Einleitung

Die Geschichte der Anschauungen sowie der inneren Vorgänge gesellschaftlicher Entwicklung überhaupt, passen sehr selten in so rein äußerliche Perioden hinein, wie es Regierungsperioden sind. Aber in Bezug auf das Zeitalter Alexanders I. wäre eine derartige Abgrenzung einer historischen Periode keineswegs willkürlich, um nur einer äußeren Bequemlichkeit zu dienen. Im ganzen historischen Entwicklungsgange der russischen Bildung und des gesellschaftlichen Lebens weist diese Periode keine besonders bemerkbaren Veränderungen auf. Dieselben traditionellen Prinzipien spielten noch immer die Hauptrolle; die unbeschränkte Vormundschaft des Staates lastete noch auf der Denkweise der Gesellschaft. Die große Masse des Volkes verblieb noch immer in ihrem altherkömmlichen passiven Stillstande, in Betreff der Entwicklung der Anschauungen jedoch, die nichtsdestoweniger in den gebildeten Kreisen vor sich ging und neue Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens für die Zukunft vorbereitete, stellt diese Periode eine große Eigenartigkeit des Charakters und der Richtung vor. Diese Eigenartigkeit des Zeitalters Alexanders wird von zwei Hauptmomenten bestimmt, zuerst durch die Person des Kaisers selbst, dessen Einfluss, bald anregend, bald retrograd, verschiedenartig in den Entwicklungsgang der gesellschaftlichen Anschauungen eingriff. Dann kam unter dieser Regierung die russische Gesellschaft in besonders enge Berührung mit dem westeuropäischen Leben, und der Einfluss europäischer Ideen, durch den sich die ganze neue russische Geschichte auszeichnet, grub tiefe Furchen in die Geister und rief in ihnen zum erstenmal politische Bestrebungen wach. Dies war ein neuer Charakterzug in der Geschichte der russischen Gesellschaft und dessen Entstehen gehört eben den Zeiten des Kaisers Alexander an.

In einer solchen Gesellschaft, wie die russische, spielt die Person des Herrschers eine weitaus wichtigere Rolle, als in denjenigen, die politische Freiheit und einen höheren Bildungsgrad besitzen. Und in der Tat, in einer Gesellschaft, wo die Macht des Herrschers keine Grenzen hat, werden seine persönlichen Ansichten und sogar seine Launen zu einem mächtigen Faktor des ganzen gesellschaftlichen wie staatlichen Lebens. Der natürliche Entwicklungsgang wird stets durch die bald wohltätige, bald schädliche Einmischung der Regierung unterbrochen. Daher gewinnt die Person des Herrschers eine besondere historische Wichtigkeit; aber bei der Beurteilung derselben darf man auch nicht vergessen, dass sie selbst bei all' ihrer scheinbaren Unabhängigkeit nichts weniger als etwas gänzlich Willkürliches ist. Umgekehrt, wenn man in den selbständigsten Persönlichkeiten, wie Peter der Große es war, der mit seinen Plänen fast vereinzelt dastand, mit rein revolutionären Mitteln zu Werke ging und der großen Bevölkerungsmasse zum Trotz die gewohnten Formen des Lebens veränderte, doch nicht den tiefen Einklang mit den Grundbedürfnissen der Nation und des Zeitalters verkennen kann, so sind gewöhnliche Erscheinungen um so enger mit dem Charakter der Zeit verknüpft. Diese lenken nicht den Strom des nationalen Lebens , sondern werden, unter dem Einfluss der Gesellschaft, sehr oft zu dem, was die Umgebung aus ihnen macht und trotzdem, dass es, wie es scheint, ihnen wohl möglich wäre, das zu sein, was sie selbst wünschen, unterwerfen sie sich dennoch dem allgemeinen Zeitgeist und werden im Kampfe der gesellschaftlichen Elemente zum Widerhall dieser oder jener Richtung. Dies zeigte sich besonders bei Alexander. Bei seinem weichen Charakter und bei den durch die Erziehung ihm eingeimpften Anschauungen bangte ihm sogar anfangs vor der Lage eines unbeschränkten Selbstherrschers, die ihm zu teil wurde und er äußerte offen seine Antipathie gegen die Eigentümlichkeiten der russischen Herrschermacht; aber das Leben tat das seine, und inmitten liberaler Vorhaben endigte er mit dem Despotismus. In seiner ganzen Tätigkeit spiegelten sich merkwürdigerweise sehr verschiedene, sogar unvereinbare Einflüsse und Bestrebungen der Zeit. In der Tat, er repräsentiert die liberalen Tendenzen zur Bildung wie zur Befreiung des gesellschaftlichen Lebens, und eben er stellte die hartnäckigste Reaktion vor und bei seiner persönlichen Weichheit wurden doch unerträgliche Willkür und Verfolgung geduldet; dabei ordnete er sich diesen verschiedenen Richtungen nicht nur in den verschiedenen Perioden seines Lebens unter, wie es bei so vielen Herrschern der Fall war, die in der Jugend liberal, im Alter reaktionär wurden, sondern schwankte nicht selten zu gleicher Zeit zwischen zwei gänzlich verschiedenen Strömungen. Dieser Zug fiel den Zeitgenossen und den spätem Geschichtsschreibern Alexanders sehr in die Augen. Meistenteils konnten sie keine andere Erklärung dafür finden, als in seiner Charakterschwäche oder in seiner Zweizüngigkeit; diese letzte Eigenschaft warf man Alexander sehr oft vor, obwohl es kaum gerecht wäre, seine Schwankungen und Widersprüche nur durch Mangel an gutem Willen oder durch bewusste Heuchelei zu erklären. Alexanders Charakter zeichnete sich in der Tat durch einen hohen Grad von Doppelseitigkeit, Unentschiedenheit und Unsicherheit aus, aber ein beträchtlicher Teil dieser Eigenschaften muss auf Rechnung jener schwierigen Verhältnisse gesetzt werden, die das Leben selbst ihm in den Weg stellte. Einer von den klügsten und strengsten seiner Geschichtsschreiber, Gervinus, erkennt an, dass die Schwierigkeiten jener Verhältnisse derart waren, dass es sogar außerhalb der Macht eines Menschen von viel höherer moralischer Energie gewesen wäre, dieselben mit Erfolg zu überwinden. Es ist wohl schwierig, einen Menschen der puren Heuchelei anzuklagen, der selbst unter den ihm ausgangslos scheinenden Widersprüchen litt, wie es zweifelsohne bei Alexander der Fall gewesen. Von verwickelte, Verhältnissen umgeben, berufen, verhängnisvolle Fragen zu lösen, war Alexander oft nicht imstande, in sich selbst den Kampf feindlicher Prinzipien zu beschwichtigen und beging Fehler, die ihn später peinlich quälten; daher waren auch in seiner inneren Geschichte wahrhaft tragische Momente vorhanden. Anfangs von den besten Absichten beseelt, vermochte er es doch nicht, Herr über die Umstände zu werden, die ihn auf einen andern Weg rissen. Zwar verzichtete er nicht auf seine Pläne, aber weder in sich selbst, noch im äußeren Leben fand er Mittel zu deren Verwirklichung und folgte Irrtümern, die ihn zu traurigstem Gebrauche seiner Macht verleiteten, zur Unterstützung von manchen, dem allgemeinen Wohle feindlichen Handlungen. Jedoch beruhigte er sich nicht bei dieser reaktionären Politik und seine innere Unruhe zeigt ihn nicht als einen herzlosen Heuchler oder Tyrannen, als den man ihn nicht selten schilderte, sondern als einen Irrenden, der doch fähig war, Mitleid zu erregen, da er jedenfalls ein Mann mit moralischen Idealen war, die über die altherkömmliche Routine in seiner Sphäre hinausgingen und deren Vorhandensein er nicht einmal durch seine Handlungen bewies.


In solcher Weise verknüpft sich die Persönlichkeit des Kaisers Alexander besonders eng mit der Geschichte seiner Zeit. Man kann sogar behaupten, dass er einer von den charakteristischsten Repräsentanten derselben gewesen ist. Er selbst teilte persönlich die verschiedenen Strömungen jener Zeit und jene Gärung der gesellschaftlichen Ideen, die damals in das russische Leben einzudringen begann, scheint sich in ihm selbst in derselben unentschiedenen Weise abgespiegelt zu haben, die ihm bis an die letzten Tage seines Lebens eigen war. So träumte er zuerst von den weitgehendsten Reformen, an die nur die kühnsten Geister der damaligen russischen Gesellschaft dachten; er war Liberaler, Anhänger der konstitutionellen Institutionen, er suchte selbst „Opposition". Zu einer andern Zeit, in Unruhe versetzt durch die wirklichen Schwierigkeiten und durch die vermeintlichen Gefahren, wurde er Konservativer, Reaktionär, Pietist. Schließlich ist es wohl überflüssig, von jener gewaltigen Bedeutung viel zu sprechen, die er als herrschender Mittelpunkt der großen Ereignisse besaß, welche in Europa und in Russland vor sich gingen und auf die Geister eine erschütternde Wirkung ausübten. Im Innern des russischen Lebens selbst, im Wachsen und im Kampfe der gesellschaftlichen Anschauungen, erscheint wiederum seine Person als ein mächtiger Hebel, mit dessen Hülfe die eine oder die andere Richtung das Übergewicht gewann und der in ihre wechselseitigen Beziehungen eingriff.

Das sind die verschiedenen Umstände, durch welche die Person des Kaisers Alexander ihre charakteristische Bedeutung gewinnt, und dadurch ist die Epoche seiner Regierung nicht nur eine chronologische Periode in der Geschichte der gesellschaftlichen Anschauungen und im Bildungsgange der russischen Gesellschaft.

Ein anderer Zug, durch den Alexanders Regierung eine besondere Epoche in dieser Geschichte bilden kann, liegt in dem Inhalte dieser Anschauungen selbst, die damals in die Geister eindrangen. Die Resultate der früheren Entwicklung und die weit innigere Berührung mit dem europäischen Leben und seinen politischen Interessen, wie dies vorher in solchem Maße noch niemals der Fall gewesen war, riefen wie in der Regierung, so auch in der Mitte der Gesellschaft selbst, eine besondere Gärung der gesellschaftlichen Ideen hervor, und infolge verschiedener, damals miteinander verschmolzener Bedingungen, erhielt diese Gärung eine politische Richtung, welche bis dahin der Gesellschaft fast gänzlich fremd und unbekannt gewesen war.

In der Tat, diese Hochflut sozial-politischer Ideen in der Regierungszeit Alexanders stellte etwas völlig Neues vor. Es ist nicht schwierig, sich davon zu überzeugen, wenn man einen Rückblick auf das frühere Schicksal der russischen Gesellschaft wirft. Dasselbe war einfach: das von Peter dem Großen gegründete „Neue Russland" nahm vollständig den Charakter der inneren Ordnung an, die sich in der Periode der Moskauer Regierung gebildet hatte. Dieser Charakter ist bekannt: die Nation büßte ihre politischen Rechte ein und verzichtete auf sie zu Gunsten der unbeschränkten Herrschergewalt, die als das allerbeste Mittel zur Einigung erschien und zu gleicher Zeit für das Volk ein Schutz gegen die Bojarenoligarchie war. Die alten Landstände (Sobory) kamen noch im moskowitischen Russland um ihre wirkliche Macht, abgesehen vielleicht von mancher Beratungsbedeutung, oder sie spielten die Rolle einer fiktiven Repräsentation, welche hier und da für die diplomatischen Berechnungen der Regierung selbst nötig waren und fielen sehr bald der Vergessenheit anheim, sobald die Regierung es nicht mehr für nötig hielt, sie zu versammeln. Und so hat Peter seine Alleinherrschaft bereits konsolidiert ererbt. In den Unruhen, die seine Regierung erfüllten, war keineswegs von den politischen Eigenschaften dieser Gewalt die Rede: die Ursachen derselben waren die herrschsüchtigen Pläne der Carevna Sofia, der religiöse Konservatismus der „Altgläubigen," und der traditionelle Konservatismus der Anhänger der alten Zeit. In der Tätigkeit Peters war seinen Gegnern jener revolutionäre Bruch mit dem alten Volkswesen unerträglich, durch welchen sie den Verfall der Nation selbst befürchteten, auf Grund des alten Spruches: „Derjenige Staat, der seine Sitten zu verändern beginnt, wird nicht lange bestehen." — An dem Zar hassten die Anhänger der alten Zeit die in Glaubenssachen zu geringe Frömmigkeit, ja oftmals gänzliche Leichtfertigkeit seines Wesens, und in ihren Augen erniedrigte er seine byzantinische Würde durch jegliche niedere Arbeit und durch Freundschaft und Schlemmerei mit Fremdlingen u. s. w. Gegen die Allgewalt selbst hatten sie nichts einzuwenden, aber sie wollten in ihm einen früheren Zaren im byzantinisch-asiatischen Stile des 16., 17. Jahrhunderts haben. Allein dieser Stil verschwand unwiderbringlich; doch in der dumpfen Feindseligkeit gegen die neuen Sitten war weder unter Peter noch später ein Schatten vom politischen Klemento vorhanden, sondern nur derselbe altherkömmliche religiöse Konservatismus des Volkswesens, zu dem später noch die neuen Entwicklungsphasen der Sekten, des Raskol, hinzukamen. Die ganze Volksmasse blieb wie früher stimm- und rechtlos in einem rein passiven Zustande, der im Laufe des ganzen achtzehnten Jahrhunderts anhielt und in das neunzehnte überging. Die einzigen Bewegungen, durch welche sie ihre Opposition gegen die verschiedenen drückenden Einrichtungen kundgab, waren die Bauernaufstände, sehr oft mit irgendwelchen usurpatorischen Bestrebungen Einzelner verbunden, da diese Samozvancy *) für die große Menge die einzige ihr imponierende Autorität waren. Denn diese hatten für sie eine außerordentliche Überzeugungskraft, als die einzige politische Idee, in der das Volk von alters her alle seine frommen Hoffnungen verkörperte.

*) Eine eigentümliche Erscheinung in der russischen Geschichte, wo unter dem angenommenen Namen eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie mancher Aufrührer sich an die Spitze von Volksbewegungen stellte. Amn. des Übersetzers.

Aber wenn auch die Geschichte des Volkes keine wirklich politische Bewegung aufwies, so begann dennoch unter den europäischen Einwirkungen sich eine neue Gesellschaft zu bilden, welche die Keime der Zukunft in sich trug, in der erst die Entwicklung der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit und Selbständigkeit vor sich gehen konnte. Die gesellschaftlichen Anschauungen erwachten allmählich; Peter fand nur sehr wenige Helfer, die wirklich die Sache der Reform verstanden und in ihr das Unterpfand des gesellschaftlichen Wohles erblickten, und die neue Gesellschaft, deren Repräsentanten ein Feofan oder ein Kantemir gewesen, war nicht sehr zahlreich. Während der finstern Periode vom Tode Peters bis zu Katharina II., während dieser „Saturnalien des Despotismus," wie sich Karamsin ausdrückte, blieb die Gesellschaft, gleich dem Volke, eine passive Zuschauerin der Palastrevolutionen, obwohl bereits so mächtige politische Köpfe wie Volynskij, Männer von allumfassender Kenntnis der inneren Verhältnisse Russlands, wie Tatiscev, erschienen, und zuletzt entstand manche Gärung der politischen Anschauungen in der Gesellschaft selbst: in der Opposition, welche beim Regierungsantritte Annas seitens des russischen Adels („Sljachetstvo") gegen die Pläne der Oligarchie zu Tage trat und die mit der vollständigen Wiederherstellung des Absolutismus ihren Abschluss fand, in dieser Opposition jedoch regten sich auch Gedanken zur Beschränkung der monarchischen Gewalt, und es gab eine Zeit, wo deren Verwirklichung sogar möglich erschien, aber nachher dauerte wieder dieselbe Ordnung der Dinge fort: die Gesellschaft und das Volk zeichneten sich durch denselben passiven Gehorsam aus, der im Vergleich mit dem siebzehnten Jahrhundert sich vielleicht noch verstärkt hatte. Diese Zeit war hauptsächlich die Zeit der geheimen Kanzlei, „des Wortes und der Tat“. Diese politische Inquisition war noch vom siebzehnten Jahrhundert ererbt. Peter der Große benutzte seinerzeit ein derartig trauriges Werkzeug, weil es ihm zur Befestigung seiner Sache notwendig erschien. Späterhin ist diese Ursache der Existenz der geheimen Kanzlei bedeutend geringfügiger geworden, weil für die weitere Durchführung der Reform keine Gefahren vorauszusehen waren, nichtsdestoweniger entfaltete sie eine vielleicht noch eifrigere Tätigkeit. Zu der alten Tradition gesellten sich jetzt neue Antriebe: einerseits wurde die Routine des deutschen Kanzleidespotismus angenommen, dann zwangen auch die beständigen Umwälzungen, überall Gefahren zu wittern, Komplotte zu ahnen und in jeder für die Handlungen der Regierung ungünstigen Beurteilung Staatsverbrechen zu sehen. So wurde die Gesellschaft völlig stimmlos. Aber wie dies alles auch die Interessen derselben für ihre eigenen Angelegenheiten ertöten mochte, so ist dennoch diese Zeit für das gesellschaftliche Bewusstsein keine ganz verlorene gewesen. Peters Nachfolger dachten sehr wenig an die würdige Fortsetzung der Reform und bis zu Katharina II. waren sie sogar dazu nicht fähig. Nichtsdestoweniger war die Reform bereits so tief ins Leben eingedrungen, dass sogar diese schweren Zeiten ihre Entwicklung nicht hemmen konnten. Peters Namen behielt seine Autorität: Lomonosovs Tätigkeit, sowie die Akademie der Wissenschaften, die Gründung der Moskauer Universität, die ersten Versuche der neuen Literatur bezeugten, dass das Bildungsbedürfnis auch auf die Regierung fortwirkte und in der Gesellschaft erwachte, dass der Schulunterricht die veraltete scholastische Bahn verließ; und die neuen Begriffe erforderten jenes besondere Organ, das die Literatur im europäischen Gewande und im europäischen Sinne darstellte. Dies alles war übrigens beim Regierungsantritte Katharinas noch im Keime. Ihre Regierung, die sich durch ein solches Geräusch und solchen Glanz auszeichnete, stellte vollkommen den Ausdruck des „aufgeklärten Despotismus" vor, der auch in Westeuropa damals Vertreter in den Personen vieler aufgeklärter Herrscher und Minister hatte und durch den kurz vor der französischen Revolution die Monarchie selbst die Reformnotwendigkeit bezeugte, welche die Zeit erheischte; denn diese Form des Despotismus war eigentlich ein Versöhnungsversuch zwischen der mittelalterlichen Monarchie und den Aufklärungsideen des Jahrhunderts. Die Tätigkeit Katharinas in dieser Hinsicht erfüllte also auch ein tief wurzelndes historisches Bedürfnis des russischen Staates und der Gesellschaft; seit den Zeiten Peters war dies fast die erste tätige Bestrebung der Regierung zur Verbreitung europäischer Bildung: indem die Regierung sich die ausschließliche Initiative bei der Vertretung der gesellschaftlichen Interessen aneignete, nahm sie selbstverständlich eben dadurch auf sich selbst die Aufgabe, alles dazu Nötige zu besorgen und die Tätigkeit Katharinas brachte endlich diese Aufgabe in Erinnerung. Seit Peter dem Großen war das Schicksal der russischen Gesellschaftsbildung fast ausschließlich dem Zufall überlassen und der Regierung war es vorbehalten, in dieser Hinsicht noch sehr vieles zu leisten. Die Regierung Katharinas wurde von den Lobreden der Zeitgenossen überflutet, und in der Tat, sie unterschied sich vorteilhaft von der ihr vorangegangenen, wie von der auf sie folgenden, obwohl sie durchaus nicht das erfüllte, was in ihrer Macht lag und durch Inkonsequenz sich auszeichnete, und trotz des ganzen äußeren Glanzes und literarisch-philosophischer Neigungen konnte sie doch nicht auf uneigennützige Fürsorge um die Bildung stolz sein. Anfangs nahm Katharina in eifrigster Weise die aufklärenden Ideen der französischen Philosophie an und wollte sie auch in Anwendung bringen; sie beabsichtigte sogar, die Erziehung des Thronfolgers d'Alembert anzuvertrauen, und also den Einfluss der französischen Ideen auch für die Zukunft hin zu sichern. Später erwählte sie zum Erzieher Alexanders einen Mann von gleichen Ansichten, den Philosophen und Republikaner Laharpe; Montesquieu, Mably und Beccaria lieferten ihr den Hauptinhalt ihrer bekannten Instruktion, des „Nakaz," und ihre damalige philosophische Freiheitsliebe gab ihr sogar die selbst für das damalige Europa ungewöhnliche Errichtung der berühmten Kommission zur Verfassung eines neuen Kodex ein; der freundschaftliche Briefwechsel mit den Berühmtheiten der französischen Literatur und die freigebige Protektion, die sie ihnen angedeihen ließ, gaben ihr noch ein Mittel, durch den Schutz der Wissenschaften, der Philosophie und der freien Meinung berühmt zu werden. Es ist nicht zu leugnen, dass diese Stimmung der Kaiserin auch im russischen gesellschaftlichen Leben wohltuende Wirkungen zur Folge hatte. In der Verwaltung fühlte man mehr Milde als irgend wann unter den letzten Regierungen; wenn auch die Kommission missglückte, so wies sie doch darauf hin, dass für die Gesellschaft die Beratung gesellschaftlicher Angelegenheiten von ernstem Interesse seien; zu gleicher Zeit mit ihrer Eröffnung wurde in der Gesellschaft die Frage der Leibeigenschaft erörtert, auf Grund des Themas der Freien Ökonomischen Gesellschaft. Die Stimmung der Kaiserin und die von ihr geäußerten Ansichten wirkten auf die Literatur ein, die das russische Publikum mit den europäischen Ideen bekannt zu machen, begann und ihre kritischen Versuche und Beobachtungen über das russische Leben anstellte. Die Gebildeteren konnten sich schon damals mit den neuen philosophischen Anschauungen ziemlich vertraut machen und wenn man auch gewöhnlich die damaligen „Voltairianer" der großen Leichtfertigkeit und Haltlosigkeit ihres Skeptizismus beschuldigt , so waren sie dennoch nicht alle leichtfertig und ihr Skeptizismus wies nicht einmal auf die wirklichen Mängel des gesellschaftlichen Lebens und dessen Traditionen hin. In jener Zeit entwickelten sich auch die idealistischen Bestrebungen, die aus zwei Hauptquellen flossen: aus derselben französischen Philosophie, die von der Vervollkommnung der Gesellschaft, von dem Wohle der Menschheit, von den Rechten des Menschen u. s. w. sprach, sowie aus der Freimaurerei. Zwar erscheint diese neue gesellschaftliche Bewegung, welche im russischen Leben entstand, noch sehr begrenzt, zu wenig reell, sogar kindisch, aber ziehen wir die Zeit und die Sitten in Anbetracht, die unter der Mehrzahl herrschten, so sehen wir, dass sie jedenfalls einen großen Erfolg bedeuteten. Der äußere Regierungsglanz, häufigere Beziehungen zur europäischen Welt, die Verbreitung europäischer Sitte und Literatur trugen viel zur Veränderung der Anschauungen bei und in der Gesellschaft bildete sich endlich eine ziemlich breite Schicht so weit Gebildeter, dass die neuen Ideen einen genügend vorbereiteten Boden finden konnten. Den fremden Beobachtern schien es, dass die Russen nach Bildung und Sitten zwei verschiedene Nationen vorstellten. Darunter ist zu verstehen, dass die eine die alten Gebräuche und die alte Starrheit bewahrte, die andere aber die neuen Sitten und Gebräuche, sowie die Bildung im europäischen Geiste repräsentierte. Diese neue Gesellschaft vergrößerte sich bedeutend unter Katharina, teils unter dem Einfluss ihrer aufklärenden Pläne, teils aber schon unabhängig von denselben oder sogar gegen ihre Absichten, durch die eigene Kraft der bereits begonnenen Entwicklung. Man begann nämlich in der Gesellschaft gewisse Anschauungen zu äußern, die bereits den Wünschen Katharinas nicht mehr entsprachen: diese Anschauungen verschwanden nicht, trotz der von ihr ausgesprochenen Unzufriedenheit und riefen zuletzt Verfolgungen ihrerseits hervor, als sie am Schluss ihres Lebens, durch die französische Revolution abgeschreckt, gegen dieselben Regeln und Ideen zu Felde zog, die sie früher so begünstigte. Der aufgeklärte Despotismus Katharinas war leider nicht so weitgehend und aufrichtig gemeint, wie es z. B. bei Josef II. der Fall war, und bereits von Anfang an geriet sie in Widersprüche mit sich selbst und verwarf ihre philosophischen Ideen, sobald sich deren Einfluss in der Gesellschaft in irgendwelchen unbedeutenden Äußerungen der Selbständigkeit offenbarte. Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass etwas Ähnliches mit der bereits erwähnten Kommission vorkam, aber unzweifelhaft war es mit ihren Beziehungen zur Literatur der Fall, die nur solange geduldet wurde, als sie sich in Grenzen hielt oder in Bezug auf die Freimaurerlogen, die noch vor dem Fall mit Novikov Katharina dadurch unangenehm waren, dass sie sich den Anspruch auf eine gesellschaftliche Rolle und auf Geheimhaltung anmaßten, also auf eine gewisse Unabhängigkeit, obwohl Katharina sehr wohl die Harmlosigkeit und Inhaltlosigkeit dieses Geheimnisses kannte. In ihrer literarischen Polemik traten immer nicht nur die Meinungen der Schriftstellerin hervor, sondern auch die gebietende Autorität der Kaiserin, so dass jede Debatte unmöglich wurde. Am Schluss ihrer Regierung ging die Intoleranz in Verfolgung über, die sich sehr wenig mit dem Geiste der philosophischen Freiheit reimte, für die ehemals die Kaiserin so viel Neigung bewies. Radiscevs und Novikovs „Freundschaftliche Gesellschaft" stellte gewiss keine politische Gefahr vor, mit der man die Grausamkeit von deren Verurteilung erklären könnte. Der eine war ein Idealist, erzogen in abstrakten Anschauungen über die Rechte der Menschheit, und in seiner Kühnheit setzt seine Herzenseinfalt in Erstaunen, mit der er es für möglich hielt, damals seine Ansichten in russischer Sprache zu äußern. Alle Gedanken der „Freundschaftlichen Gesellschaft" vereinigten sich in der pietistischen Philanthropie und im naiven Suchen nach alchimistischen Geheimnissen. Indessen waren dies die beiden schroffsten Äußerungen der gesellschaftlichen Bestrebungen unter Katharina. Deren Grundinhalt — einige abstrakte Sätze der damaligen politischen und Moralphilosophie und das klare Verständnis einiger Übel und Mängel in der gesellschaftlichen Ordnung, wie Leibeigenschaft, die im Gerichts- und Verwaltungswesen herrschende Bestechlichkeit, Ignoranz u. dgl. — bestimmt auch den ganzen Vorrat an gesellschaftlichen Anschauungen, die am Ende des achtzehnten Jahrhunderts erworben waren. Zweifelsohne gab die Gesellschaft Zeichen von Selbständigkeit, von kritischem Verhalten dem Leben gegenüber, aber diese Kritik schreibt meistenteils jene gesellschaftlichen Übelstände moralischen Mängeln zu und glaubt diesen abhelfen zu können durch Moralpredigten zur Besserung der Laster. Es scheint, dass nur in der Frage der Leibeigenschaft die Notwendigkeit der Abänderung dieser Institution anerkannt war; in andern Füllen aber ging der gesellschaftliche Gedanke nicht über das Niveau dieser Fragen hinaus und mit wenigen Ausnahmen blieb ihm ihre politische Seite völlig fremd.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Zeit des Kaisers Alexander bereits schroff von der Katharinas. Anfangs schwach, beginnt sich in der Gesellschaft das Interesse für ihre inneren Angelegenheiten immer deutlicher zu zeigen; der gesellschaftliche Gedanke dringt immer bewusster in dieselben, bestrebt sich, die Ursachen der Übel ausfindig zu machen, die man schon lange fühlte, aber denen gegenüber selbst die absolute Regierungsgewalt machtlos war und ist endlich auf der Suche nach Mitteln, die imstande wären, dieser traurigen Sachlage ein Ende zu machen. In diesen Bestrebungen gelangt er zum ersten Mal zu einer etwas klareren Auffassung der inneren politischen Fragen.

Wenn wir den Anfang dieser neuen Richtung suchen, so müssen wir vor allem wahrnehmen, dass dies keineswegs eine zufällige politische Aufwallung oder eine Mode war, sondern umgekehrt eine Erscheinung, die, naturgemäß in einer Gesellschaft entstanden, ihre eigenen inneren und äußeren Ursachen dazu hatte und ihre Eindrücke in der spätem Geschichte der Gesellschaft hinterließ. Hauptsächlich war sie die Folge der allgemeinen Bildungszunahme, welche endlich zu solchen Fragen führte und in einzelnen Personen dies Bewusstsein gesellschaftlicher Verhältnisse besonders regsam und tätig werden ließ. Andrerseits stammt diese Richtung aus der europäischen Bewegung zu Ende des vorigen und Anfang unseres Jahrhunderts. Jene geistige und soziale Umwälzung, welche von Frankreich aus über ganz Europa sich verbreitete, berührte mit ihren letzten Einwirkungen auch Russland: in dem gebildeten Teile der Gesellschaft spiegelte sich diese Umwälzung, die durch die unmittelbare Berührung mit dem europäischen Westen, freundlicher wie feindlicher Art, sich vergrößerte, in einer bedeutenden geistigen Bewegung. In der russischen Gesellschaft entstand eine neue Frage, die für sie die ersten Zeichen der Reife bedeutete: dies war die Frage über ihre Ordnung, deren Ursachen und Wirkungen, sowie Mittel zu ihrer Verbesserung und Vervollkommnung. Zum ersten Mal verloren die alten Traditionen für den bedeutenden Kreis der Gebildeten ihre frühere Berechtigung. Sie wurden manchmal nicht nur von den Besten der Gesellschaft, sondern auch selbst vom Kaiser verworfen, so dass ihre Haltlosigkeit zur halbanerkannten Wahrheit wurde; es ist leicht verständlich, wie aufregend eine derartige Sachlage auf die Geister wirken musste. Es entstand die Notwendigkeit, für die Gesellschaftsordnung neue Prinzipien und neue Garantien in Betreff des allgemeinen Wohles aufzufinden.

Diese ersten Bestrebungen des gesellschaftlichen Gedankens stellen das charakteristische Merkmal der Alexander-Periode unserer Entwicklung vor. In dieser Zeit wandte er sich zum ersten mal mit einer gewissen Kraft den Gegenständen der inneren Politik zu. Auf diesem Wege wandelt auch bis auf den heutigen Tag unsere Gesellschaft: ihre Denkweise wurde breiter und klarer, deren Spielraum größer; eingehender als jemals wurde die Frage über das Volk und das Volksleben angeregt; der Gesellschaftskreis, der sich für die inneren politischen Fragen interessiert, ist bedeutend größer geworden, aber die Gegenstände selbst, bei denen sich der gesellschaftliche Gedanke aufhält, sind seit damals, wo man unter Alexander zum ersten mal auf sie hinwies, noch nicht erschöpft. Viele Reformen der Regierung Alexanders II., wie z. B. die drei grundlegendsten, die Befreiung der Bauern, die Reform des Gerichtswesens und eine gewisse Verbesserung der Lage der Presse, waren schon damals Gegenstände der Erörterung und heißer Wünsche. Die anderen bedeutend weitgehenderen Reformen, von denen die Besten der damaligen Gesellschaft träumten, sind bis jetzt noch offene Fragen. Die Regierung Alexanders I. hatte einen tragischen Ausgang, der den zurückgelegten Entwicklungsweg scharf markierte. Und in der Tat, die geheimen politischen Gesellschaften und die Sache der Dekabristen waren ein natürliches Resultat der Gärung der Ideen zur Zeit Alexanders I. Mit dieser Katastrophe trat die frühere Generation, die Trägerin dieser Ideen, vom Schauplatz ab und mit der neuen Regierung begann eine neue Wendung in der Geschichte der Gesellschaft.

Indem wir auf diese Entwicklung der politischen Ideen als auf das charakterisierende Merkmal der gesellschaftlichen Entwicklung unter der Regierung Alexanders hinweisen, überschätzen wir weder deren Tiefe, noch den Umfang ihres Einflusses auf die Gesellschaft. Eins wie das andere war nicht groß; die politische Unreife der Gesellschaft war derart, dass im Anfange diese neue Richtung am allerstärksten durch den Kaiser selbst und seine nächsten Mitarbeiter zum Ausdruck kam; die Regierung selbst hegte kühnere Pläne als irgendwer unter den Fortgeschrittenen der damaligen Gesellschaft und auch in der Folge war der Kreis derjenigen, in deren Mitte diese Bewegung vor sich ging, nicht sehr groß. Aber sie blieb doch in der Geschichte unserer Gesellschaft ein wichtiges historisches Moment. Gewisse Ideen drangen in die letztere ein und sie eignete sich dieselben an. Seitdem werden sie immer klarer, umfassen einen größeren Kreis und die Einheitlichkeit der Beweggründe, die den gesellschaftlichen Gedanken seit den Zeiten Alexanders leiten, zeigt, dass es sich schon in jener Zeit um wirkliche Bedürfnisse der Gesellschaft handelte, die naturgemäß aus deren Geschichte entsprangen. Wenn wir zu jenen Zeiten zurückkehren und uns der damaligen Interessen, der Meinungskämpfe, des beginnenden Zusammenstoßes von zwei Lebensordnungen, der alten und der neuen erinnern, werden wir eine neue Bestätigung der Berechtigung jenes zeitgenössischen Strebens nach einer gesellschaftlichen Reform finden, die noch bis jetzt der Mehrheit unverständlich bleibt und gegen die die retrograden Agitatoren mit solcher Freigebigkeit ihre Verleumdungen richten.

Die Unvollkommenheit des vorhandenen Materials macht eine systematische Geschichte des von mir gewählten Gegenstandes noch unmöglich; ich will mich nur auf einige allgemeine Skizzen und manche Hinweise auf die interessanten Erscheinungen dieser Geschichte beschränken, die bis jetzt in unserer Literatur wenig Platz fanden.
An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 1821-1881

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 1821-1881

Personentransport im Winter

Personentransport im Winter

Auf dem Weg zur Hinrichtung

Auf dem Weg zur Hinrichtung

Drohsky-Fahrer bei der Teepause

Drohsky-Fahrer bei der Teepause

Brennholztransport auf dem Ladoga-See. Im Hintergrund die Festung Schlüsselburg.

Brennholztransport auf dem Ladoga-See. Im Hintergrund die Festung Schlüsselburg.

Eine Troika

Eine Troika

Russicher Bauer in Wintertracht

Russicher Bauer in Wintertracht

Russisches Bauernmädchen

Russisches Bauernmädchen

Eine Großrussin

Eine Großrussin

Russischer Dorfmusikant

Russischer Dorfmusikant

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Kreml zu Moskau

Kreml zu Moskau

Volksleben in Petersburg

Volksleben in Petersburg

Der Kaiserliche Winterpalst

Der Kaiserliche Winterpalst

Die Börse

Die Börse

Pferdeschlitten

Pferdeschlitten

Verfolgung von Kosaken

Verfolgung von Kosaken

Die slavischen Gesandten vor Rurik, dem Gründer des Russischen Reiches

Die slavischen Gesandten vor Rurik, dem Gründer des Russischen Reiches

Russisches Sittenbild

Russisches Sittenbild

Im Park von Peterhof

Im Park von Peterhof

Kronstadt

Kronstadt

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