Die unzulänglichen Mittel, die auf einer falschen Beurteilung des Grundschadens beruhen.

Wir haben gesehen, wie nichtig und unzulänglich sich alle die bisher vorgeschlagenen Lösungen des jüdischen Problems erwiesen haben. Wir haben auch erkannt, dass ihre Mängel der Tatsache zuzuschreiben sind, dass die eigentliche Ursache oder Quelle des Übels, dem sie abhelfen möchten, noch nicht richtig festgestellt worden ist.

Es ist der allgemeine Irrtum aller, die sich mit der Lösung der Judenfrage abgeben, dass sie einseitig die gegenwärtige Lage der Juden in Betracht ziehen, ohne Bezug auf die Vergangenheit des Volkes zu nehmen, und anderseits suchen sie die Wurzel des Übels außerhalb des Juden.


Des Juden Schicksal stellt einzig in der Menschheitsgeschichte da. In den Erfahrungen anderer Völker finden wir nichts, was zur Lösung dieses verwickelten Problems dienen könnte. Der Schlüssel zur Lösung der Judenfrage muss notwendigerweise in seiner eigenen geschichtlichen Erfahrung gesucht werden und in den zuverlässigen Berichten seiner Vergangenheit.

Die bald neunzehn Jahrhunderte lange Verbannung ist keineswegs die Ursache aller Leiden, die die Juden betroffen haben, sondern ist nur das Symptom einer tiefer liegenden Ursache. Wenn man versuchen wollte, die jüdische Not dadurch zu heilen, dass man die Verbannung, also dies bloße Symptom des eigentlichen Elends, zu lindern suchte, so würde man die Wurzel des Übels nicht treffen und die Not nur noch vergrößern.

Seit ihrem letzten Exil haben die Juden immer wieder gebeichtet: „Um unserer Sünden willen sind wir aus unserem Lande vertrieben und entfernt von unserem Erdreich." Damit geben sie zu, dass die Ursache der vielen Prüfungen und Trübsal im Volke selber zu suchen ist. Aber der Jude hat sich bis jetzt noch nicht gefragt, was wohl diese Sünden sind, die alles Beten und Fasten und ein durch neunzehn Jahrhunderte treues Festhalten an dem Gesetz nicht zu sühnen vermocht haben?

In dem ersten viel kürzeren Exil hatte das Volk die Ursache und das Wesen seiner Verbannung genau erkannt. Der Prophet Jeremia, der ein Zeitgenosse dieser ersten nationalen Katastrophe war, stellte nicht allein die Ursache der Verbannung fest, sondern hatte sie sogar vorher verkündet, — ihre Dauer und die Zeit der Heilung und Wiederherstellung des Volkes.

Weil die Juden am Götzendienst festhielten, darum sollte die Macht Babylons über das Volk Judas und die Einwohner Jerusalems kommen. Das Land sollte wüste liegen und das Volk sollte in eine siebzigjährige Gefangenschaft geführt werden. (Jerem.25, 4—11). Wenn aber die siebzig Jahre um waren, dann sollte das Land der Chaldäer um ihrer Missetat willen heimgesucht werden und ihr Land wollte Gott „zur ewigen Wüste" machen. Wenn aber Israel Jehovah suchen und finden wird, dann will er sie aus allen Völkern sammeln, dahin er sie verstoßen hat, und will sie an den Ort bringen, von dannen er sie hat wegführen lassen. (Jerem. 25, 12—14; 29, 10—14).

Die siebzig Jahre waren um. Das stolze Babylon lag vernichtet zu Füßen des persischen Eroberers; die gefangenen Söhne Judas aber wurden mit freudigem Jubel aufgenommen, und das Wort, das Jehovah durch den Propheten Jeremia gesprochen hatte, wurde erfüllt: die Juden durften in ihr eignes Land zurückkehren und den Tempel Jehovahs in Jerusalem bauen. (Esra 1, 1 — 3).

Israels tief eingewurzelte götzendienerische Neigungen waren durch die siebzigjährige Gefangenschaft vollständig ausgerottet. Für immer waren sie nun von der todbringenden Sünde des Götzendienstes gereinigt, der bis zu den Anfängen des Christentums wie ein bleiernes Leichentuch über der gesamten alten Welt ausgebreitet gelegen hatte. Als ein gottesfürchtiges Volk hatten sich nun die Juden zum zweiten Male in ihrem Lande niedergelassen und nichts war ihnen von jetzt ab vdchtiger als die Verehrung Gottes und das Studium Seines Gesetzes.

Seit den Tagen Esras bis auf den heutigen Tag haben die Juden für ein besonders frommes und religiöses Volk gegolten. Gott und seine Thora war Israels höchstes Gut. Niemand betete länger oder inbrünstiger als der Jude; niemand fastete so hart, und niemand widmete dem Studium des Gesetzes so viel Zeit oder versuchte Gottes Gebote genauer zu halten, als eben der Jude. Und dennoch hat dies unglückliche Volk keine einzige der zahlreichen und herrlichen Verheißungen, die an das Halten des Gesetzes geknüpft wurden, gekostet. (3. Mose 26, 3—13; 5. Mose 28, 1 — 13). Statt dessen haben sich alle Flüche, die dem Ungehorsamen von Gott angedroht waren, buchstäblich an Israel erfüllt. (3. Mose 26, 14—43; 5. Mose 28, 15—67).

Nach fünfhundert Jahren mühsamer Selbstbehauptung erfolgte ein vollständiger Zusammenbruch; Israel wurde aus seiner Heimat vertrieben, die in Trümmer darnieder sank. Mit müdem Körper und bekümmerter Seele, ein Schatten seiner selbst, hat sich der Jude als flüchtiger, heimatloser Wanderer durch die Jahrhunderte geschleppt.

Siebzig Jahre, also nur zwei Geschlechter, genügten um den Juden vom tödlichen Keim der Abgötterei zu reinigen und eine völlige Heilung zu erzielen. Nun aber schmachtet er schon über fünfzig Generationen auf dem Krankenbette des zweiten Exils, ohne auch nur imstande zu sein, die Ursache seiner Leiden herauszufinden oder die Sünden mit Namen zu nennen, die er unablässig beichtet und beklagt.

Die wenig gotterfüllte Theologie der Rabbinen des römischen Exils vermochte nicht, das Rätsel der jüdischen Not in seiner tiefsten Ursache zu ergründen. Wohl waren jene Rabbinen Seelenärzte genug, um von den Symptomen ihrer Patienten auf die Krankheit der Sünde (s. S. 92 A) zu schließen. Welche besondere Sünde nun aber diese Symptome verursachten, war etwas, was über die Weisheit jener Rabbinen hinausging, und hat sich auch ihren Nachfolgern bisher nicht entschleiert.

Andere Rabbinen, die ebenfalls Zeitgenossen der römischen Periode waren, haben gleich den Propheten des ersten Exils die Ursache des jüdischen Elends festgestellt, (Matth. 23, 37 — 39; Luk. 19, 41—44; Matth. 24, 2; 21, 33-44; 23, 29—36; Luk. 23, 28—31 ; Rom. 9, 30—33; 10, 2—4; 11, 7) und haben auch das rechte Heilmittel angegeben und in prophetischem Geiste die Zukunft vorausgesagt. (Apost. Gesch. 2, 36 — 39; 3, 17 — 21, 25 — 26; Rom. 11, 1—2, 11—12, 15, 23, 25-26, 31—32; 2. Kor. 3, 14—16). Aber die Schriften dieser Rabbinen, welche für die Christenheit mit Gesetz und Propheten auf einer Stufe stehen, sind unter den Juden so gut wie nicht bekannt geworden. Seitdem die Rabbinen des Talmud (s. S. 92 B) die Schriften des Neuen Testaments verworfen haben, sind diese von Juden kaum je in einer anderen Absicht, als sie zu widerlegen, gelesen worden.

So war der einzige Schlüssel zur Lösung des Problems durch die weisen Gesetzeslehrer abhanden gekommen, die sich selber von dem Himmelreich ausschlössen und alle anderen hinderten, hineinzukommen. (Matth. 23, 13; Luk. 11, 52).

Entmutigende Zweifel und starre Verzweiflung traten allmählich an Stelle des hoffnungsfreudigen Glaubens an das Kommen des Messias, der das jüdische Herz hatte höher schlagen lassen und die ermattenwollende Kraft während der mühsamen Pilgerschaft durch die Jahrhunderte aufrecht erhalten hatte. Die innigen Gebete, die täglich für sein Kommen aus den Häusern und Synagogen emporstiegen, werden matter und matter. Und bei diesem allen hat sich der Jude immer noch nicht gefragt, ob der Messias nicht vielleicht schon gekommen sei, und ob die Ursache des jüdischen Elends nicht vielleicht darin hegen könne, dass man sich unausgesetzt weigert, den anzuerkennen, dem die ganze zivilisierte Welt seit langem schon als dem Retter Israels und dem Heiland der Welt huldigt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenfrage und der Schlüssel zu ihrer Lösung