Vorwort

In der letzten Zeit wurde dem westeuropäischen Lesepublikum eine neue unerschöpfliche Quelle von reinem poetischem Genüsse erschlossen: auf der Bühne der Weltliteratur erschien in vollem Jugendglanze die russische Belletristik, und ohne buhlende Wettkämpfe wurde ihr ein Ehrenplatz unter den ewig frischen und ewig jung bleibenden Erzeugnissen des menschlichen Genies angewiesen. Franzosen wie Engländer, Deutsche und Italiener wurden von einer neuen Welt von Gefühlen und Bildern hingerissen, und aus dem Munde der auserkorensten Kritiker und der begabtesten Dichter erschallte ein einstimmiger Lobeshymnus auf diejenigen, die unter moralischen Schmerzen und Qualen solche erhabenen poetischen Gestalten geschaffen haben.

Wie viel dieser so begeisterten Kritik Ewigbleibendes anhaftet, das werden die künftigen Zeiten bestimmen lassen, wo sich der weitere Entwicklungsgang der europäischen Literaturen klären wird, — jedenfalls ist es schon an sich höchst bedeutend, dass gerade das Zarenreich in solch bahnbrechender Weise vor das literarische Forum Westeuropas getreten ist.


Nun aber bemächtigte sich der Büchermarkt dieser neuen Neigungen des literarischen Geschmackes, und es begann eine Periode der Übersetzungswut, in der wir uns noch jetzt befinden. Wie soll aber das Lesepublikum die Spreu vom Weizen unterscheiden können, wo ihm so wenig orientierende Hilfsmittel in dieser Hinsicht geistigen Beistand leisten. Zwar sind auch diesbezüglich höchst schätzbare Versuche gemacht worden, und die Leistungen von Rambaud, Leger, Ralston, Wollner, Vogüé, Brandes, Reinholdt u. a. sind keineswegs zu unterschätzen, aber wie wenig sind sie noch imstande, die Tausende von Fragen zu lösen, welche sich bei dem Studium der russischen literarischen Erzeugnisse erheben.

Gustave Flaubert, dieser „feinfühlende Repräsentant der höchsten poetischen Gewissenhaftigkeit", fand, dass Leo Tolstoj Russlands Shakespeare sei, und erinnern denn nicht die wie aus Erz gegossenen Gestalten von Dostoevskijs, Turgenevs, Tolstojs Helden an die des genialen Briten? Und ist denn ihnen allen nicht ein und derselbe tiefgrübelnde, pessimistische und doch menschheitsliebende Versöhnungsgeist eigen, der wie eine lichtstrahlende und hoffnungserweckende Atmosphäre das durch sie genial künstlerisch wiederbelebte Bild der Menschenseele umgibt, die in sozialen Fesseln schmachtet?

Wie viel ist z. B. in Deutschland geschaffen worden, um die Bedeutung des genialen englischen Dichters zu ermessen, und haben sich denn die Deutschen durch diese Leistungen nicht das Recht erworben, Shakespeare als ein eng geschmiedetes Glied in der deutschen Literaturgeschichte zu betrachten? Und wie wenig wurde bis jetzt Derartiges in Bezug auf die russische Dichtung geleistet, die im Geiste des großen Briten gedichtet, uns neue Empfindungsformen und neue Probleme nahelegt, die uns wahrlich nicht weniger angehen.

Zweifelsohne ist es die geniale Verschmelzung der größten die gegenwärtige Menschheit peinigenden sozialethischen Fragen mit der höchsten Kunstform, was der russischen Dichtkunst solch einen Sieg verschaffte. Fragen wir uns aber, wie dies geschehen konnte, so ist es nötig, dass wir den Entwicklungsgang des russischen Geistes in seinen Hauptmomenten begreifen und einen tiefen Einblick in die kulturgeschichtliche Entwicklung der Beziehungen des russischen Staats zum Individuum gewinnen.

Aus dem stetigen Kontakt eines von urwüchsiger Poesie belebten Volksgeistes mit dem Genie der benachbarten Westeuropäer entsprungen, bahnte sich die russische Poesie eigene Wege und blieb trotzdem Blut vom Blute der westeuropäischen Zivilisation. Dennoch war der Verlauf der ganzen russischen Geschichte im wesentlichen ganz eigenartig, und diese Geschichte war es, welche jene Gestalten erzeugte, die den Leser so ergreifen.

Erst unserem Jahrhundert gelang es, in das Wesen der Volksseele mittelst des vollen wissenschaftlichen Apparates einzudringen und der Erforschung der literarischen Erzeugnisse neue Wege zu erschließen: die vergleichende Völkerpsychologie und Ethnographie lieferten die wichtigsten Bausteine dazu. Diesen Weg schlug auch die russische Forschung ein, und auf diesem Gebiete wurde so viel geleistet, dass sie nach Deutschland den hervorragendsten Platz einnimmt. Auch die neueste Erforschung des geschichtlichen Lebens, im Geiste der deutschen historischen Schule entstanden, machte gewaltige Fortschritte. Aber die eigentümlichen und drückenden Verhältnisse, die in Russland wie ein Alp auf der Literatur lasten, gestatteten nicht, große Gebiete und höchst wichtige geschichtliche Momente zu berühren. Und so musste die Forschung Rettungspfade ausfindig machen: es wurde eine konventionelle „Verstecksprache", die man zwischen den Zeilen lesen muss, erfunden, und zahlreiche historische Zeitschriften schossen wie Pilze aus dem Boden, um wenigstens dem wissensbegierigen Lesepublikum das rohe Material zugänglich zu machen, welches, an sich vielbedeutend, dem Leser: „sapienti sat!“*) zuzurufen scheint.

*) lat. „klug genug!“

Und werfen wir einen flüchtigen Blick auf die Hauptmomente der ganzen Geschichte Russlands, so wird es uns klar, warum die Regierungsgewalt der freien, wissenschaftlichen Forschung Hemmschuhe anlegen muss, da Russland bis auf den heutigen Tag im Geiste derselben Zentralisations- und Eroberungstendenzen wandelt, die für dasselbe eine conditio sine qua non*) seit Jahrhunderten nach der Befreiung vom Tatarenjoch bilden.

*) lat. keine Bedingung

Auf den Trümmern der autonomen Volksrechte entstanden, absorbierte der moskovitische Staat die Elemente, die allmählich zu einer Geistesaristokratie hätten heranwachsen können, und zwängte sie in den Rahmen eines moralisch geknickten Dienstadels ein. Die freien Nordrepubliken, die Ständeversammlungen und der Bojarenrat mussten durch den alles zermalmenden Entwicklungsprozess der autokraten Despotengewalt von der politischen Oberfläche weichen. Das strenge Urteil der Geschichte findet es freilich für gerecht, da sie keine lebens- und widerstandsfähigen Elemente waren. Das Individuum musste sich vor dem Staatsprinzip beugen, die Volksfreiheiten mussten von der Zarenhand erstickt werden. Aber im Volke schlummerten autonome Gefühle, die traditionellen Instinkte hielten der geschichtlichen Evolution gegenüber festen Stand , daher die fortwährenden Zentrifugalbewegungen, die im Sektenwesen und im räuberischen Kosakentum zum Ausbruch kamen; als politische Momente aber mussten sie der Vernichtung anheimfallen, da sie, vergebens, den Gang der geschichtlichen Entwicklung aufhalten wollten. Die erbittertsten Kämpfe wurden in Blut erstickt, mit Feuer und Schwert ausgerottet . . . .

Jahrhunderte vergingen in dem Konsolidierungsprozess des moskovitischen Staates und seiner Regierungsgewalt. In seinen Eroberungen rückte er immer mehr gen Westen, und im Kontakte mit seinen überlegenen Nachbarn musste er der Selbsterhaltung halber zu ihnen in die Schule gehen. Es begannen aus dem Westen Repräsentanten der verschiedensten Gewerbe und Künste nach Russland zu ziehen. Im Laufe der Zeit wird dieser Zug, von Peter dem Großen besonders begünstigt, immer größer. Aber schon lange vor dem Erscheinen dieses despotischen Reformators fand die westliche Kultur auf Russlands archaischem Boden überzeugte Anhänger. Um so größer wurde deren Zahl unter und nach Peter, und die größten Wirren und Schwankungen im Leben des Volkes und am Hofe konnten diesem Drang nach europäischer Bildung nicht Einhalt tun, geschweige denn das Volk in die alten Bahnen zurückdrängen.

Die neuen Zustände brachten neue Gefühle und neue Ideale mit sich. Auf dem Boden der Leibeigenschaft, welche den Wanderungstrieb des russischen Volkes lahmlegen musste, und es zum größten Teile auch zu tun vermochte, — einem Boden, der eine demoralisierende Sklavenatmosphäre um die herrschenden Klassen erzeugte, beginnen neue Charaktere sich zu entwickeln, sich aus der traditionellen Welt der rohesten Ansichten in eine neue von humanen Anschauungen zu retten. Es beginnt dies nach der epochemachenden Zeit der zweiten Katharina, einer Zeit, wo man auf dem sklavischen Boden des heiligen Russlands von Natur- und Menschenrecht laut zu sprechen anfing. Die Kaiserin selbst, von Geburt zwar dem Lande fremd, verstand es, mit den neuen Tendenzen bis zu einem gewissen Grade zu kokettieren, aber, Russlands despotischen Traditionen treu, nahm sie es unbarmherzig denjenigen übel, die vom Geiste der Zeit hingerissen, es mit der Humanität etwas zu ernst meinten, — es entstehen Konflikte, es entstehen auch neue Typen, die so innig mit denen des 19. Jahrhunderts verwandt sind.

Auch die früheren Zeiten haben Tausende von Unglückseligen hervorgebracht, die sich mit dem alles umstrickenden Entwicklungsgang des russischen Staates nicht versöhnen konnten. An den alten Idealen hängend, gerieten sie mit den neuen Regierungsformen in Konflikt. Jetzt aber geschah etwas ganz anderes: der westeuropäische Geist, nach Russland verpflanzt, erhellte das dort herrschende Dunkel, und den aufgeklärtesten Geistern wurde hiermit jede Ruhe geraubt, da die greisen Volksmassen und der weitaus größere Teil der „Gesellschaft" in ihrer Verwilderung zu träge waren, als dass man im Kampfe mit den alten Institutionen auf sie hätte rechnen können. Die Regierung schwankte zwischen liberal-humanen Wünschen und reaktionär-despotischen Maßregeln, und was sie mit einer Hand aufbaute, das riss sie mit der anderen nieder; in ihrem eigenen Busen jedoch trug sie eine scheinbar unheilbare Krankheit: das nur auf Eigennutz erpichte Beamtentum, welches durch den abgeschmacktesten Kanzleiformalismus jeden lebendigen Reformgedanken zu ertöten wusste. Auch fürchtete die Regierung, irgendwie ihre unumschränkte Macht einzubüßen und erstickte unerbittlich und rücksichtslos jede freie Regung, sogar da, wo sie selbst diese ins Leben gerufen hatte.

Aber nachdem der edlere Teil der Gesellschaft vom Baume der Erkenntnis gekostet, konnte er sich nicht mehr passiv verhalten. Seine Repräsentanten fühlten zu gut, wie viel Mühe es kosten müsse, den in den alten rohen Anschauungen verknöcherten Russen für idealere Lebensziele zu erziehen.

Freimaurerlogen, literarische Gesellschaften, philosophische Cercles, Lehr- und Bildungsanstalten, endlich geheime Bunde, dies alles, oft mit Lebensgefahr verbunden, hatte nichts anderes zum Ziel, als den Halbasiaten zum Europäer zu machen.

Doch auch von oben herab wurde nicht wenig geleistet, um wenigstens in äußerer Hinsicht der Staatsmaschinerie eine europäische Gestalt zugeben. Universitäten und gelehrte Gesellschaften wurden gegründet, Berühmtheiten der Wissenschaft, vor allem Deutsche, in großer Anzahl berufen, und sie erfüllten würdig die ihnen gestellten Aufgaben, sie schufen eine nationale Wissenschaft mit ihrem schönsten Merkmal, dem ihr innewohnenden westeuropäischen Kulturgeist *).

Aber auch die stürmischen Wogen des westeuropäischen sozial-politischen und philosophisch-literarischen Lebens brandeten und schäumten an der östlichen Grenze: die Revolutionen und Reaktionen in Politik und Poesie erweckten in Russland die Geister und fanden stets einen mächtigen Wiederhall in den Herzen der zum geistigen Leben Erwachten. Und auch die Staatshäupter und deren einflussreiche Umgebung, mit dem mächtigen Staatskörper auf das innigste verwachsen, vermochten nicht immer dem Anprall neuer liberaler freiheitsdürstender Ideen Widerstand zu leisten, — auch hatte der „aufgeklärte Despotismus" etwas Schmeichelndes und Bezauberndes an sich. Katharina II. und Alexander I. sind in dieser Hinsicht typische Erscheinungen; in ihnen verkörpert sich der charakteristische Zug des russischer Lebens: das maßlose Streben nach superidealer Freiheit, der innere reaktionäre Drang, auf halbem Wege Halt, oder sogar einen unerwarteten Sprung zurück zu machen, und die peinlichste Empfindung dieser Halbheit. An diesem Zwiespalt ging z. B. Alexander I. zu Grunde, indem er vom Apostel der Völkerbefreiung zum gehorsamen Werkzeug eines der rohesten Despoten — Arakceev — herabsank.

*) Vgl. B. Minzes, Die geschichtlichen Studien in Russland. Eine Skizze. „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft." 1892, Bd. Vin, 1, S. 161 u. ff.

Und wie schwankend waren die Regierungssysteme! Im „heiligen Russland" selbst, zu dessen ritterlichem Schutz das reaktionäre Legitimitätsprinzip Europas Zuflucht zu nehmen und es als Paladin der Fürstenprärogative zu proklamieren pflegte, wurden von den gesalbten Souveränen diese „göttlichen Rechte" mit Füßen getreten: Wie oft sind am Zarenhofe die heiligsten Familienbande aufs gewaltsamste zerrissen worden! Schon die haarsträubende Tat Ivans des Schrecklichen, der seinen einzigen geliebten Sohn eigenhändig tötete, lässt uns das Leben am Zarenhofe im düstersten Lichte erscheinen. Und nun erst beginnt mit Peter dem Großen ein tragischer Konflikt den anderen in einer fast ununterbrochenen Reihenfolge abzulösen. Der Gründer des modernen Russlands, Peter der Große, lässt seine Gattin knuten, stürzt sich in die Umarmungen einer ausgelassenen, ungebildeten Frau vom niedersten Stande, der er die Kaiserkrone aufsetzt und lässt seinen Sohn und Erben zu Tode martern. Und die Palastrevolutionen, die Tausende von Existenzen ins Unglück stürzten und das ganze Regierungsgebäude so oft ins Schwanken brachten! „Die Leuchte des Nordens", Katharina, inaugurierte ihre erlösende Reformtätigkeit mit dem Morde ihres regierenden Gatten und mit dem scheußlichen Hinwegräumen eines harmlosen, im Kerker schmachtenden Thronkandidaten (Ivan VI.). Die Morgenröte der Regierung ihres Enkels, des edlen Alexanders, wurde durch das Jammergeschrei und die Hilferufe seines nicht ohne sein Vorwissen gewaltsam umgebrachten Vaters verkündet. Und diese Erinnerung verfolgte ihn wie ein Gespenst bis an sein Ende, welches er in düsterer mystischer Verzweiflung als eine Erlösung betrachten musste. Geknickt und zerrüttet suchte sein stolzer, unbändiger Nachfolger, Nikolaus, den Tod, als er sah, dass seine ganze Regierungstätigkeit sein Volk gewaltsam in den Abgrund stürzte, und dass er, der Bändiger von rebellischen Nationen, ein Sklave seiner Diener war und seinen Lieblingswunsch, die Bauernbefreiung, aus Furcht nicht zu erfüllen vermochte. Das zivilisierte Europa hat diesen stolzen Despoten gebändigt, und auf dem Sterbebett trug er seinem Sohn, dem edeldenkenden Alexander, auf, das Wort der Erlösung von Millionen von Sklaven zu proklamieren; aber mit demselben Federstrich, mit dem dieser Russland ein neues Leben gab, hat er sein eigenes Todesurteil bestätigt: die auf halbem Wege stehengebliebenen Reformen schürten nur den Geist der Enttäuschung und Verzweiflung; es begann ein unmenschlicher Kampf, und der Befreier starb einen Märtyrertod. Der schauderhaft verstümmelte Körper seines Vaters, eine Reihe von Galgen, wo auch der Leichnam der jungen Tochter eines der höchsten Würdenträger hing, — dies waren die ersten Regierungseindrücke des jetzigen Beherrschers Russlands. Und welche Zukunft wird die »düstere Gegenwart bringen! . . . .

Und werfen wir einen kurzen Blick auf das geschichtliche Leben der Nation, so sehen wir, wie Tausende im Volke mutig dem Tode ins Auge schauten, sich lebendig verbrannten, um der Despotengewalt für Millionen ein jämmerliches Recht auf schismatische Glaubensformeln abzutrotzen. Und wo die ersten bewussten Humanitätsgefühle unter Katharina II. sich zu regen begannen, da haben wir auch die ersten Märtyrer aus Nächstenliebe zu verzeichnen, die, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vereinzelt, im neunzehnten zu Hunderten ein schreckliches Ende von Henkershand, in den grauenvollen Kasematten und in den öden Gegenden Sibiriens fanden. Und wer sich im Stillen nach Freiheit sehnte, dem wurde im Stillen das Herz gebrochen. Auch in diesem Falle könnten wir ein endloses Martyrologium anführen; wir begnügen uns aber mit einigen Beispielen aus dem Stegreife.

Die ersten „Aufklärer" unter Katharina II., Novikov und Radišcev, die in den liberalen Fußstapfen der aufgeklärten Despotin wandelten, mussten in schrecklichster Weise für ihre „Humanität" büßen, um den folgenden Generationen zum abschreckenden und warnenden Exempel zu dienen. Aber der Geist der Freiheit und Menschenliebe konnte nicht mehr ausgerottet werden. Je reaktionärer sich das Regierungssystem des Begründers der heiligen Alliance gestaltete, um so stärker begann sich in Russland der Aufklärungsgeist zu regen, was in dem unbesonnenen Dezembristen-Putsch zum Ausbruch kam, durch dessen rücksichtslose Niederdrückung Nikolaus den Liberalismus für immer unschädlich gemacht zu haben glaubte. Die Epoche der geistigen Knechtung, der sinn- und schrankenlosen Zensur begann, aber der nicht mehr ruhende schöpferische Geist wusste sich neue Wege zu bahnen. Die Epoche der Lyrik hörte allmählich auf, der Roman nahm die herrschende Stellung ein, und die unterdrückten Seufzer wurden zu ergreifenden Gestalten und zum größten Protest gegen das verfinsternde Despotensystem und die entnervende Menschenknechtung. Aber unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen, im tiefsten Sehnen nach Befreiung und im drückendsten Bewusstsein der eigenen Machtlosigkeit mussten die Edelsten der Nation aufgerieben werden. Ein Puškin und ein Lermontov fielen in der Jugendblüte, einer 38, der andere 27 Jahre alt, als Opfer der unnatürlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Russlands Beaumarchais, Gribocdov, von den trübsten Selbstmordgedanken gepeinigt, suchte in Persien Ruhe und fand daselbst, 35 Jahre alt, sein jähes Ende. Der russische Burns, Koljcov (1804—1842), vergeudete sein Leben und starb in den elendsten Verhältnissen. Der junge Poležaev (1810—1838), zum Soldatendienst im Kaukasus verurteilt, ergab sich der Trunksucht und fand seinen Tod im Militärspital.

Und wie ergreifend ist das Leben des größten kleinrussischen Nationaldichters Sevcenko (1814—1861), dieses genialen Leibeigenen, dessen klagende Leier, die Leiden von Millionen Geknechteter besingend, Herren wie Sklaven heiße Tränen zu entlocken vermochte! Zuerst Sklave seines Besitzers und dann Sklave des despotischen Regierungssystems, musste er zehn der besten Lebensjahre in strenger Verbannung in den Straf-Bataillon wo ihm das Recht auf Lesen und Malen geraubt wurde, elendiglich schmachten und endlich aufgerieben werden.

Die tonangebendsten Kritiker wurden durch gleiche Verhältnisse zu Tode gemartert. Russlands Lessing, Belinskij (1810—1848), dessen Andenken für einen Turgenev bis an sein Lebensende heilig blieb, schien seinen Freunden „rechtzeitig" das Zeitliche gesegnet zu haben, denn es stand ihm eine Katastrophe bevor, und von Verzweiflungsgefühlen gepeinigt, schied der 38jährige Kämpfer aus dem Leben. In voller Mannesblüte wurde Cernyševskij aus seiner wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit gerissen und in eine der entlegensten Gegenden Sibiriens verbannt. Ein Dobroljubov (1830—1861) sang sein Schwanenlied im 25. Lebensjahre, und ein bis jetzt noch nicht völlig aufgeklärter Tod raffte den Bazarov der russischen Kritik, Pisarev (1841—1868), hinweg, nachdem er in vollem Maße die Gefühle des Verfolgungswahnes und der russischen Kerkerhaft gekostet. Und endlich die Romanschriftsteller! Der Begründer der neuesten Belletristik und der russischen realistischen Schule, Gogolj (1809 — 1852), beschloss sein vielversprechendes Leben, nach dem er seine letzten Werke dem Raube der Flammen preisgegeben, im trübsten Mystizismus, ja Wahnsinn. Die Weltanschauung eines Dostoevskij, seine herzerschütternden Werke reiften bei Zwangsarbeit im Zuchthause, wo er, wie er selbst sagt, jahrelang lebendig begraben war. Wie problematisch erscheint die Entwicklung der sich selbst verleugnenden Weltanschauung eines Tolstoj, und wie „natürlich" ist sie als ein Teil des zerrütteten russischen Lebens; und leid voll und betrübt ist die erhabene Muse Turgenevs, der fast sein Leben lang fern vom heißgeliebten Vaterlande weilen musste. Und die junge Generation? Die vielen jungen, in Mannesblüte zu Grunde gerichteten Schriftsteller!

Man muss sich dies alles klar vor Augen halten und den Entwicklungsgang des russischen gesellschaftlichen Lebens kennen lernen, um die Werke verstehen zu können, die ihm entsprossen. Es enthält eine Fülle von Problemen, geschichtlicher und psychologischer Natur; es ist ein stetes Ringen mit den historischen Überlieferungen um ein menschenwürdigeres Dasein.

Selbstverständlich muss man die einzelnen Tatsachen der Geschichte und die verwickeltsten Fragen poetisch beleben, wenn man den Geist der russischen Literatur in seiner Entwicklung begreifen will. Erst seit einiger Zeit ist es in Russland überhaupt möglich geworden, diese Fragen zu berühren. Aus den öffentlichen und Privatarchiven begannen Hunderte von Memoiren und Briefen das Tageslicht zu erblicken. Und ein unendlich großes Verdienst gebührt auch dem Verfasser des von uns übersetzten Werkes, der es sich zur Lebensaufgabe stellte, diese Materialien u. a. zu sichten und zu verarbeiten, und dies mit einer bewunderungswürdigen streng sachlichen Ruhe tut, wie es Belinskij und Cernysevskij nicht zu tun vermochten.

Im März 1833, an der historisch berühmten Wolga in Saratov geboren, hatte Pypin das Glück, in seinem um vier Jahre älteren Vetter, dem bereits erwähnten Cernysevskij, einen Erzieher und Freund zu linden. Der letztere, von der Natur mit den größten Gaben ausgestattet, in vielen lebenden und toten Sprachen schon auf der Schulbank bewandert, für alles Schöne auf das höchste empfänglich und seinem Wesen nach sehr bescheiden, gab sich von ganzem Herzen der Liebe zu dem jüngeren Vetter hin, da er in dieser erzieherischen Tätigkeit einen Ersatz für die ihm fehlende Freundschaft mit seinesgleichen zu finden verstand.

An den Universitäten zu Kazanj (1849 — 1850) und zu Petersburg (1850 — 1853) machte Pypin seine akademischen Studien, und dem Einfluss des berühmten Slavisten Grigurovie an der ersteren und des nicht minder verdienstvollen Sreznevskij an der letzteren hat er seine ersten streng wissenschaftlichen Kenntnisse in nicht geringem Maße zu verdanken. Seine ersten Studenteneindrücke waren nichts weniger als freudig. Es war die stürmische Zeit in Europa, und Russlands Universitätsjugend hatte dafür zu büßen. Die Zahl der Studierenden wurde an jeder Universität auf 300 beschränkt, die Lehrstühle der Philosophie geschlossen, und im Anfange der fünfziger Jahre wurde sogar der Unterricht der altgriechischen Sprache an den Gymnasien als etwas „Gemeingefährliches" untersagt. Aber Pypin ging mutig seine wissenschaftlichen Wege, und vier Jahre nach Absolvierung der Hochschule bereicherte er die russische Literatur mit einem grundlegenden Werke, seiner Magisterdissertation „Über die Literaturgeschichte der alten russischen Novellen und Märchen". Leider wurde das Werk nicht übersetzt, sonst hätte es dem Verfasser schon damals einen Namen in der westeuropäischen Gelehrtenwelt verschafft. Der auch in Westeuropa sehr bekannte Literaturhistoriker A. N. Veselovskij anerkennt selbst den großen Einfluss von Pypins Werk auf seine literarische Tätigkeit, denn dasselbe ist, wie auch das von Dunlop, ein Vorläufer der Benfeyschen Theorie. Nachdem Pypin, von der Petersburger Universität gesendet, sich während der Jahre 1858 — 1859 im Auslande für den Lehrstuhl der europäischen Literaturen ausgebildet hatte, bekleidete er diese Professur in den Jahren 1860—1861, bis ein jähes Ende seine so glänzend inaugurierte Lehrtätigkeit abbrach. Und wie viele Gelehrte durch den Druck des Despotismus ihre Lehrstühle verlassen mussten, ein Kostomarov, Kavelin, Sieber, Kovalevskij, Dragomanov, Mecnikov und wie sie alle heißen — so war es auch mit Pypin der Fall. Im Jahre 1861 stellte das sinnlose administrative Verfahren der höchsten ministeriellen Behörden das Professorencorps der Petersburger Universität in die schiefste Lage den Studierenden gegenüber, da man ihm polizeiliche Funktionen zumutete. Durch die unbesonnenen Maßregeln wurden Studentenunruhen hervorgerufen, und fünf der edelsten Professoren beschlossen, lieber ihre Lehrtätigkeit und sichere Lebensstellung freiwillig auf Lebenszeit aufzugeben, als die Schande der stimmlosen Unterwerfung auf sich zu nehmen. Zu diesen gehörten der bekannte Rechtshistoriker Kavelin, der Redakteur und Herausgeber einer der besten und korrektesten russischen Monatsschriften „Vestnik Evropy" (Der Bote Europas) — Stasjulevic und Pypin. Nachdem Pypin im Jahre 1862 im Auftrage des neuen Unterrichtsministeriums im Auslande wissenschaftlich tätig war, begann er seine publizistischen Leistungen in der damals tonangebenden radikalen Monatsschrift „Sovremennik" („Der Zeitgenosse", 1863 — 1866), deren Seele Cernysevskij gewesen, und nach der gewaltsamen Aufhebung derselben wurde Pypin zum ständigen Mitarbeiter des in demselben Jahre gegründeten „Vestnik Evropy“, in welchem er bis auf den heutigen Tag durch zahlreiche grundlegende Arbeiten auf allen Gebieten der russischen Literaturgeschichte und des Volkslebens eine rastlose Tätigkeit entfaltete. Diese seine kleineren Werke verarbeitete er zu größeren, so die „Geschichte der slawischen Literaturen", welche in die böhmische, deutsche (von Traugott Pech) und französische Sprache übertragen wurde, „Belinskijs Leben und Briefwechsel" u. v. a., von denen die meisten zu zwei Auflagen erlebten, und endlich die vierbändige „Geschichte der russischen Ethnographie". Im Jahre 1871 wurde er von der Petersburger Akademie der Wissenschaften für seine grundlegenden Arbeiten zum Mitglied gewählt, aber die Regierung wollte es seiner unabhängigen Gesinnung halber keineswegs zulassen , und um die Akademie vor einer Demütigung zu retten , verzichtete Pypin freiwillig auf die ihm mit Recht gebührende, in Aussicht gestellte Ehre, und erst nach 21 Jahren konnte die Akademie es wagen, ihn wenigstens zum korrespondierenden Mitgliede zu wählen, eine Tat, der die Kaiserlich Russische Geographische Gesellschaft durch die Verleihung einer goldenen Medaille an Pypin sekundierte. Worten wir einen kurzen Blick auf die große wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit Pypins, so sehen wir, dass er sein Leben darauf verwendet, um den allmählichen Verlauf der geistigen Entwicklung Russlands zu verfolgen, und man braucht z. B. nur ein Werk wie Reinholdts grundlegende Literaturgeschichte zu lesen, um auf Schritt und Tritt die Spuren der allumfassenden Leistungen Pypins zu finden, was auch von Reinholdt hervorgehoben wird. Mutig verteidigt Pypin den Einfluss der westeuropäischen Kultur, sowie die ausländischen Träger derselben, vor allein die Deutschen, ebenso auch die bahnbrechende Reformtätigkeit Peters des Großen gegen die bornierten rücksichtslosen Angriffe der reaktionären Chauvinisten Slawophilen, die besonders seit dem letzten Jahrzehnt ihrem verderblichen Einfluss den Sieg verschafften, und mit denen zu kämpfen nicht ganz ungefährlich ist. Er ist auch ein Freund der Slawen, aber sein Ideal ist eine literarisch wissenschaftliche Brüderlichkeit auf dem Boden der westeuropäischen Kultur, darum will er, dass Russland zuvörderst sich zu Hause ganz europäisiere, wenn es die geistige Führerschaft der schwächeren Brudervölker übernehmen will, und in dieser Hinsicht versteht er mit seinem feinen literarischen Takt für die Rechte der Polen, Kleinrussen und Bulgaren beständig die Lanze zu brechen. Was aber auch das größere deutsche Publikum in seinen Arbeiten hinsichtlich der russischen Belletristik interessieren könnte, das sind seine Forschungen auf dem Gebiete der neuesten Entwicklung des russischen Geistes, und zwar in unserem Jahrhundert. Seit Jahrzehnten widmet sich Pypin dem Studium der zahlreichen diesbezüglichen Dokumente. Als Frucht dieser Arbeiten erschienen die von großem Beifall und Erfolg gekrönten Werke über die „Bewegung in der russischen Gesellschaft unter Alexander I.“ und die „Charakteristiken der literarischen Meinungen von den zwanziger bis zu den fünfziger Jahren" dieses Jahrhunderts, die ein geschlossenes Ganze vorstellen, und die wir unter dem Titel „Die Geistigen Bewegungen etc." vereinigten. Wir begannen mit der für die Gegenwart etwas minder interessanten Epoche Alexanders, aber dies war unentbehrlich, denn in ihr keimten schon fast alle jene Momente der geistigen Entwicklung der russischen Gesellschaft, die dann unter Nikolaus Blüten trugen, so dass man unvermeidlich mit diesen Vorstufen beginnen muss, wenn man es mit dem Studium der folgenden Periode etwas ernsthafter nimmt: es genügt zu erwähnen, dass z. B. die Tätigkeit einer so bahnbrechenden Persönlichkeit wie Puskin die geistigen Hauptelemente dieser zwei Epochen, denen beiden er angehörte, in sich vereinigt. Und Pypin versteht es, dieselben aufs genaueste zu beleuchten. Seine scheinbaren Schwächen, eine gewisse Weitläufigkeit und Trockenheit, könnten ihm zum Verdienst angerechnet werden: fern von geistreichen Redewendungen und glänzen, den Abstraktionen bleibt Pypin beständig auf dem Boden der Tatsachen und Dokumente, und dieselben dem Leser in Hülle und Fülle vorführend, versteht er es, ihn in den Gang der Geschichte einen tiefen Einblick tun zu lassen, indem er die epochemachenden geistigen Strömungen durch die eingehende Schilderung der oder jener hervorragenden Persönlichkeit beleuchtet. Und wer sich die Lektüre seiner Werke angelegen sein lässt, vor dem entrollt sich allmählich das Bild der Entwicklung des russischen Lebens, ohne deren nähere Kenntnis man weder die Geschichte des XIX. Jahrhunderts schreiben, noch die Bedeutung der russischen Belletristik verstehen kann.

Und nun noch ein Wort über die Übersetzung selbst. Der Verfasser kam uns mit der freundlichen Autorisierung der Übersetzung der zweiten verbesserten Auflage seines Werkes, sowie mancher für eine deutsche Ausgabe unentbehrlichen Änderungen in liebenswürdigster Weise entgegen, am Inhalt dieses Vorworts jedoch ist er ganz unbeteiligt, da ihm darüber überhaupt keine Mitteilung gemacht wurde.

Möge das Werk in Deutschland, wo man es zweifelsohne früher oder später mit dem Erforschen der russischen Literatur bedeutend ernster nehmen wird, einer ihm gebührenden Aufnahme begegnen.

Boris Minzes.

Was die Wiedergabe der russischen Namen und Büchertitel mit deutschen Lettern betrifft, so hielt ich mich nicht an die Laut-, sondern an die Buchstabentranskription, indem ich, dem Verfahren der Slawisten gemäß, für jeden einzelnen russischen Buchstaben einen ihm immer entsprechenden deutsch-lateinischen setzte. Dank der eifrigen Unterstützung und warmen Teilnahme des geschätzten Herausgebers der „Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft", Herrn Professor Dr. Quidde in München, habe ich diese scheinbar unbedeutende, in der Praxis aber keineswegs zu unterschätzende Frage behufs einer endgültigen konventionellen Lösung angeregt und diesbezüglich kontroversiert, und hinsichtlich der Details verweise ich auf meine Aufsätze in der obenerwähnten Zeitschrift: 1891, Bd. VI, S. 373 bis 381; Bd. VIII, S. 159—160; 1893, Bd. IX, 8. 314—319, sowie auf die „Festgabe (der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft) zur Versammlung deutscher Historiker in München, Ostern 1893," Freiburg i. Br. u. Leipzig, 1893, S. 39 — 49. Mit diesem Transkriptionsverfahren stimmen bis auf einige unbedeutende Kleinigkeiten die von dem preußischen Kultusministerium im vorigen Jahre für die sämtlichen ihm unterstellten Bibliotheken aufgestellten Transkriptionsalphabete überein, vgl. Zentralblatt der Unterrichtsverwaltung, 1892, 8. 386, sowie die diesbezügliche Mitteilung des Professors Quidde in seiner Zeitschrift, Bd. IX, 1893, Heft 2, S. 319.

Ich verweise auch auf den vor kurzem erschienen 3. Jahrgang der „Minerva" (Jahrbuch der gelehrten Welt, herausgegeben von K. Kukula und K. Träbner), deren Redaktion meinen behufs einer endgültigen konventionellen Lösung gemachten Transkriptions Vorschlag angenommen hat (Vgl. „Hochschul-Nachrichten", München 26. Dez. 1893, Nr. 39, S. 16.)

Die Transkriptionsfrage ist ein sehr unangenehmer Stein des Anstoßes für jeden, der in einer nichtrussischen Sprache; über Russland zu schreiben hat, und es ist bereits seit lange die höchste Zeit, denselben endlich aus dem Wege zu räumen.

B. M.