischen Kunst, hier wurden von dem bekannten trefflichen Kupferdrucker Felsing fast alle bedeutenden deutschen Arbeiten des Grabstichels und der Radiernadel gedruckt, von weit her kamen die Künstler hierher, um ihre Arbeiten zu beenden, zahlreiche Maler und besonders Kupferstecher lebten in der stillen Residenz, die eine so selten schöne Umgebung hat. Das ausgezeichnete Hoftheater, die prachtvolle Gemäldegalerie, die Kupferstich- und Handzeichnungensammlung, eine der bedeutendsten in Deutschland, boten künstlerische Anregung. Nach 1870, besonders aber nach dem Tode der zielbewussten kunstbegeisterten Großherzogin Alice hörte fast alles künstlerische Leben auf. Der alte Felsing war tot, die Söhne zogen nach München und Berlin, der rheinische Kunstverein, einst so blühend, entschlief sanft, der Künstlernachwuchs mied die Öde und Trostlosigkeit daheim, die alle Arbeitsfreudigkeit erstickte. Heinz Helm, allein in seinem Schaffen ganz in der Heimat wurzelnd, starb 1895 als ein Frühvollendeter.

Allmählich ändern sich aber die Verhältnisse, die Stadt nimmt einen bedeutenden Aufschwung. Neue Stadtviertel, schöne, künstlerisch gestaltete Wohnräume wachsen aus dem Boden, mehrere junge Maler kehren nach ihrer Vaterstadt zurück. Im Vorjahre erfolgte nun ein Zusammenschluss der jungen fortschrittlichen Künstler, denen sich noch einige auswärtige Landsleute anschlossen, wenige Monate danach, im Herbst 1898, veranstaltete die aus acht Gliedern bestehende Gruppe „Freie Vereinigung Darmstädter Künstler“ ihre erste Ausstellung, die nach secessionistischen Gesichtspunkten geleitet war. In richtiger Erkenntnis der Zeitströmung hatten die jungen Darmstädter eine umfangreiche Abteilung, die das beste der Eckmann, Berlepsch, Gallé u. a. bot, angefügt. Der Erfolg der Ausstellung, deren Protektorat der Großherzog Ernst Ludwig übernommen hatte, war durchschlagend, durch sie wurde der junge Fürst, dessen weit über das Maß fürstlicher Liebhabereien hinausgehende Kunstliebe den Näherstehenden langst bekannt war, zu weiteren Maßnahmen veranlasst. Der erst dreißigjährige Großherzog empfindet sehr temperamentvoll und durchaus künstlerisch. Die in verschiedenen Schlössern vorgenommenen Umgestaltungen von Innenräumen, kleine An- und Umbauten zeigen Geschmack und eine glückliche Hand, zahlreiche Reisen aus künstlerischer Veranlassung und eifriges Sammeln erwarben ihm große Kenntnisse auf allen Gebieten der hohen und dekorativen Kunst. Nach Herstellung der prachtvollen Empireräume im alten Residenzschloss, in denen die prächtigsten Stücke der in seinem Besitz befindlichen Möbel und Dekorationsgegenstände vereinigt wurden, ließ der Großherzog von den Engländern Ashbee und Scott im sog. Neuen Palais Wohn- und Speiseräume herstellen, Eckmann erhielt den Auftrag zu einem Arbeitszimmer. Im Frühjahr d. J. sind nun mehrere Berufungen von jüngeren Vertretern der angewandten Kunst erfolgt, es sind dies Hans Christiansen, bekannt durch seine Zeichnungen für die „Jugend“, Kunstverglasungen u. dergl., Patriz Huber, Möbelarchitekt, Paul Bürck, Zeichner für Buchschmuck, Teppiche u. dergl., und Rudolf Bosselt, Bildhauer und Medailleur. Ihnen folgten im Herbst noch Peter Behrens, Architekt Josef Olbrich, der Erbauer der Wiener Secession, und Bildhauer Ludwig Habich, der einzige geborene Darmstädter der Gruppe.


Diese Berufungen haben die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, einerseits weil mehrere der Künstler als Vertreter einer etwas extrem modernen Richtung gelten, dann aber weil die Organisation der Kolonie eine neuartige ist. Die Künstler sind durchaus nicht als Lehrkörper einer Kunstgewerbeschule oder dergl. berufen, sondern bilden eine „frei schaffende Gemeinde“. Sie erhalten vom Großherzog freie Werkstätten, sowie aus dessen Privatschatulle ein Gehalt, hezw. Wohnungszuschuss von verschiedener Höhe. Es ist den Künstlern zur Aufgabe gemacht, in kollegialem Zusammenwirken das hessische Kunstgewerbe in modernem Sinn möglichst vielseitig zu entwickeln und zu heben. Sie sind weder verpflichtet, bestimmte Aufträge anzunehmen noch abzulehnen oder Schüler auszubilden. Ihrem Schaffen soll in, jeder Beziehung möglichste Freiheit gewahrt bleiben, sie sind keiner Behörde unterstellt, sondern stehen in direktem persönlichen Verkehr mit dem Großherzog. Vorerst in einem einfachen großherzoglichen Landhaus provisorisch untergebracht, werden die Künstler dann in ein allen Anforderungen entsprechendes Atelierhaus, dessen Projektierung eine ihrer ersten Aufgaben sein wird, übersiedeln. Ihre dringendste Arbeit wird indessen zunächst der Pariser Weltausstellung gelten, für die sie ein feines bürgerliches Empfangszimmer, zu dem nachträglich auf Wunsch des Großherzogs trotz mancher Schwierigkeiten noch ein schöner, günstig gelegener Raum zur Verfügung gestellt wurde, ausführen werden.

Die Gründung hat in hessischen Künstlerkreisen teils durch das Vordrängen einzelner Mittelpersonen, andrerseits durch die geringe Berücksichtigung hessischer Elemente vielfach misstimmt. Für Handwerk und Industrie in Hessen kann die Gründung dieser Kolonie nur segensreich wirken, wenn sie hält, was man sich von ihr verspricht. Dann auch erst wird man ein Urteil über den Wert der einzelnen Berufungen fällen können. B-D

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Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Kunst - Band 1
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