Die Erklärung der Kischinewer Massacres
Nach allem, was wir bisher ausgeführt haben, können wir die Erklärung der Kischinewer Massacres in Kürze geben.
Zunächst: Kischinew ist kein Einzelfall und keine zufällige Erscheinung. Es ist vielmehr die höchste Zuspitzung eines in den russischen Gesamt Verhältnissen begründeten Erscheinungs-Komplexes, der ebenso gut zu einer anderen Zeit und an einem anderen Orte einen Ausbruch hätte zeitigen können. Wer bei Kischinew äußerlich die erste Initiative nahm, ob die Regierung, ob Kruschewan, ob die Kleinbürger, ob die Intelligenz, ob mehrere gemeinsam, — es ist nicht das Wichtigere. Wahrscheinlich ist, dass sich schon in den ersten Aktionen alle Elemente getroffen haben. Und das Wichtige ist nur: Alle Elemente waren geeignet und vorbereitet für die Initiative — wie unsere Ausführungen gelehrt haben. Und alle haben sich, wenn auch aus differenzierten Beweggründen, in die Exekutive mit gleicher Energie geteilt.
Wenn von manchen wirtschaftliche Gründe für die Kischinewer Ereignisse ins Vordertreffen gerückt werden, so sind die Ereignisse gerade ein Schulfall dafür, wie das ökonomische Moment bei Judenexzessen gar nicht das Primäre und Ausschlaggebende sein muss. Denn die Kischinewer Bürger und Bauern gehörten ja zu den reichsten des Landes.
Maxim Gorki findet annähernd die beste Formel, wenn er sagt: Die russische Gesellschaft trägt die Schuld an den Exzessen. Nur darf man ihre Schuld nicht allein in ihrer Korruption suchen, sondern in ihrem durch die geschichtliche Entwicklung bedingten Verhältnis zu den Juden. Dieses Verhältnis, in einem Bilde festgehalten, zeigt uns die Juden in eine furchtbare Enge getrieben, während von allen Seiten auf sie losgestürmt wird.
Wenn wir uns also über den Sturm von Kischinew nicht mehr wundern dürfen, so ist doch ein Neues daran, das unser Entsetzen hervorruft. Es ist die Bestialität der mordenden Massen einerseits, der ebenso bestialische Cynismus der Schar der Mitbeteiligten andererseits, die uns erschauern machten. Solche Bestialität konnte nur entstehen, wenn sie in einem im Nationalcharakter begründeten und durch Tradition und Umgebung geschürten, schrecklichen und barbarischen Hass ihre Unterlage fand. Das Geschichtliche der Entstehung solchen Hasses haben wir zu erklären versucht. Bedauern oder verdammen aber muss man diejenigen, die diese furchtbare Macht, die in Kischinew wirkte, aus irgend welchen Gründen nicht sehen und die „irregeleitete Masse“ deckend, die Regierung oder einzelne Inspiratoren allein anklagen oder verurteilen.
Gibt es einen besseren Beweis, wie wenig die Masse des russischen Volkes erst auf die Organisierung durch die Regierung wartet, als die elementare Bewegung, die sofort nach Kischinew im ganzen Lande in furchtbar bedrohlicher Weise gegen die Juden sich erhob?
Diese Auffassung zwingt uns auch, es auszusprechen, dass die Wiederholung solcher Ereignisse wie das Kischinewer in derselben oder in milderer Form in Russland auch in Zukunft immer stattfinden kann.*) Die Vorbedingungen werden noch auf lange Zeit hinaus gegeben sein, und die russische Bevölkerung wird immer zur Aktivität bereit sein.
Wenn aber die Ausbrüche nicht im Keime unterdrückt werden, dann ist die weitere Verantwortung und Schuld einzig bei der russischen Regierung.
Bei ihr steht es, den Judenhass, dem sie ohnehin so gewaltige Konzessionen gemacht hat, im Augenblick, wo er sich explosiv äußern will, zu zügeln.
Diese Verantwortlichkeit der russischen Regierung muss man vor allem und immer wieder in Europa aufzeigen. Und es müsste das öffentliche Gewissen Europas sein, welches nicht dulden soll, dass Millionen Juden der Willkür einer unbarmherzigen Menge preisgegeben werden sollen.
*) Tatsächlich werden wieder in den allerletzten Tagen gefährliche und sogar blutige, wenn auch bald unterdrückte Exzesse gemeldet.
Zunächst: Kischinew ist kein Einzelfall und keine zufällige Erscheinung. Es ist vielmehr die höchste Zuspitzung eines in den russischen Gesamt Verhältnissen begründeten Erscheinungs-Komplexes, der ebenso gut zu einer anderen Zeit und an einem anderen Orte einen Ausbruch hätte zeitigen können. Wer bei Kischinew äußerlich die erste Initiative nahm, ob die Regierung, ob Kruschewan, ob die Kleinbürger, ob die Intelligenz, ob mehrere gemeinsam, — es ist nicht das Wichtigere. Wahrscheinlich ist, dass sich schon in den ersten Aktionen alle Elemente getroffen haben. Und das Wichtige ist nur: Alle Elemente waren geeignet und vorbereitet für die Initiative — wie unsere Ausführungen gelehrt haben. Und alle haben sich, wenn auch aus differenzierten Beweggründen, in die Exekutive mit gleicher Energie geteilt.
Wenn von manchen wirtschaftliche Gründe für die Kischinewer Ereignisse ins Vordertreffen gerückt werden, so sind die Ereignisse gerade ein Schulfall dafür, wie das ökonomische Moment bei Judenexzessen gar nicht das Primäre und Ausschlaggebende sein muss. Denn die Kischinewer Bürger und Bauern gehörten ja zu den reichsten des Landes.
Maxim Gorki findet annähernd die beste Formel, wenn er sagt: Die russische Gesellschaft trägt die Schuld an den Exzessen. Nur darf man ihre Schuld nicht allein in ihrer Korruption suchen, sondern in ihrem durch die geschichtliche Entwicklung bedingten Verhältnis zu den Juden. Dieses Verhältnis, in einem Bilde festgehalten, zeigt uns die Juden in eine furchtbare Enge getrieben, während von allen Seiten auf sie losgestürmt wird.
Wenn wir uns also über den Sturm von Kischinew nicht mehr wundern dürfen, so ist doch ein Neues daran, das unser Entsetzen hervorruft. Es ist die Bestialität der mordenden Massen einerseits, der ebenso bestialische Cynismus der Schar der Mitbeteiligten andererseits, die uns erschauern machten. Solche Bestialität konnte nur entstehen, wenn sie in einem im Nationalcharakter begründeten und durch Tradition und Umgebung geschürten, schrecklichen und barbarischen Hass ihre Unterlage fand. Das Geschichtliche der Entstehung solchen Hasses haben wir zu erklären versucht. Bedauern oder verdammen aber muss man diejenigen, die diese furchtbare Macht, die in Kischinew wirkte, aus irgend welchen Gründen nicht sehen und die „irregeleitete Masse“ deckend, die Regierung oder einzelne Inspiratoren allein anklagen oder verurteilen.
Gibt es einen besseren Beweis, wie wenig die Masse des russischen Volkes erst auf die Organisierung durch die Regierung wartet, als die elementare Bewegung, die sofort nach Kischinew im ganzen Lande in furchtbar bedrohlicher Weise gegen die Juden sich erhob?
Diese Auffassung zwingt uns auch, es auszusprechen, dass die Wiederholung solcher Ereignisse wie das Kischinewer in derselben oder in milderer Form in Russland auch in Zukunft immer stattfinden kann.*) Die Vorbedingungen werden noch auf lange Zeit hinaus gegeben sein, und die russische Bevölkerung wird immer zur Aktivität bereit sein.
Wenn aber die Ausbrüche nicht im Keime unterdrückt werden, dann ist die weitere Verantwortung und Schuld einzig bei der russischen Regierung.
Bei ihr steht es, den Judenhass, dem sie ohnehin so gewaltige Konzessionen gemacht hat, im Augenblick, wo er sich explosiv äußern will, zu zügeln.
Diese Verantwortlichkeit der russischen Regierung muss man vor allem und immer wieder in Europa aufzeigen. Und es müsste das öffentliche Gewissen Europas sein, welches nicht dulden soll, dass Millionen Juden der Willkür einer unbarmherzigen Menge preisgegeben werden sollen.
*) Tatsächlich werden wieder in den allerletzten Tagen gefährliche und sogar blutige, wenn auch bald unterdrückte Exzesse gemeldet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)