Das Memorandum der jüdischen Gemeinde

Die bereits erwähnte Deputation der jüdischen Gemeinde hat dem Chef der Polizei Lopuchin nachstehendes Memorandum überreicht:

,,Seiner Excellenz
dem Herrn Direktor des Polizei-Departements.


Die zahlreiche jüdische Bevölkerung der Stadt Kischinew, die zwei Tage lang, am 6. und 7. April (a. St.), unmenschlich grausame, blutige Misshandlungen und beispiellose Plünderungen seitens einer zügellosen Menge hat ertragen müssen, erlaubt sich in der diesmaligen Ankunft Ew. Excellenz in unserer Stadt ein Zeichen des Interesses der Hohen Regierung zu erblicken, sowohl in Betreff der Ursachen, die so traurige Ereignisse veranlasst haben, wie wegen der Verhältnisse, unter denen diese Ereignisse so ungewöhnlich schreckliche Dimensionen haben annehmen können. In diesem Falle erhofft die jüdische Bevölkerung der Stadt Kischinew, dass Ew. Excellenz es nicht ablehnen wird, sie anzuhören in ihrer Eigenschaft als Leidtragende. Was die Ursachen, welche diese Krawalle hervorgerufen; haben, anbetrifft, so ist es unserer Ansicht nach nicht möglich, anzunehmen, dass es sich um Fälle wirtschaftlicher Ausbeutung der christlichen Bevölkerung handelt, auf die bei derartigen Gelegenheiten gewöhnlich hingewiesen wird. In ganz Bessarabien und speziell in Kischinew bestand keine Schärfe in den Beziehungen zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung. Die Erklärung hierfür liegt zum Teil in dem ruhigen und friedliebenden Charakter der einheimischen Bevölkerung, zum Teil in den relativ günstigen ökonomischen Verhältnissen des Landesteiles; der Beweis hierfür liegt darin, dass während der letzten zwanzig Jahre hier kein einziger Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen hervorgetreten war, und selbst in der Zeit, wo im Süden und Südwesten Russlands antisemitische Krawalle stattfanden, herrschte in Kischinew volle Ruhe, und das regelmäßige friedliche Leben hat keine Störung erlitten. Als in den achtziger Jahren der ganze Süden von dem Feuer der gegen die Juden gerichteten Krawalle ergriffen war, ist kein einziger Funke nach Bessarabien gefallen. Seit jener Zeit hat Bessarabien wiederholt Missernten erlitten, und dennoch hat die einheimische Bevölkerung nie die Ursache ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten in ihren jüdischen Nachbarn gesehen. Das gegenwärtige Jahr, welches hinsichtlich der Ernte einem vollständig befriedigenden Jahre folgte, konnte ebenfalls absolut keine Unterlage bieten für eine Verschärfung der Beziehungen zwischen der jüdischen und christlichen Bevölkerung auf wirtschaftlichem Boden. Deshalb glauben wir, dass die Frage der wirtschaftlichen Gegensätze in diesem Falle ganz ausgeschlossen bleiben muss. Die reiche und fruchtbare Gegend von Bessarabien gibt jeder Tätigkeit eine vollständig gesicherte Existenz und ist gänzlich frei von jenem Lumpenproletariat der Hafenstädte, aus welchen die Kadres der Krawallstifter gewöhnlich rekrutiert werden.

Die gegenwärtigen Ereignisse, die selbst in der Geschichte der antisemitischen Krawalle beispiellos dastehen, befinden sich in solchem Gegensatze zu dem gewöhnlichen Volksleben unserer Gegend, dass kein Zweifel darüber verbleibt, dass man ihre Ursachen nicht in der allgemeinen Beziehung der Bevölkerung zu den Juden zu suchen hat, sondern in den Ereignissen der letzten Jahre und unmittelbar in den Tatsachen, die schon während der Krawalle selbst zu beobachten waren. Zu den Ereignissen dieser Art rechnen erster Linie den Einfluss der örtlichen deren einziger Vertreter die Zeitung ,,Bessarabetz“ ist. Diese Zeitung existiert über Jahre. Bis zu ihrem Erscheinen hatte die Gegend keine eigene Zeitung. Somit ist es der Zeitung ,,Bessarabetz“' beschieden gewesen, ihre Wirksamkeit auf ganz jungfräulichem Boden auszuüben, daher war ihr Einfluss von Anfang an sehr groß. Vom zweiten Jahrgang ihres Bestehens an begann diese Zeitung systematisch die Lehre gegen die jüdische Bevölkerung zu betreiben, wobei diese Lehre niemals in irgend einer russischen Zeitung eine solche abnorme Gestalt angenommen hat, wie im ,,Bessarabetz“. der daraus eine Spezialität machte. Wir könnten Artikel anführen, welche die Bedeutung eines Anstoßes zur vollständigen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung haben. Die Bevölkerung, deren ganzes Zeitungsmaterial dieses einzige Organ des Ortes bildete (andere Zeitungen hat das Zentral-Zensur-Komitee nicht genehmigen wollen), bekam systematisch tagaus tagein nur ein und dasselbe zu hören, nämlich: „Die Juden sind Feinde, die Juden sind schädlich, die Juden müssen vernichtet werden!“ Die hiesige Zensur-Behörde, die hiesige höchste Administration, hat offenbar diese Richtung als dem Staatsinteresse entsprechend angesehen, anders ist ihr Verhalten zu der Frage nicht zu erklären. Ferner ist es verständlich, dass der Durchschnittsleser, namentlich aber die halbgebildete Masse, das einfache Volk schließlich von den Ansichten derjenigen Zeitung musste erfüllt werden, welche die Vernichtung der Juden nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich hält. Das ist die eine Seite der Sache, sozusagen das Vorbereitungsstadium, das an der Erziehung der Bevölkerung in bestimmtem Geiste und Richtung beständig in Tätigkeit war, wie schon erwähnt, unterstützt durch die Abwesenheit anderer Pressorgane, durch die Stimmung der Zensur-Behörde und durch die fortwährende Agitation eines kleinen Kreises von Personen, die sich um die Fahne des ,,Bessarabetz“ gruppiert haben.

Es gibt keine Nummer, in der nicht irgend eine brutale Herausforderung gegen die Juden vorhanden ist. Äußerungen wie „Tod den Juden!“ als Mittel zur Lösung der Judenfrage wurden von der Zeitung oft gebracht. Als einzige Zeitung des Ortes wird der ,.Bessarabetz“ in allen Kneipen und Teehäusern gelesen, und es ist klar, wie eine solche Zeitung, unausbleiblich den Hass der christlichen Bevölkerung gegen die Juden hervorrufen musste, und wie sie auf die schlechteren Instinkte der menschlichen Natur wirken musste. Zur weiteren Überzeugung ihrer Leser von der Notwendigkeit der Lösung der Judenfrage in dem von ihr empfohlenen Sinne hat sie den Todesfall eines Knaben benutzt, der kurz vor den Feiertagen in Dubussari vorgekommen war und dessen Ursachen zuerst unbekannt waren, und die Zeitung hat mit Nachdruck auf den angeblichen Bedarf der Juden an Christenblut für ihre Ritualzwecke wiederholt hingewiesen; die offizielle Berichtigung der kompetenten richterlichen Behörde hat sie in einer absichtlich schwerverständlichen Form veröffentlicht, um die Wirkung derselben abzuschwächen. Das alles, zusammen mit der ganzen Richtung der Zeitung, musste in der Menge eine Stimmung erzeugen, bei der der erste Stein, der in eine Scheibe geschleudert war, genügte, um die ganze Menge zu einem Judenkrawalle zu bewegen. Uns ist es natürlich nicht möglich, festzustellen, woher die Flugblätter gekommen sind, die in den Kneipen der Stadt Kischinew verbreitet waren, in denen behauptet wurde, dass „der Zar die Erlaubnis gegeben hat, während der drei ersten Tage der heiligen Ostern die Juden zu überfallen“. Wir können aber nicht umhin zu bemerken, dass unter diesen Umständen der Pöbel diese sinnlosen Flugblätter notwendigerweise als logische Fortsetzung der Vorbereitungsarbeiten ansehen musste, welche die hiesige Zeitung während mehrerer Jahre so sorgfältig betrieben hatte. Die Masse, die es nicht versteht, tief in die Ursachen der gesellschaftlichen und staatlichen Ereignisse einzudringen, konnte aus der Haltung der Administration gegenüber der jüdischen Bevölkerung nur den Schluss ziehen, dass gegen die Juden alles das erlaubt sei, was gegen jeden anderen Teil der Bevölkerung als Gesetzwidrigkeit betrachtet wird. Dazu gehören die Ausweisungen der Juden aus verschiedenen Orten, die nachher vor regierenden Senat als unberechtigt bezeichnet worden sind, dazu gehören die Handlungen einzelner Persönlichkeiten.

Die hiesige jüdische Bevölkerung, die lange vor den Feiertagen über die Gärung im Volke und über die Androhung von Krawallen gegen die Juden während des heiligen Osterfestes Kenntnis bekommen hatte, hat sich durch ihre Vertreter an den Chef des Gouvernements gewendet wegen der notwendigen Vorbeugungsmaßregeln zum Schutze der Juden und ihres Eigentums. Der Herr Gouverneur hat Versicherungen gegeben, die sehr beruhigend waren. Im Vertrauen auf diese Versicherungen haben die Juden es für überflüssig erachtet, für irgendwelche Mittel der Selbstverteidigung zu sorgen.

In solcher Stimmung nahte sich das Osterfest dieses Jahres. Man sprach von dem bevorstehenden Gewitter offen und überall, es war auch kein Geheimnis für die Behörden, die selbst am 4. April den Magistrat angewiesen haben, in den Polizeikasernen eine größere Zahl von Bettstellen zu platzieren. Allein zum höchsten Erstaunen haben die Behörden nicht nur vor den Ereignissen keine Vorbeugungsmaßregeln getroffen, sondern auch selbst, als diese schon eingetreten waren, haben sie die Maßregeln nicht getroffen, die möglich und notwendig waren, um zu verhindern, dass das Unheil solche unerhörte Dimensionen annahm, woran man ohne Schrecken nicht denken kann. Vor den Augen der höchsten und niederen Polizei-Behörden fanden unglaubliche Krawalle mit menschlichen Opfern statt, es geschahen Grausamkeiten, wie sie in der Geschichte Russlands seit mehreren Jahrzehnten nicht vorgekommen sind. Daneben befand sich das Militär, und die Behörden haben aus unverständlichen Ursachen die Rechte und Vollmachten nicht benutzt, die ihnen für solche Fälle sowohl § 340 des Strafgesetzes, wie §§ 7 und 8 der Ergänzung zu § 316 Anm. B. 2, bieten, und die Behörden, selbst untätig und ebenso das Militär in völliger Passivität haltend, haben dadurch den Pöbel ermuntert, der angesichts dieser Passivität der Behörden immer heftiger wurde und von einfachen Krawallen schließlich zu Gewalttätigkeiten und Massenmorden beispielloser und unglaublichster Art übergegangen ist. In ihren Angaben an den Staatsanwalt wiesen die Leidtragenden auf Fälle hin, wo Polizisten und Polizeisergeanten selbst den Pöbel zu Ausschreitungen ermuntert hatten durch Rufe: ,,Erschlagt die Juden!“ Hingegen wurden die Juden, die sich zum Selbstschutz mit Stöcken bewaffnet hatten, von der Polizei entwaffnet. Das Ergebnis dieser unerhörten Tage war: 45 Leichen, 86 Schwerverwundete, an 500 Leichtverwundete, Totschläge, Vergewaltigungen von Erwachsenen und Kindern, alle Schrecken der niedrigsten Zügellosigkeit. Unter diesen Umständen ist es durchaus nicht zu verwundern, dass manche der verhafteten Krawallstifter erstaunt fragten: ,,Weshalb werden wir verhaftet, es ist doch erlaubt, die Juden zu erschlagen!“ Es sind z. B. Fälle vorgekommen, wo die Plünderung eines und desselben Hauses am hellen Tage während 8 bis 12 Stunden fortgesetzt worden ist (so bei Mundes, Fradiss, Rudi), und Hilfe kam nicht, obwohl sich die Betroffenen an alle Arten von Behörden gewandt haben. Erst um 5 Uhr abends am 7. April, als das Militär zur aktiven Tätigkeit berufen wurde, begann der Pöbel allmählich seinen Rückzug von der schrecklichen Arbeit.

Angesichts dieser erschreckenden Ereignisse ist die Situation eine solche, dass absolut keine Garantie für die persönliche Sicherheit vorhanden ist und es ganz unmöglich erscheint, zu der normalen friedlichen Beschäftigung zurückzukehren. Die Bevölkerung, gequält durch die blutigen Ausschreitungen der letzten Tage, ohne Schutz und ohne Mittel, ist ganz verzweifelt und ihres Lebens nicht sicher. Der Vermögensverlust kann jetzt nicht berechnet werden, es ist aber sicher, dass er viele Millionen beträgt. Von dem Feuer der Krawalle und Plünderungen, die in Kischinew entstanden, sind schon Funken in die Provinz geflogen.

Die Bevölkerung erwartet von Ew. Excellenz Genugtuung, Beruhigung, Schutz seiner persönlichen Sicherheit und seines Vermögens. Ihre Ankunft in unserer Stadt gibt uns schon allein die Hoffnung, dass wirksame, energische und entschiedene Maßregeln getroffen werden sollen.“

Dieses Memorandum stellt ein historisches Dokument dar: aber nicht sowohl wegen dessen, was darin gesagt ist, als wegen dessen, was darin nicht gesagt ist. Nach alledem, was an notorischen Tatsachen über die Kischinewer Ereignisse vorlag und vorliegt, nach alledem, was diese Juden an menschlichem Jammer und an menschlicher Schlechtigkeit gesehen und erlebt haben, überreichten sie einen Bericht, in dem sie es nicht wagten, obwohl sie auf 100 Personen mit den Fingern hätten weisen können, gegen irgend jemand jene schreiende Anklage zu erheben, die sich ihnen aus dem Herzen auf die Lippen drängte.

Diese unglückseligen Juden sprechen von den tierischen Banditen als von einer irregeleiteten sonst gutmütigen Menge: denn sie zitterten noch immer vor diesem Pöbel, den sie nicht neuerlich zu reizen sich getrauten. Die Gestalten des Gouverneurs und Vice-Gouverneurs werden nur in den Ausdrücken der Ergebenheit herangezogen und die Schwere ihrer Mitschuld nur zaghaft angedeutet: denn morgen, das wissen diese Juden, sind sie wieder der Gnade und Ungnade dieser Organe ausgeliefert.

Nur die Rolle Kruschewans wird mit annähernd genügender Schärfe charakterisiert und der Polizei ihre schwächliche Rolle mit Offenheit vorgehalten: war doch der so gefährliche Kruschewan ohnehin im Wege der Regierung aus dem „Bessarabetz“ entfernt und zu einer Geldstrafe von 800 Rubeln verurteilt worden und auch der Polizeimeister seines Amtes enthoben worden. Von der schamlosen Anteilnahme der Kischinewer Bevölkerung wagt der Bericht weder durch Anführung von Namen noch durch Darstellung einiger Details zu reden: er hätte ja sonst zunächst Ustrugow, den Vize-Gouverneur und Davidowitsch, den Untersuchungsrichter, nennen müssen. Dass der ganze Untergrund der Kischinewer Ereignisse die trostlose, wehrlose Pariastellung der russischen Juden mit keinem Worte der Auflehnung, kaum einem der Feststellung berührt wird, ist vielleicht für die psychologische Beobachtung das traurigste. Man sieht, dass die Überreicher des Memorandums als das Höchste etwas Schutz für den Augenblick erwarten und alles andere, diesen ganzen furchtbaren Zustand des Deklassiertseins wie etwas Selbstverständliches anzunehmen scheinen. Wie können sie auch der Regierung gegenüber, die der Träger eben jenes Systems der unerhörtesten Unterdrückung der Juden ist, einen Einspruch zu erheben wagen in einem Augenblicke, wo sie eben von dieser Regierung den einzigen Schutz für ihr nacktes Leben erbitten müssen?

Und doch trägt dieses Memorandum zugleich große Würde an sich: der gewaltige, verhaltene Schmerz, der aus jedem Worte herausklingt, macht sich nirgends in schwächlichem Jammern Luft. Und trotz der erzwungenen Demut und tragischen Zurückhaltung gegenüber den schuldbeladenen Banditen aller Stände spricht aus der ganzen Darstellung und aus den Konklusionen ein Stolz, der angesichts der furchtbaren Situation doppelt ansprechend ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)