Juden und Nichtjuden in Bessarabien
Dieses ist die Geschichte von Kischinew: Unter den etwa 150.000 Einwohnern von Kischinew gibt es ungefähr 40.000 Juden. Die nichtjüdische Bevölkerung der Stadt besteht aus Moldauern und Großrussen. Kischinew ist die Hauptstadt des Gouvernements Bessarabien, das an Rumänien grenzt. Das Gouvernement gehört zum Ansiedlungsrayon, d. h. zu dem Gebiete Russlands, wo man über fünf Millionen Juden — abgesperrt von den übrigen Teilen des Zarenreiches — in Städten und Städtchen eingepfercht hat, während man ihnen selbst in diesem Rayon das Wohnen auf dem Lande untersagt hat. Wie viel an grenzenloser jüdischer Not und Armut, wie viel an Rechtlosigkeit, an Sklaverei dieses Ansiedlungsgebiet einschließt, davon wird später noch erzählt werden.
Die Juden von Kischinew waren im allgemeinen etwas günstiger gestellt als die meisten ihrer Volksgenossen in Russland. Es hängt wohl damit zusammen, dass Kischinew das reiche Zentrum eines der gesegnetsten russischen Landstriche ist. In Bessarabien leben die Leute viel besser als im übrigen Reiche. Die Moldauer, der Hauptteil der christlichen Bevölkerung, finden in diesem fruchtbaren Gebiet von der Landwirtschaft ein reichliches Auskommen. Während das übrige Russland oft von Missernten heimgesucht wird, die die Bauern zwingen, in den Städten Arbeit zu suchen, hat Bessarabien in den letzten 30 Jahren nur zweimal unter Notständen zu leiden gehabt. Der Moldauer Bauer hat sein fettes Stück Fleisch im Topf und seinen guten Wein dazu. Zweimal in der Woche fährt er zur Stadt — Mittwoch zum Viehmarkt und Sonntag, um sich gütlich zu tun. Manchmal geschieht es im Frühjahr, dass Moldauer in die Stadt kommen, um nach Arbeit zu fragen. Aber die Höhe der Löhne, die sie fordern, beweist, dass sie keine Not drückt. Die gute Situation der Bauern Bessarabiens hat, wie gesagt, auch auf die Lage der dortigen Juden einen günstigen Einfluss ausgeübt. Wenngleich in den zwei Ausnahmejahren der Not es vor allem die Juden waren, die hungerten und darbten und für die man in ganz Russland Spenden bei ihren Volksgenossen sammeln musste, sind sie in den normalen Jahren erträglich gestellt. Obwohl aber im Verhältnis zur jüdischen Not im übrigen Russland die bessarabischen Juden günstiger situiert waren, haben sich die Bauern nie darüber beklagt, dass sie irgendwie unter den Juden zu leiden hätten. Die Beziehungen zwischen Juden und Christen waren erträgliche und bestanden sogar die schwere Probe der Jahre 1881— 1883. Als damals ganz Südrussland von Exzessen gegen die Juden heimgesucht war, versuchte man auch in Bessarabien Aufrufe zu verbreiten, dass man die Juden erschlagen müsse. Aber die Versuche blieben wirkungslos. Die Moldauer sagten damals: „Wenn der Zar will, dass die Juden erschlagen werden, dann hat er seine Armee. Wir aber wollen die Juden nicht schlagen.“ Nur einige Bauern waren für Exzesse. Als aber einer von ihnen einen jüdischen Fleischhauer in Kischinew anfiel, wurde er von diesem zu Boden gestreckt — und damit war der Exzess zu Ende. Nichts charakterisiert wohl besser das damalige Verhältnis zwischen Juden und Christen als die Tatsache, dass sie gemeinsame Wohltätigkeitsgesellschaften gründeten und Juden Mitglieder des Gemeinderates waren.
In den letzten 20 Jahren haben sich durchaus keine derartigen wirtschaftlichen Veränderungen vollzogen, welche eine besondere Feindschaft gegen die Juden hätten erzeugen können. Grund und Boden ist nirgends in jüdische Hände gelangt — haben doch die Juden gar kein Recht, Land anzukaufen. In Handel und Handwerk gibt es kaum eine Konkurrenz — weil sie fast ausschliesslich in jüdischen Händen liegen. Allerdings, es gibt mehrere große christliche Handelshäuser, aber die können an dem jüdischen Kleinhändler nur verdienen. Die Zahl jüdischer Kapitalisten ist winzig klein — ein paar Großpächter und einige Großhändler. Wenn man überhaupt von irgend einer Konkurrenz sprechen könnte, so wäre es höchstens eine solche zwischen Juden und Griechen, in deren Händen sich Tabak- und Weinhandel befindet. Aber auch diese Art Konkurrenz ist ohne Bedeutung. Vielleicht war das Verhältnis zwischen einer Handvoll Juden, die Geld liehen und manchen Moldauer Gutsherren, die immer Geld nötig haben, kein allzufreundliches, aber das kommt bei der Beurteilung der ökonomischen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden schon gar nicht in Betracht.
Im allgemeinen kann man sagen, dass die Juden in Bessarabien heute noch einen kaum entbehrlichen Faktor im wirtschaftlichen Leben darstellen. Der Moldauer Bauer ist weder vorgeschritten noch fähig und fleißig genug, um allein die Produkte seiner Arbeit zu verkaufen. Dazu braucht er den Juden, dessen Rührigkeit und Anspruchslosigkeit der Bauer in seinem eigenen Interesse benutzt. Vielleicht bestand eben darum ein so erträgliches Verhältnis zwischen beiden. Wie viel Wert die Bauern Bessarabiens auf die Juden legten und dass sie die Juden als alles eher denn als ihre Ausbeuter betrachteten, beweist die Tatsache, dass zur Zeit, da die Regierung die Juden aus den Dörfern auswies, die bessarabischen Bauern eine Petition einbrachten, man möge ihnen die Juden zurückgeben. Diese Petition trug noch eine merkwürdige Begründung: „Der jüdische Händler und Vermittler sei ihnen tausendmal lieber als der christliche, der Jude begnüge sich mit einem viel kleineren Verdienst als der Christ.“
Wenn daraus nun klar hervorgeht, dass wirtschaftliche Gegensätze zwischen Juden und Nichtjuden nicht vorhanden waren, so soll damit nicht gesagt sein, dass es nicht — und besonders in den ärmeren Volksschichten — Abneigung und einen bestimmten Hass gegen die Juden gab. Wo wären die nicht zu finden und wie sollten sie gar in Russland fehlen, wo die Juden in Staat und Gesellschaft als Menschen letzter Gattung betrachtet werden und den unvergleichlich ärmsten und schwächsten Teil der Bevölkerung darstellen, dazu noch anderen Stammes sind und andere Tradition und Kultur pflegen? Aber diese sozusagen instinktive Judenfeindschaft hatte keinen unmittelbaren Anlass zu irgend welchen stärkeren Ausbrüchen. Auf wirtschaftlichem Gebiete fand sie, wie gezeigt, nicht nur keine Nahrung, sondern direkte Hemmung. Und was das kulturelle, insbesondere das religiöse Gebiet betrifft, so muss gesagt werden, dass der Moldauer nicht allzu religiös ist und dass Glaubensunterschiede bei ihm keine große Rolle spielen.
Die Juden von Kischinew waren im allgemeinen etwas günstiger gestellt als die meisten ihrer Volksgenossen in Russland. Es hängt wohl damit zusammen, dass Kischinew das reiche Zentrum eines der gesegnetsten russischen Landstriche ist. In Bessarabien leben die Leute viel besser als im übrigen Reiche. Die Moldauer, der Hauptteil der christlichen Bevölkerung, finden in diesem fruchtbaren Gebiet von der Landwirtschaft ein reichliches Auskommen. Während das übrige Russland oft von Missernten heimgesucht wird, die die Bauern zwingen, in den Städten Arbeit zu suchen, hat Bessarabien in den letzten 30 Jahren nur zweimal unter Notständen zu leiden gehabt. Der Moldauer Bauer hat sein fettes Stück Fleisch im Topf und seinen guten Wein dazu. Zweimal in der Woche fährt er zur Stadt — Mittwoch zum Viehmarkt und Sonntag, um sich gütlich zu tun. Manchmal geschieht es im Frühjahr, dass Moldauer in die Stadt kommen, um nach Arbeit zu fragen. Aber die Höhe der Löhne, die sie fordern, beweist, dass sie keine Not drückt. Die gute Situation der Bauern Bessarabiens hat, wie gesagt, auch auf die Lage der dortigen Juden einen günstigen Einfluss ausgeübt. Wenngleich in den zwei Ausnahmejahren der Not es vor allem die Juden waren, die hungerten und darbten und für die man in ganz Russland Spenden bei ihren Volksgenossen sammeln musste, sind sie in den normalen Jahren erträglich gestellt. Obwohl aber im Verhältnis zur jüdischen Not im übrigen Russland die bessarabischen Juden günstiger situiert waren, haben sich die Bauern nie darüber beklagt, dass sie irgendwie unter den Juden zu leiden hätten. Die Beziehungen zwischen Juden und Christen waren erträgliche und bestanden sogar die schwere Probe der Jahre 1881— 1883. Als damals ganz Südrussland von Exzessen gegen die Juden heimgesucht war, versuchte man auch in Bessarabien Aufrufe zu verbreiten, dass man die Juden erschlagen müsse. Aber die Versuche blieben wirkungslos. Die Moldauer sagten damals: „Wenn der Zar will, dass die Juden erschlagen werden, dann hat er seine Armee. Wir aber wollen die Juden nicht schlagen.“ Nur einige Bauern waren für Exzesse. Als aber einer von ihnen einen jüdischen Fleischhauer in Kischinew anfiel, wurde er von diesem zu Boden gestreckt — und damit war der Exzess zu Ende. Nichts charakterisiert wohl besser das damalige Verhältnis zwischen Juden und Christen als die Tatsache, dass sie gemeinsame Wohltätigkeitsgesellschaften gründeten und Juden Mitglieder des Gemeinderates waren.
In den letzten 20 Jahren haben sich durchaus keine derartigen wirtschaftlichen Veränderungen vollzogen, welche eine besondere Feindschaft gegen die Juden hätten erzeugen können. Grund und Boden ist nirgends in jüdische Hände gelangt — haben doch die Juden gar kein Recht, Land anzukaufen. In Handel und Handwerk gibt es kaum eine Konkurrenz — weil sie fast ausschliesslich in jüdischen Händen liegen. Allerdings, es gibt mehrere große christliche Handelshäuser, aber die können an dem jüdischen Kleinhändler nur verdienen. Die Zahl jüdischer Kapitalisten ist winzig klein — ein paar Großpächter und einige Großhändler. Wenn man überhaupt von irgend einer Konkurrenz sprechen könnte, so wäre es höchstens eine solche zwischen Juden und Griechen, in deren Händen sich Tabak- und Weinhandel befindet. Aber auch diese Art Konkurrenz ist ohne Bedeutung. Vielleicht war das Verhältnis zwischen einer Handvoll Juden, die Geld liehen und manchen Moldauer Gutsherren, die immer Geld nötig haben, kein allzufreundliches, aber das kommt bei der Beurteilung der ökonomischen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden schon gar nicht in Betracht.
Im allgemeinen kann man sagen, dass die Juden in Bessarabien heute noch einen kaum entbehrlichen Faktor im wirtschaftlichen Leben darstellen. Der Moldauer Bauer ist weder vorgeschritten noch fähig und fleißig genug, um allein die Produkte seiner Arbeit zu verkaufen. Dazu braucht er den Juden, dessen Rührigkeit und Anspruchslosigkeit der Bauer in seinem eigenen Interesse benutzt. Vielleicht bestand eben darum ein so erträgliches Verhältnis zwischen beiden. Wie viel Wert die Bauern Bessarabiens auf die Juden legten und dass sie die Juden als alles eher denn als ihre Ausbeuter betrachteten, beweist die Tatsache, dass zur Zeit, da die Regierung die Juden aus den Dörfern auswies, die bessarabischen Bauern eine Petition einbrachten, man möge ihnen die Juden zurückgeben. Diese Petition trug noch eine merkwürdige Begründung: „Der jüdische Händler und Vermittler sei ihnen tausendmal lieber als der christliche, der Jude begnüge sich mit einem viel kleineren Verdienst als der Christ.“
Wenn daraus nun klar hervorgeht, dass wirtschaftliche Gegensätze zwischen Juden und Nichtjuden nicht vorhanden waren, so soll damit nicht gesagt sein, dass es nicht — und besonders in den ärmeren Volksschichten — Abneigung und einen bestimmten Hass gegen die Juden gab. Wo wären die nicht zu finden und wie sollten sie gar in Russland fehlen, wo die Juden in Staat und Gesellschaft als Menschen letzter Gattung betrachtet werden und den unvergleichlich ärmsten und schwächsten Teil der Bevölkerung darstellen, dazu noch anderen Stammes sind und andere Tradition und Kultur pflegen? Aber diese sozusagen instinktive Judenfeindschaft hatte keinen unmittelbaren Anlass zu irgend welchen stärkeren Ausbrüchen. Auf wirtschaftlichem Gebiete fand sie, wie gezeigt, nicht nur keine Nahrung, sondern direkte Hemmung. Und was das kulturelle, insbesondere das religiöse Gebiet betrifft, so muss gesagt werden, dass der Moldauer nicht allzu religiös ist und dass Glaubensunterschiede bei ihm keine große Rolle spielen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)