Hausindustrie und Heimarbeit: Die Textil-Hausindustrie.

Die Lage der Arbeiterinnen in absterbenden Hausindustrien. — Die Dezentralisation des Großbetriebes und ihr Einfluß auf die Frauenarbeit. — Die Lage der Nadelarbeiterinnen. — Das Sweating-System. — Die sanitären und sittlichen Folgen der Hausindustrie. — Die Existenzbedingungen der Hausindustrie.

Wer die Lage der Proletarierin in ihrer Gesamtheit überblickt, der sieht nichts als eine gleichmäßige graue Oede: Arbeit und Not,—Not und Arbeit. Die Unterschiede, die zu Tage treten, sind nichts als Variationen desselben Themas. Was für die Arbeiterin in der Großindustrie gilt, das gilt ebenso für die in der Hausindustrie, im Handel oder im persönlichen Dienst Beschäftigte. Es kann daher für uns nur noch darauf ankommen, neue mit ihrem Beruf in Verbindung stehende Seiten ihrer Lage, oder noch unerreichte Tiefen ihres Elends aufzudecken, ohne das Allgemeingültige nochmals zu wiederholen. Die Hausindustrie ist allzu reich an Zügen, die uns zwar in der Großindustrie schon begegneten, dort aber gewissermaßen nur die ersten Sorgenfalten des Antlitzes waren, während sie hier jenen tiefen Furchen gleichen, die ein Leben voll Qual den Gesichtern armer, alter Leute unauslöschlich eingeprägt hat. Alles ist hier ins Ungeheuerliche vergröbert und vergrößert: die Niedrigkeit der Löhne, die schlechten Wohnungen und Arbeitsstätten und ihre physischen und moralischen Folgeerscheinungen. Das gilt für beide Organisationsformen der Hausindustrie—die Heimarbeit und die Werkstattarbeit—und in höchstem Maße für diejenige Werkstattarbeit, die unter der Bezeichnung "Sweating System" sich einer traurigen Berühmtheit erfreut. Einzelbilder aus denjenigen Zweigen der Hausindustrie, in denen die weibliche Arbeit eine bedeutende Rolle spielt, werden das Gesagte am besten erhärten.


Betrachten wir zunächst die Textilindustrie, deren hausindustrieller Betrieb auf dem Aussterbeetat steht und einen verzweifelten Kampf um seine Existenz zu kämpfen hat, der um so härter ist, als die Schwächsten ihn auszufechten haben.

Viele Menschen, die vor Gerhart Hauptmanns Webern von Mitleid und Grauen zerfließen, gehen eine Stunde später mit dem beruhigten Gefühl nach Hause, daß alles, was sie hörten und sahen, einer längstverflossenen Zeit angehört. Thatsächlich aber sahen sie ein Spiegelbild des Elends von heute. Die böhmischen Weber z.B. wohnen in ihrer übergroßen Mehrzahl in Hütten, in deren oft einzigem Raum neben dem Webstuhl der Herd und die Lagerstätten der Familie sich befinden. Hier wird geschlafen, gekocht, gewaschen und gearbeitet; zwischen den verwahrlosten Kindern treiben sich im Winter auch noch Hühner und Ziegen herum. Eine dicke, feuchtwarme Luft schlägt dem Eintretenden daraus entgegen, zu ihrer Erhaltung bleiben auch im Sommer die Fenster geschlossen. Der üble Geruch beim Schlichten, wobei zersetzungsfähige und giftige Stoffe zur Verwendung kommen, vermischt sich mit dem Dunst der Petroleumlampen, dem Kohlenoxydgas der schlechten Oefen, dem Staub des Webens. Dabei ist an gründliche Reinigung kaum je zu denken,—denn die ganze Familie ist zu fieberhafter Arbeit gezwungen,—Küchenabfall, schmutzige Wäsche und dergl. mehr verpesten den Raum bis aufs äußerste. Oft steht der Webstuhl Tag und Nacht nicht still, da Mann und Frau sich daran ablösen; eine vierzehn-, sechzehn- und achtzehnstündige Arbeitszeit gehört nicht zu den Seltenheiten.577 Vom sechsjährigen Kinde an bis zum Greise ringt ein jedes in unablässigem Mühen um sein Stück Brot.578 Zeiten der Arbeitslosigkeit bedeuten Hunger; überfallen Schneeverwehungen die im Gebirge wohnenden Weber, die dadurch oft auf Monate vom Arbeitgeber abgeschnitten sind so nimmt der Hungertod in erschreckender Weise zu.579

Zu dieser Ueberanstrengung auf der einen und der Schwierigkeit des Betriebs auf der anderen Seite stehen die Löhne in schreiendem Mißverhältnis. Das Weben feiner Leinengewebe, z.B. der Damast-Tischgedecke, die sich vorläufig von der Maschine nicht in derselben Güte herstellen lassen, bringt noch am meisten ein, und doch verdient ein Arbeiter bei größter Ausnutzung seiner Kräfte selten mehr als 7 fl. die Woche580 ein Shawlweber kann es bis auf 10 fl. bringen, wenn er von früh vier Uhr bis abends zehn Uhr zu arbeiten im stande ist.581 Der häufigste Jahresverdienst böhmischer Weberfamilien schwankt zwischen 120 und 150 Gulden, wovon oft sieben bis acht Personen erhalten werden müssen!582 Eine achtgliedrige Familie, die sich in der besonders günstigen Lage befand, über eine Jahreseinnahme von 350 fl. zu verfügen, gab täglich für Nahrung pro Person ganze zehn Kreuzer aus; für alle übrigen Ausgaben blieben 70 fl. übrig. Eine Witwe mit nicht weniger als zehn Kindern konnte nicht mehr als 200 fl. im Jahr trotz allem Fleiß aufbringen583, d.h. diese elf Personen mußten mit fünfundfünfzig Kreuzern täglich ihre sämtlichen Bedürfnisse befriedigen! Ein Arbeiter, der mit Frau und Kindern sogenannte Putzel-Leinwand herstellte, verdiente 1,48 fl. die Woche; ein anderer, der leichte Baumwollwaren unter Mithilfe seiner Familie webte, kam bei zwölfstündiger Arbeitszeit aller auf 1,20 fl.584 Unter den alleinarbeitenden Frauen sind die Seidenwinderinnen die bestgestellten, denn sie erreichen den hohen Lohn von—2 fl. wöchentlich.585 Die Spulerinnen der Baumwollunterketten für Plüschgewebe dagegen,—meist lebensmüde Greisinnen mit zitternden Händen und gekrümmten Rücken,—kommen bei großem Fleiß auf 1,10 fl. die Woche586, und die Weberinnen der Rohfutterstoffe, die noch vor fünfzehn Jahren für 22 Meter 80 kr. bekamen, kommen heute bei 45 Meter auf 75 kr., wobei häufig vier volle Arbeitstage darauf gehen.587 Wie es bei solchen Löhnen mit der Ernährung der Bevölkerung aussieht,—allein im Königgrätzer Bezirk wurden 30000-40000 Heimweber gezählt588,—bedarf keiner näheren Beschreibung. Es ist dabei oft noch ein besonderes Glück, wenn der Weber überhaupt seinen Lohn zu sehen bekommt. Viele Faktoren, die die Vermittlung zwischen dem Verleger, dem eigentlichen Unternehmer, und dem Heimarbeiter in Händen haben, beschäftigen nur solche Weber, die von vornherein auf den Geldlohn verzichten und sich durch Waren aus ihren Kramläden entschädigen lassen. Manche arme Mutter, deren Kinder nach Brot schreien, kommt infolgedessen mit irgend einem wertlosen Stück Stoff, einem Tuch od. dergl. nach Hause. Ist der Faktor Gastwirt, so verführt er den Weber, Branntwein statt Lohn zu nehmen589, was den vollständigen Ruin der unglücklichen Familien herbeiführt. Aber das ist noch nicht alles: wird der Lohn gezahlt, so sucht ihn der Faktor durch willkürliche Schadenersatz- oder Strafgelder oft bis zur Hälfte hinabzudrücken590 und der in seiner Vereinzelung wehrlose Arbeiter, der das Gespenst der Arbeitslosigkeit vor Augen sieht, fügt sich stumm darein. Ja, er entschließt sich sogar, den Faktor mit Produkten seiner armseligen Landwirtschaft zu bestechen, um der Arbeit sicher zu sein.591

Gegenüber solchen Zuständen kann man sich nicht einmal damit trösten, daß sie sich etwa auf den einen Landstrich beschränken, denn sie herrschen überall, wo die motorisch getriebene Maschine im Großbetrieb noch nicht hat Einzug halten können. In Belgien z.B., wo die mechanische Spinnerei und Weberei die Hausindustrie fast ganz aufgesogen hat592, mußte sie ihr doch bisher noch die Weberei der Leinendamaste, wie der feinen Battiste überlassen.593 Seltsam genug: die Luxusartikel der Reichsten werden in den elendesten Höhlen des Jammers von den Händen der Ärmsten hergestellt! Die Battistweber und Weberinnen arbeiten meist in feuchtdunklen Kellern, um die feinen Fäden am Brechen zu verhindern.594 Sie erblinden infolgedessen häufig und ihre Glieder krümmen sich unter rheumatischen und gichtischen Schmerzen. Wie in Böhmen haust die ganze Familie des Webers in seinem Arbeitszimmer, wie dort ist der Lohn ein kläglicher. Die geschickteste Weberin feiner Leinwand verdient im günstigsten Fall bei ausgedehntester Arbeitszeit 1,80 fr. täglich, während Wochenlöhne von 3 fr. gar nicht selten sind.595 Ein trauriges Bild, das sich den geschilderten würdig anreiht, bietet die Seiden-Hausindustrie Frankreichs. Schon die Zucht der Seidenraupen in den Privathäusern, die hauptsächlich in den Händen der Frauen liegt, ist im höchsten Grade widerlich: jeder Winkel der Wohnung wird dafür ausgenutzt, Massen von welken Blättern, toten Raupen und ihren Exkrementen bedecken den Boden und verbreiten ekelhafte Gerüche; mitten darin wohnt, schläft und kocht die ganze Familie.596 In den Heimen der Hasplerinnen sieht es wenig anders aus; hier ist die Ausdünstung des heißen, klebrigen Wassers, in das sie bei der Arbeit unaufhörlich die Hände tauchen müssen, atembeklemmend. Die Lyoner Seidenweber, von denen die Hälfte weiblichen Geschlechts sind, haben es nicht besser. Dabei belaufen sich ihre Jahreseinnahmen, je nach der Länge ihrer Arbeitszeit und Schwierigkeit ihrer Arbeit, auf 382 bis 882 fr.597 Eine der besten Lyoner Hausweberinnen, die ein siebenjähriges Kind zu versorgen hatte und 907,70 fr. im Jahr einnahm, stellte folgendes Budget auf:598
Wohnung 130,00 fr.
Nahrung 653,35 fr.
Heizung 34,80 fr.
Kleidung 63,80 fr.
Im ganzen: 918,45 fr.

Trotzdem sie für Nahrung täglich nur 1,80 fr. rechnete, und die Kleidung für das Kind durch ihren Bruder beschafft wurde, muß das Defizit ein bedeutend höheres sein, als sie angab, weil sie weder für Krankheit, noch für Erholung und Nebenausgaben etwas ansetzte. Wohlthätigkeit oder Prostitution sind die einzigen Mittel, um es wett zu machen; die Arbeiterin, die sich aufreibt von früh bis spät, hat dafür nicht einmal die Genugthuung, durch eigne Kraft sich und ihr Kind erhalten zu können,—sie muß betteln gehen oder sich verkaufen!

Fast an jedem Stück unserer Kleidung und unseres Hausrats kleben der Schweiß und die Thränen unglücklicher Frauen. Für elegante Brustbesätze von Hemden, die den gepflegten Körper reicher Damen umhüllen und für die sie selbst drei bis fünf Gulden zahlen müssen, empfängt die Stickerin des Erzgebirges nur sechzehn bis achtzehn Kreuzer, für kunstvoll gestickte Bettdecken, die ihr weiches Lager umhüllen, und bei einer täglichen Arbeitszeit von zwölf bis fünfzehn Stunden fünf Wochen zur Fertigstellung erfordern, empfängt die Arbeiterin ganze—fünf Gulden!599 Die gestickten Röckchen und Häubchen, die die zarten Glieder glücklicher Kinder wärmen, bringen den böhmischen Strickerinnen zwanzig Kreuzer den Tag.600 Ob wohl die Heldinnen großstädtischer Feste, deren von Füttern und Perlen glitzerndes Kleid sie wie eine Schlangenhaut umgiebt, jener vogesischen Stickerinnen gedenken, die in zwölf- und vierzehnstündiger Arbeitszeit mit Hilfe ihrer eignen, oder zur Arbeit angenommenen Kinder diese verführerischen Gewänder herstellen, und bestenfalls eine Mark pro Tag daran verdienen?!601 Auch die goldgestickten Uniformen der Männer können vom Elend derer, die sie schufen, erzählen. Eine fleißige französische Goldstickerin mit einem dreijährigen Kind hatte eine Jahreseinnahme von 529,50 fr. und eine Ausgabe für die notwendigsten Bedürfnisse von 707,90 fr. Das Defizit erschreckte sie aber nicht mehr: "Ich habe glücklicherweise jemanden, der das deckt."602 Eine ihrer Kolleginnen in Paris verdiente wöchentlich bei elfstündiger Arbeitszeit 11,50 fr., womit sie kaum ihre Ernährung beschaffen konnte; "sie hat einen Liebhaber, Gott sei Dank," sagte ihre Nachbarin auf eine mitleidige Frage.603 Dabei bietet diese ganze Industrie gar keine Aussicht auf eine Aufbesserung der Löhne, denn die Maschine dringt unaufhaltsam vor. In Plauen z.B., wo eine Handstickerin im Jahre 1871 noch 34 Mk. wöchentlich verdiente, stand sie sich zehn Jahre später bereits auf 17 bis höchstens 23 Mk.604

Auch der Spitzenhausindustrie ist die Maschine ein grimmiger Feind. Nach Hunderttausenden schätzte Leroy-Beaulieu noch vor dreißig Jahren die französischen Spitzenarbeiterinnen.605 Ihre Zahl ist heute sehr zusammengeschrumpft. Eine blühende Industrie war einst die böhmische Spitzenklöppelei, heute vermag sie die wenigen Getreuen nicht zu ernähren. Sechzehn bis achtzehn Stunden muß die Klöpplerin über dem Kissen gebückt arbeiten, wenn sie einen Jahresverdienst von 30—sage und schreibe dreißig!—bis höchstens 100 Gulden erreichen will. Fünfjährige Kinder müssen schon acht Stunden täglich neben der Mutter sitzen und klöppeln, um drei bis zwölf Kreuzer zu verdienen. Ein elendes Geschlecht wächst unter solchen Umständen heran, tuberkulös und skrophulös, physisch und geistig herabgekommen.606 Im klassischen Lande der Spitzenproduktion, in Belgien, sieht es nicht anders aus. Vom sechsten Jahre an sitzen die Arbeiterinnen zwölf Stunden täglich in feuchter Kellerluft mit der Aussicht 150 bis 200 fr. im Jahre zu verdienen.607 Bei einer jährlichen Spitzenproduktion im Wert von ca. 50 Millionen Mark, stehen sich die Arbeiterinnen durchschnittlich auf 52 bis 53 c. täglich.608 Jahreseinnahmen von 154 bis 341 fr. wurden bei vier Lyoner Spitzennäherinnen ermittelt, und zwar erreichten sie diesen Satz nur dann, wenn bei täglicher zwölfstündiger Arbeitszeit im Laufe des Jahres keine Arbeitsunterbrechung stattfindet. Dasselbe gilt für die Schleierarbeiterinnen, die dabei noch schlimmer daran sind, weil sie keine differenzierte Arbeit haben, wie die Spitzennäherinnen; alle Tage, zwölf Stunden lang, das ganze Jahr hindurch, setzen sie Chenilletupfen auf das feine Gewebe.609 Zehrende Krankheiten sind das Gefolge der Spitzenarbeit. Noch schärfer als in der Fabrik wirkt das Blei, das zur Appretur angewendet wird, auf die Arbeiterinnen; fast alle weisen Zeichen der Vergiftung auf, neben rasch abnehmender Sehkraft.610 Auch hier ist die Lage völlig hoffnungslos; die Maschine und die massenhafte Konkurrenz der Frauen untereinander sind die Ursachen.

Ein Trost ist es vielleicht, sich sagen zu können, daß die Textilhausindustrie auf dem Aussterbeetat steht und die Zustände, die sie zeitigt, mit ihr verschwinden werden. Dies Sterben ist aber leider nicht nur ein außerordentlich langsames, dieselben Verhältnisse finden sich vielmehr auch bei anderen Hausindustrien, die gleichfalls nicht leben und nicht sterben können. Sehen wir z.B. jene englischen Heimarbeiter an, die Zündholzschachteln machen: im engen Zimmer arbeitet eine Mutter mit ihren Kindern bis zu den kleinsten herab; der ganze, auch im Sommer geheizte Raum ist erfüllt mit trocknenden Schachteln, Geruch von schlechtem Leim erfüllt die Luft, und 7 sh. wöchentlich ist die höchste zu erzielende Einnahme.611 Oder betrachten wir jene in den Dörfern und Flecken Böhmens verstreuten Glasarbeiter-Familien, deren Frauen die schwersten und gesundheitsschädlichsten Arbeiten obliegen; stundenweit, bei jedem Wetter, auf unwegsamen Bergpfaden müssen sie die schweren Lastkörbe schleppen, um Waren abzuliefern und Material zu holen612, oder sie sind mit der Glasmalerei beschäftigt und infolge der bleihaltigen Farben Vergiftungserkrankungen ausgesetzt.613 Blaß und hohläugig wie sie, sind die Glasperlenarbeiterinnen Thüringens. Um den Perlen jenen beliebten perlmutterartigen Glanz zu geben, blasen die Mädchen eine übelriechende, oft giftige Substanzen enthaltende Gallerte von Fischschuppen und Gelatine hinein. Sie werden zwar magen- und augenkrank, aber sie erreichen auch den fabelhaften Lohn von 50 bis 75 Pf. täglich!614 Noch elender daran sind die belgischen Strohflechterinnen, die täglich 47 bis 57 c. verdienen, und dabei vollständig in den Händen des Faktors sind, der sie am liebsten mit Waren entlohnt.615

Selbst angenommen, diese Arten der Hausindustrie gingen, ohne Anstoß von außen, ihrem natürlichen Verfall entgegen, so wäre damit die Hausindustrie an sich nicht aus der Welt geschafft. Denn wie sie einerseits durch die Großindustrie erdrückt wird,—ein Prozeß, der in der Textilhausindustrie am deutlichsten zum Ausdruck kommt,—so werden ihr andrerseits durch sie neue Gebiete eröffnet, auf denen eine fast grenzenlose Ausbreitungsmöglichkeit gegeben ist. Diese Dezentralisation des Großbetriebs tritt in der Tabakindustrie besonders scharf hervor; hier ist die Heimarbeit überall in starkem Zunehmen begriffen616, obwohl deren Schäden zum Teil ganz ungeheuerliche sind. Die Kinderarbeit spielt hier eine solche Rolle, daß, wo eigene Kinder fehlen, fremde, sogenannte Kaufkinder angenommen werden.617 Es kommen Räume von kaum zwei Meter Höhe vor, in denen Frauen mit fünf bis acht Kindern den ganzen Tag Cigarren machen; in Küchen und Schlafkammern wird der zum Entrippen angefeuchtete Rohtabak getrocknet, so daß der Tabakdunst nicht mehr zu vertreiben ist und dauernd eingeatmet wird.618 Welche Folgen die Nikotinvergiftung nach sich zieht, haben wir schon erfahren. Dabei verdient eine ganze, aus Mann, Frau und Kindern bestehende hart arbeitende Familie 12 bis 20 Mk. die Woche, während eine alleinstehende Frau mit einem Kind auf 6 bis höchstens 10 Mk. rechnen kann.619 Welche Gefahren die hausindustrielle Herstellung von Cigarren auch für die Konsumenten mit sich bringt, dafür nur ein Beispiel: In New-York fand ein Sanitätsinspektor eine Familie, die in derselben engen Kammer Cigarren herstellte, in der zwei Kinder an Diphtheritis schwer krank danieder lagen.620

Eine dezentralisierende Tendenz hat auch die Spielwarenindustrie, die von alters her eines der traurigsten Kapitel der Hausindustrie bildet und weiter bilden wird, weil der Großbetrieb sich besonders für billiges Spielzeug als weniger gewinnbringend erweist, als die Heimarbeit. In ihrer deutschen Hauptzentrale, in Sonneberg, fand Sax die furchtbarsten Lohn- und Wohnungsverhältnisse. Typisch war eine Behausung, die aus Küche und Kammer bestand. Die Küche, zugleich Wohn- und Arbeitsraum, wurde dauernd geheizt, damit die ringsum aufgeschichteten Sachen, Puppenköpfe und dergleichen, schneller trocknen; die kaum ventilierbare Kammer war durch zwei bis drei Betten ganz ausgefüllt, in denen oft zwei- bis dreimal so viel Menschen schliefen. Die Beköstigung bestand neben Kartoffeln aus Wurstsuppe, d.h. dem Wasser, in dem der Fleischer Würste gekocht hat, und Schnippeln, den Sehnen, die aus dem Rindfleisch als unbrauchbar entfernt werden.621 Diese Ernährung soll dem Körper Kräfte genug verleihen, um in der Hochsaison eine tägliche Arbeitszeit von achtzehn bis zwanzig Stunden auszuhalten.622 Dabei waren die Löhne so elend,—eine Sonneberger Bossiererfamilie verdiente bei angestrengter Arbeit eines jeden ihrer Glieder 12 bis 15 Mk. die Woche, mußte sich aber mit diesem Verdienst auch noch über eine vier- bis sechsmonatliche Arbeitslosigkeit hinweghelfen623,—daß die Drechsler sich ihr Holz stehlen mußten, um nur existieren zu können.624 Man sage nicht, daß diese Zustände zwanzig Jahre hinter uns liegen und überwunden sind; denn heute ist das Elend in der Thüringer Spielwarenindustrie noch viel größer.625 Eine Drückerfamilie, die aus Papiermaché Spielzeug herstellt, arbeitete zu neun Personen in einem einzigen stickigen, heißen Raum voll Staub und voll trocknender Waren; ein Säugling in der Wiege lag dabei. Ein Arbeitstisch, eine Bank, ein Stuhl, eine einzige Schüssel, die zum Waschen und Essen gleichzeitig benutzt wurde, bildeten die ganze Einrichtung; dem gegenüber hatte der Pfarrer des Orts die Stirn, zu behaupten, daß alle Leute gut und angenehm wohnen626! Die Löhne sind von Jahr zu Jahr zurückgegangen. Heute verdient z.B. eine Arbeiterin an einem Dutzend Puppenkleidchen von 25 bis 30 cm Länge, mit Aermeln, Schleifen, Spitzen und Knöpfen nicht mehr als 12 bis 20 Pf.627 Die beliebten Puppentäuflinge liefert der Sonneberger Hausindustrielle für 95 Pf. das Dutzend, wobei er pro Stück—1 Pf. verdient! Eine Bossiererfamilie von vier erwachsenen Personen kommt bei täglicher,—den Sonntag mitgerechnet,—vierzehn-bis fünfzehnstündiger Arbeitszeit auf 9,50 Mk. pro Woche, das bedeutet eine Einnahme von 34 Pf. täglich für die Person.628 daß unter solchen Verhältnissen die Männer sich bemühen, andere Arbeit zu finden, ist begreiflich. Die Schwächsten, die Frauen, die Greise und die Kinder nehmen sie auf. 81 % der Schulkinder werden im Bezirk der Meininger Spielwarenindustrie zur Arbeit herangezogen; sie arbeiten nach den Schulstunden oft bis zehn und zwölf Uhr nachts, drängt die Arbeit, so wird es auch zwei und drei Uhr, ehe sie zur Ruhe kommen. Infolgedessen wurde im Winter 1895 konstatiert, daß im Herzogtum Meiningen 2809 arbeitenden Kindern 3037 arbeitslose Erwachsene gegenüberstanden.629 Auch in anderen Zweigen der Spielwarenindustrie müssen die Mütter nicht nur all ihre Kräfte daran geben, um einen nennenswerten Verdienst zu erreichen, sie sind auch noch gezwungen, das Liebste, was sie haben, ihr eigenes Fleisch und Blut, dem unersättlichen Moloch in den Rachen zu werfen. So liegt die Bemalung der Zinnsoldaten hauptsächlich in ihren Händen. Sie sitzen beide blaß und still vor den Farbentöpfen, nur die Hände fieberhaft bewegend; das arme Kind mit dem alten, müden Zug um Mund und Augen wendet teilnahmlos die bunten Figürchen in den Händen, es weiß gar nicht, was Spielen heißt. Hunderte von Nürnberger Zinnmalerinnen fristen so ihr Leben; bei vierzehn- bis siebzehnstündiger Arbeitszeit erreichen sie einen wöchentlichen Reinverdienst von höchstens 4,35 Mk.630 Die Räume, in denen all dies Spielzeug hergestellt wird, das aus Metall, wie das aus Holz und Papiermaché, sind mit ihrem Staub, ihrer Hitze, ihrer verpesteten Luft, wahre Herde der Lungenschwindsucht, deren Keime mit den Waren in die Familien der ahnungslosen Käufer getragen werden. Eine unbewußte Rache der Elenden an den Reichen, wenn sie ihnen mit dem bunten Spielzeug den unheimlichsten Würgeengel der Menschheit ins Haus schicken!

Wir kommen nunmehr zu jenem großen Arbeitsgebiet, auf dem sich die Frauen in Scharen zusammendrängen, und das die Näherei in allen ihren Zweigen umfaßt. Die Art der Arbeit ist hier eine sehr differenzierte. Wir haben die Werkstattarbeiterin in den Schwitzhöhlen, die Heimarbeiterin, die für die Konfektions- und Putzgeschäfte arbeitet, die Schneiderin und die Putzmacherin, die nur von der Privatkundschaft leben, die Näherin und Ausbesserin, die bei den Kunden selbst näht. Dabei handelt es sich neben der Herstellung der Wäsche und Kleidung um die der Hüte, der Handschuhe, der Kravatten. Wie wichtig dies Gebiet für die Frauenarbeit ist, geht schon daraus hervor, daß allein in Deutschland zwei Drittel aller hausindustriell thätigen Frauen der Bekleidungsindustrie angehören. Die Nadel ist eines der urältesten Attribute in der Hand der Frau; sie ist ihr geblieben als eines jener wenigen Werkzeuge, die sich ihrer Form und Idee nach im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert haben, und in der Bekleidungsindustrie mehr als in irgend einer anderen, hat sich bestätigt, was wir schon in Bezug auf andere Berufsarten ausführten, daß die Frauenarbeit die technische Entwicklung hemmt. In allen Industrien hat das Maschinenwesen gerade in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen enormen Fortschritt gemacht, nur in der Näherei ist man seit fünfzig Jahren bei denselben primitiven Instrumenten stehen geblieben, und die Hausindustrie herrscht nicht nur noch unumschränkt, sie hat sogar die beste Aussicht, den Fabrikbetrieb auf geraume Zeit hinaus aus dem Felde zu schlagen.

Für die Beleuchtung der Lage der Nadelarbeiterinnen fehlt es zwar nicht an Material, es hat aber durchweg nur den Wert, den etwa Momentphotographien aus einem Feldzug für die Beurteilung des ganzen Krieges haben: Wo der Kampf am heißesten ist, wo die Wunden am schwersten sind, dahin dringt der Photograph nicht. Meist haben plötzlich an die Oberfläche tretende Mißstände das Elend der Konfektion der Oeffentlichkeit vor Augen geführt; Erhebungen, wie die beiden deutschen im Jahre 1886, veranlaßt durch den Kampf der Arbeiter gegen den geplanten Nähgarnzoll, und im Jahre 1896, infolge des Konfektionsarbeiterstreiks, wurden dadurch hervorgerufen. Daneben gewähren eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen, die der Privatinitiative zu verdanken sind, Einblick in die Verhältnisse. An umfassenden, sorgfältig vorbereiteten, besonders die Höhe der Wochenlöhne und Jahreseinnahmen berücksichtigenden Enqueten fehlt es jedoch vollständig. Mit der Angabe der Wochenlöhne allein wäre nicht viel gewonnen, da der Saisoncharakter in keiner Industrie ein so ausgeprägter ist, als in der der Bekleidung. Meist dauert die Hochsaison nur fünf Monate, die übrigen sieben bedeuten teils eine stille, teils eine vollständig tote Zeit für die Arbeiterin. Selbst Wochenlöhne von 15 bis 20 Mk., die außerordentlich selten vorkommen, können demnach oft nur eine kümmerliche Existenz gewährleisten. In folgender Tabelle habe ich versucht, einige der festgestellten Wochenlöhne in Verbindung mit den Jahreseinnahmen der Konfektionsarbeiterinnen zusammenzustellen:
Art der Arbeit Wochenlohn Jahreseinkommen
Mk. Mk.
Kleider- und Mäntelkonfektion631: Berlin 8-9 160-180
4-5 80-100
Wäschekonfektion: Rheinprovinz 5,95 314,64
Wäschekonfektion: Erfurt 6-7 250
Knabenkonfektion: Stettin 3-4,80 250
Knabenkonfektion632: Berlin 3-10 280-300
Wäschekonfektion633: Erfurt 2,25 bis 4,75 167,25
3,45 bis 7,20 253,95
4,60 bis 9,60 338,60
Herrenkonfektion: Berlin 12,46 490
9,70 380
6,30 250
6,99 280
Wäschekonfektion: Berlin 9,48 470
Knabenkonfektion: Stettin 7,50 300
Damenkonfektion: Berlin -- 375
Damenkonfektion: Breslau -- 250
Damenkonfektion: Erfurt -- 220
Wäschekonfektion: Berlin 5,88 --
Damenkonfektion: Berlin 7 280
Unterrockkonfektion634: Berlin 7-8
Blusenkonfektion: Berlin 3,50 bis 4,50 --
7-7,50 --
9 --
Kleiderkonfektion635: Breslau 4,50 bis 7,50 250-300
2-3 100-150
Konfektion636: Lübbecke -- 250
-- 376
Damenkonfektion637: Berlin 7,42 386
-- 322
5,95 309
-- 393

Betrachten wir diese Tabelle, die in den meisten Fällen Jahreseinnahmen unter 300 Mk. konstatiert, und bedenken wir, daß eine regelmäßige wöchentliche Einnahme von 9 Mk. und eine jährliche von 468 Mk. gerade nur das notdürftigste Leben einer alleinstehenden Arbeiterin zu sichern vermag, eine großstädtische Arbeiterin sogar unter 600 Mk. nicht auskommen kann, so brauchen wir ihr nichts hinzuzufügen, um ihre Sprache beredter zu machen. Dabei erreicht die Arbeiterin diese Hungerlöhne nur mit Aufbietung ihrer ganzen Kraft. In der Saison sind Arbeitszeiten von vierzehn bis achtzehn Stunden keine Seltenheit. So arbeiten die Stepperinnen in den Berliner Zwischenmeisterwerkstätten oft bis elf Uhr nachts und länger;638 Nürnberger Näherinnen, die acht bis neun Mark verdienen, müssen dafür fünfzehn bis sechzehn Stunden hinter der Maschine sitzen.639 In den Werkstätten beträgt die Arbeitszeit selten weniger als zwölf bis dreizehn Stunden, sehr häufig,—das konnte die Kommission für Arbeiterstatistik wiederholt konstatieren,—wird, besonders vor den Liefertagen, die Nacht durch gearbeitet. Ins Endlose wird sie noch dadurch ausgedehnt, daß die Arbeiterinnen Arbeit mit nach Hause nehmen und hier noch drei bis fünf Stunden ihr letztes bißchen Kraft daran wenden, um ein paar Groschen mehr herauszuschlagen. Es kam vor, daß Erfurter Arbeiterinnen auf diese Weise bis zu 125 Arbeitsstunden wöchentlich berechnen konnten.640 Die Vorteile der Werkstattarbeit sinken infolgedessen fast in nichts zusammen, um so mehr, als auch die Werkstatt in den meisten Fällen nichts weiter ist, als eine enge, schlecht beleuchtete und schlecht ventilierte Proletarierwohnung. In demselben Raum, der vom Dunst der Bügeleisen erfüllt ist, in dem Glieder der Familie des Zwischenmeisters nächtigen, der womöglich auch noch zum Kochen und Waschen benutzt wird, sitzen die Näherinnen dicht gedrängt vor dem oft einzigen Fenster. Werkstätten in feuchten Kellern, oder in glühendheißen Dachstuben kommen vor, dabei ist häufig die Ueberfüllung so groß, daß statt 28 cbm nur 5 bis 12 cbm Luftraum auf die Person kommen.641 Und doch steht die Werkstattarbeiterin sich immer noch besser, als die Heimarbeiterin. Das größte Elend ist dort zu Hause, wo, versteckt in den eigenen vier Wänden, die arme Witwe, die verlassene Ehefrau, die Gattin des Arbeitslosen oder Arbeitsscheuen für sich und ihre Kinder den harten Kampf ums Dasein kämpfen. Rücksichtslos und schutzlos sind sie der unbeschränktesten Ausbeutung preisgegeben. Daß sie zum großen Teil nicht freiwillig die Heimarbeit gewählt haben, sondern sich dazu gezwungen sehen, weil Familiensorgen sie ans Haus fesseln, geht schon daraus hervor, daß die meisten Heimarbeiterinnen nicht zu den in Wort und Bild so oft verherrlichten "flotten Nähmamsellen" gehören, sondern sorgenvolle Frauen sind, von deren Arbeit die Existenz der Ihren abhängt.642 Fast durchweg liegt die Herstellung der gewöhnlicheren Konfektion in ihren Händen,643 infolgedessen erreichen sie bei höchster Arbeitszeit nur den niedrigsten Lohn. Aber auch da, wo sie dieselbe Arbeit leisten, wie die Werkstattarbeiterin, ist ihr Verdienst geringer.644 Eine verwitwete Näherin in Berlin mußte, um 10 Mk. Wochenlohn zu erreichen, von früh vier und fünf Uhr bis nachts elf Uhr arbeiten; trotz dieser übermenschlichen Anstrengung konnte sie ihre Familie nicht allein erhalten, sie mußte noch zur Armenunterstützung ihre Zuflucht nehmen!645 Eine Leipziger Heimarbeiterin, die im ersten Morgengrauen ihre Hauswirtschaft besorgte, arbeitete dann bis 1/2 11 Uhr nachts; weil sie sich die Zeit dafür nicht nehmen konnte, mußte ihr ältester elfjähriger Bub das Mittagessen bereiten und die Geschwister beaufsichtigen.646 Berliner Blusennäherinnen wiesen Wochenlöhne von 3,50 Mk. bis 4,50 Mk. auf!647 In Essen verdiente eine Mutter mit ihrer Tochter bei sechzehn- bis achtzehnstündiger Arbeitszeit 9,75 Mk. für das Nähen leinener Arbeiterhosen; pro Stück erhielten sie—12 Pf., obwohl das Futter zuzuschneiden, Taschen, vier Knopflöcher, zehn Knöpfe neben den Maschinennähten zu nähen waren und das Garn dazu geliefert werden mußte.648 Knopflochverrieglerinnen kommen auf 3 bis 3,60 Mk. wöchentlichen Verdienst, Knopflochnäherinnen in der stillen Zeit auf 2 bis 4 Mk., in der Hochsaison auf 5 Mk.; eine Wäschenäherin, Mutter von vier kleinen Kindern, konnte bei angestrengtester Arbeit nicht mehr als 9 Mk. wöchentlich verdienen.649 Wie sich bei solchen Einnahmen die Lebenshaltung gestaltet, dafür nur einige Beispiele. Eine alleinstehende Berliner Heimarbeiterin, die 7 Mk. wöchentlich verdiente, hatte folgendes Wochenbudget:
Mit einer anderen geteilte Kochstube 1,50 Mk.
Feuerung 0,30 "
Spiritus zum Kochen 0,20 "
Petroleum 0,30 "
Wäsche 0,15 "
Mehl, Gemüse, Gegräupe 0,70 "
Kartoffeln 0,15 "
Brot 1,00 "
Milch 0,35 "
Salz, Schweden etc 0,10 "
Kaffee 0,40 "
Butter 0,50 "
Schmalz 0,38 "
Kassenbeitrag 0,22 "
Im ganzen: 6,25 Mk.

Ihre tägliche Ausgabe für die Nahrung betrug demnach nicht ganz 50 Pf., für Kleidung, Beschuhung, sonstige Ausgaben blieben wöchentlich nur 75 Pf. übrig.650 Eine andere, die eine Schlafstelle inne hatte und Mittag für 30 Pf. täglich auswärts aß, brauchte, da sie sich ein wenig besser nährte, 7,45 Mk. die Woche. Die Wochenausgaben einer Breslauer Näherin, die durchschnittlich 6 Mk. verdiente, stellten sich folgendermaßen:
Wohnung 1,00 Mk.
Mittagessen 1,75 "
Frühstück, Vesper, Abendbrot 2,25 "
Heizung, Beleuchtung, Wäsche 1,35 "
Kassenbeitrag 0,15 "
Im ganzen: 6,50 Mk.

Hier zeigt sich schon, obwohl Kleidung und Nebenausgaben aller Art nicht in Rechnung gestellt wurden, und die tägliche Ausgabe für die Ernährung nur 57 Pf. beträgt, ein wöchentliches Defizit von 50 Pf.651 Sobald noch Kinder zu ernähren sind, wird die Lage natürlich zu einer ganz verzweifelten. Eine Witwe mit einem elfjährigen Sohn, die 366 Mk. im Jahr, also ca. 7 Mk. wöchentlich verdiente, und die Ausgabe für Miete durch Aftervermietung deckte, hatte folgende Wochenausgaben:
Feuerung 0,90 Mk.
Petroleum 0,55 "
Brot 1,30 "
Ein Pfund Fett 0,60 "
Zehn Pfund Kartoffeln 0,30 "
Gemüse und Gegräupe 0,70 "
Knochen zum Auskochen 0,15 "
Sonntags 1/2 Pfund Fleisch 0,30 "
Salz, Schweden, Wichse etc 0,10 "
Wäsche 0,15 "
Kaffee 0,60 "
Milch 0,35 "
Im ganzen: 6,00 Mk.

Für die Kleidung und alle Extraausgaben, z.B. für Krankheit, Fahrten, Schulmittel etc. etc. blieb demnach 1 Mk. wöchentlich übrig, die Nahrung stellte sich täglich auf 30 Pf. pro Person!652 Kann man sich wohl von einer Lebenshaltung eine Vorstellung machen, die auf einer Wocheneinnahme von fünf oder gar nur drei Mark beruht?! Läßt sich das Elend ausdenken, das herrschen muß, wenn mehr als ein Kind davon erhalten werden soll?!

Man könnte versucht sein, anzunehmen, daß solche Verhältnisse vielleicht einzig dastehen und sich in anderen Ländern nicht wiederholen. Leider zeigt sich aber auch hier, daß gewisse soziale Zustände im unmittelbaren Gefolge wirtschaftlicher Erscheinungen auftreten, und daher überall die gleichen sind, wo die wirtschaftliche Entwicklung denselben Stand erreicht hat. Die Wiener Näherin, die von sechs Uhr früh bis in die späte Nacht Trikottaillen näht, um 3,50 fl. zu verdienen; die beiden Schwestern, die zusammen 10, höchstens 20 fl. im Monat erwerben, und oft nicht mehr wie 20 kr. für ihr Mittagessen auszugeben vermögen;653 die böhmische Handschuhnäherin, die bei vierzehnstündiger Arbeitszeit nur 208 fl. im Jahr einnimmt, für Nahrung, Heizung und Wohnung für sich und ihr Kind aber allein 252 fl. braucht654,—sie alle geben ihren deutschen Leidensgenossinnen nichts nach. Von besonderem Interesse aber ist es, daß selbst im gelobten Lande der Näherei und Schneiderei, das die Modedamen der ganzen Welt mit seinen Erzeugnissen versorgt, in Frankreich, die Lage derjenigen, aus deren Händen all die Wunderwerke hervorgehen, keine günstigere ist. Die Tageseinnahme erscheint vielfach hoch, sie ist aber, auf das Jahr verteilt, oft noch niedriger, als die deutscher Arbeiterinnen, weil der Saisonbetrieb ein noch intensiverer ist. Nur die ersten Arbeiterinnen, also etwa diejenigen, die als Vorarbeiterinnen in den Werkstätten der großen Konfektionshäuser beschäftigt werden, können auf eine annähernd regelmäßige Arbeit während des ganzen Jahres rechnen, die mittelguten haben 200 bis höchstens 230, die gewöhnlichen,—und die meisten!—haben 60 bis 160 Tage zu thun.655 In der toten Zeit findet sich bestenfalls eine Arbeit, die täglich eine bis zwei Stunden Beschäftigung gewährt, in der hohen Saison dagegen kommen Arbeits-"Tage" bis zu 28 Stunden vor!656 Bei vierzehn- bis fünfzehnstündiger Arbeitszeit kann die Durchschnittskonfektionsnäherin in Paris eine Jahreseinnahme von 250 bis 350 fr. erreichen, wobei sie 75 c. bis 1,25 fr. täglich verdient.657 Bei einer Einnahme von 900 fr. aber fängt erst die Möglichkeit an, selbständig davon leben zu können, und nur ein Drittel aller ihrer Arbeiterinnen verdienen, nach den Aussagen der Chefs der ersten Pariser Konfektionsfirmen, mehr als das.658 Eine der ersten Pariser Schneiderinnen, die für ein großes Haus Modelle arbeitet, also höchst selten arbeitslos ist, verdiente jährlich 875 fr. Sie hatte folgendes Ausgabenbudget659:
Nahrung 550 fr.
Miete 200 "
Wäsche 20 "
Zwei Paar Schuhe 20 "
Zwei Kleider (selbst genäht) 40 "
Zwei Hüte (selbst garniert) 10 "
Schirm, Handschuhe 10 "
Kleine Ausgaben 25 "
Im ganzen: 875 fr.

Aus diesem Budget geht deutlich genug hervor, daß selbst für eine Kraft ersten Ranges nur dann die Existenz gesichert erscheint, wenn nicht nur die Ansprüche geringe sind, die Gesundheit gefestigt ist und auf Vergnügungen fast ganz verzichtet wird, sondern vor allem dann, wenn es sich nur um die Erhaltung der eignen Person handelt. Bei einer anderen, auch noch zu den besseren Arbeiterinnen zu zählenden Näherin, die 3 fr. täglich und 465 fr. im Jahr einnahm, stellten sich die Ausgaben folgendermaßen660:
Nahrung 511 fr.
Miete 120 "
Kleidung 55 "
Wäsche 48 "
Stiefel 30 "
Licht und Heizung 25 "
Kleine Ausgaben 40 "
Im ganzen: 829 fr.

Wir stoßen hier auf ein Defizit von 364 fr., das selbst durch äußerste Einschränkung nicht zu decken wäre. Daß es unmöglich ist, beweist das Budget einer Vorarbeiterin in einem der ersten Pariser Geschäfte. Sie gab monatlich 81 fr. aus, indem sie selbst hinzufügte, daß sie sich dabei alles versagen müsse, was das trübe, einförmige Leben erheitern könne. Trotz einer achtmonatlichen, mit 4 fr. täglich entlohnten Arbeit, hatte sie am Schluß des Jahres gegen 200 fr. Schulden.661 Wie sich aber das Leben all derer gestaltet, die unter 400 fr. einnehmen und davon auszukommen versuchen, dafür nur ein Beispiel: Eine Pariser Konfektionsnäherin hatte ein Jahreseinkommen von 375 fr. im Jahr. Sie gab aus für:662
Miete 100,00 fr.
Nahrung 237,25 "
Licht 4,00 "
Ein Kleid 5,00 "
Ein Fichu 2,00 "
Zwei Paar Strümpfe 1,30 "
Zwei Paar Schuhe 8,00 "
Zwei Hemden 2,50 "
Eine Hose 1,25 "
Zwei Taschentücher 0,80 "
Zwei Servietten 0,80 "
Im ganzen: 362,90 fr.

Ihre tägliche Nahrung bestritt sie für 55 c., d.h. für 5 c. Milch, für 20 c. Brot, für 10 c. Kartoffeln, für 10 c. Käse und für 10 c. Wurst! Selbst die Heizung mußte sie sich versagen, von Vergnügungen war keine Rede, ein einziges Fähnchen für 5 fr. mußte das ganze Jahr aushalten! Und das war ein Mädchen von zwanzig Jahren mit all der Sehnsucht nach Glück und Freude, die so stürmisch nach Erfüllung verlangt; ein Mädchen von zwanzig Jahren mitten in der von Lebenslust fiebernden Luft von Paris! Und doch giebt es noch tiefere Stufen des Elends. Die Heimarbeiterinnen von Lyon sind auf ihnen angelangt: hier finden sich Jahreseinnahmen von 170, 200, 250 fr., während das Leben sich mit weniger als 350 fr. unmöglich bestreiten läßt.663

Auch in England, wo die rapide Entwicklung des Fabriksystems die alten Hausindustrien schon fast ganz zu Boden rannte, herrscht im Bekleidungsgewerbe die Hausindustrie noch so gut wie unumschränkt. Die furchtbaren Enthüllungen des Elends in den kleinen Werkstätten des Londoner Ostens waren es, die überhaupt zuerst die Blicke der Welt auf die Zustände in der Konfektionsindustrie lenkten. Der Begriff des Sweating-Systems stammt von dort. In den Werkstätten der Zwischenmeister, wo in dunklem, engen Raum die armen Opfer der Armut dicht gedrängt zusammensitzen, wo die Arbeit oft Tag und Nacht nicht ruht, wo die Kindheit begraben wird, und Greisinnen noch mit zitternden Händen für ein Stück Brot die Nadel führen, wo der Fluch Jehovahs: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen" erst in Erfüllung gegangen zu sein scheint, übt es seine Herrschaft aus. In Glasgow, in Manchester, in Leeds hat es sich ausgebreitet. Niedrige Löhne und lange Arbeitszeit sind auch hier seine Begleiterscheinungen, Näherinnenlöhne von 6 p. an sind an der Tagesordnung664; die Glasgower Heimarbeiterinnen in der Wäschekonfektion, die häufig von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends in ihrem verwahrlosten Zuhause, neben schmutzigen oder kranken Kindern an den feinen Batisthemden sticheln, die irgend eine Herzogin ahnungslos über den gepflegten Körper ziehen wird, verdienen 4 bis 6 sh., zuweilen sogar nur 2 sh. die Woche665; in den Londoner Schneiderwerkstätten erreicht eine gelernte Schneiderin bei vierzehn- bis siebzehnstündiger Arbeitszeit im besten Fall 4 sh. täglich, häufig muß sie sich mit derselben Summe als Wochenlohn zufrieden geben666, während die Heimarbeiterin überhaupt kaum mehr zu verdienen vermag667, sie näht z.B. Unterröcke für 7 p. das Stück, wobei sie den Faden noch zugeben muß.668

Selbst in die neue Welt brachten die unglücklichsten Flüchtlinge der alten das Sweating-System mit. Blühende Industrien, die ihren Arbeitern ein gutes Auskommen sicherten, brachen unter der Schmutzkonkurrenz der kleinen Werkstätten und der armen Heimarbeiter zusammen.669 Ein einziger Stadtteil Chicagos wies nicht weniger als 162 Konfektionswerkstätten auf, über die Hälfte aller Arbeiter darin waren verschuldet, denn nur selten konnten die Einnahmen mit den notwendigsten Ausgaben das Gleichgewicht halten.670 Als typisches Beispiel für die Wirkung der Hausindustrie kann folgendes gelten: ein Schneider, der seit seinem vierzehnten Jahre ein fleißiges und nüchternes Leben führte, und trotzdem nie mehr als 200 bis 300 $ jährlich einnahm, hatte nach zwanzig Jahren vier an der Schwindsucht sterbende Kinder und wurde selbst, im Alter von 34 Jahren! als altersschwach und arbeitsunfähig befunden.671 Da die Löhne der weiblichen Arbeiter noch viel niedriger sind—solche von 25 c. täglich kommen sehr oft vor—, ihre Widerstandsfähigkeit eine geringere ist und ihre Kräfte sich oft in wenigen Jahren verbrauchen,672 so kann man sich ungefähr eine Vorstellung von der Lage machen, in der sie sich befinden.

Als notwendige Folge der niedrigen Löhne ist die Überarbeit, die Unterernährung und die Wohnungsnot überall die gleiche. Es giebt naive Gemüter, die in der Heimarbeit des Weibes ein Mittel zur Aufrechterhaltung des durch die Fabrikarbeit bedrohten Familienlebens sehen. Sie stellen sich die Heimarbeiterin etwa unter dem Bilde der handarbeitenden Frau aus bürgerlichen Kreisen vor, die nur müßige Stunden auszufüllen sucht, sonst aber ihren Kindern, ihrer Wirtschaft stets zur Verfügung steht. Sie wollen nicht einsehen, daß Heimarbeit zu fieberhafter Thätigkeit verdammt, daß sie den Menschen der Maschine gegenüberstellt, und er in rasender Hast mit ihr den Wettkampf aufnehmen muß, bis er zusammenbricht. Selbst neben dem sterbenden Kinde muß die New-Yorker Arbeiterin ihr Tagespensum erledigen; oft hat sie keine Zeit, ihre Toten zu begraben! Die Lebenden aber, die noch nicht mit arbeiten können, schickt sie auf die Straße, oder bestenfalls zu Pflegefrauen, um in der Arbeit nicht gestört zu werden.673 Ihre Berliner Leidensgefährtin greift zu dem Mittel, ihre Kleinen in Kisten zu pferchen, oder an Stühle anzubinden, weil sie keine Zeit hat, aufzuspringen, um den Fallenden aufzuhelfen oder die Umherlaufenden zu beaufsichtigen.674 Die Hausindustrie erhält die Frau nicht der Familie, denn sie muß Mann, Kinder und Wirtschaft ebenso vernachlässigen, als ginge sie in die Fabrik.675 Die Hausindustrie zerstört vielmehr den letzten Rest des Familienlebens, den die Fabrik noch erhält, weil sie ihrer Sklavin überhaupt keine Ruhe läßt, weil sie den armseligen Wohnraum des Proletariers auch noch zur Werkstatt verwandelt. Die ganze Familie und die ganze Arbeit der Berliner Heimarbeiterin drängt sich in einem Raum, der womöglich auch noch zum Kochen benutzt wird, zusammen; die kleine Stube daneben muß an Schlafleute vermietet werden und wird oft noch von den Kindern geteilt.676 Wie sie keinen Raum besitzen, in dem sie bei Tage für sich sein können, so haben sie nachts kaum ein Bett für sich allein; zwei Drittel aller Berliner Heimarbeiterinnen müssen ihr Bett mit anderen teilen.677 Bilder grauenhaften Elends rollen sich auf, wenn wir diese Wohnungen näher betrachten: Im fünften Stock eines Berliner Hauses befindet sich ein einfenstriges Zimmer und eine winzige, fensterlose Küche; darin haust eine gelähmte Greisin, ihre Tochter, die Näherin ist, und deren vier Kinder. In einem Keller derselben Stadt wohnt in einer Küche von 8 qm Bodenfläche eine Witwe mit vier Kindern, die Stube daneben hat sie an Schlafburschen vermietet; in beiden Räumen schimmeln die Möbel, so feucht ist es. Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen Räumen haust ein Ehepaar mit vier Kindern und einem Schlafmädchen; den Mann zerfrißt auf dem Lager voll Lumpen der Kehlkopfkrebs. In einem Keller, dessen Dielen verfault sind, und dessen Fenster tief unter der Erde liegen, arbeiten zwei Schwestern für die, die droben in Luft und Sonne lachend vorübergehen. In einem anderen Keller ähnlicher Art liegt der Mann in den letzten Stadien der Lungenschwindsucht, die Frau näht neben seinem Bett, die Kinder atmen seine Krankheit ein.678 In New-York fand man eine siebenköpfige Familie in einer Wohnung von drei Räumen, von denen nur einer hell war, zusammen mit nicht weniger als fünfzehn Schlafleuten,—alle waren auf nur drei Betten angewiesen.679 In einer anderen Wohnung, in die ein Fabrikinspektor nachts eindrang, lagen zehn bis zwölf Menschen, Männer, Frauen und Kinder, manche halb nackt, auf dem bloßen Fußboden.680

Es mag immerhin noch Menschen geben, die beim Anblick solchen Elends nichts anderes empfinden, als wenn sie vom Samtfauteuil des ersten Ranges aus die Not der "Weber" oder das Leiden "Hanneles" betrachten: sie gehen nach Hause und denken nicht mehr daran. Nachhaltiger aber dürfte ihr Schrecken sein, wenn sie erführen, daß jene Armut ihnen selbst an das liebe Leben greift: in einem Zimmer Berlins nähte eine arme Mutter Blusen, halbfertig lagen sie auf dem Bett, in dem drei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen; in einer Werkstatt, die eben noch an derselben Krankheit Leidende beherbergt hatte, arbeiteten gleich darauf sieben Arbeiterinnen.681 Masern, Keuchhusten, Scharlach,—kurz alle Kinderkrankheiten nisten sich in der armseligen Stube der Näherin ein, und werden von ihren Hemden und Blusen und Röcken in die Häuser der Käufer getragen. Die Schwindsucht haftet an den beliebten billigen Jacken und Mänteln der großen Warenhäuser; das furchtbare Gift der Syphilis dringt auf diese Weise in die physisch und moralisch reinsten Familien.682 Niemand kann ermessen, wie oft es geschieht, keiner aber sollte sich die Größe der Gefahr verhehlen. Treibt doch die Armut ihre Opfer der Schande in die Arme.

Wir haben gesehen, daß die Hausindustrie Löhne aufweist, durch die kaum das nackte Leben erhalten werden kann. Ihre Arbeiterinnen aber sind jung, es graut sie mit vollem Recht vor einem Dasein, das aller Freude entbehrt; sie sind Mütter, sie können ihre Kinder nicht darben lassen; sie sehen das Alter vor sich, sie wollen nicht im Armenhaus enden. Selbst durch den Verkauf ihrer ganzen Arbeitskraft können sie nicht leben, der Verkauf ihres Leibes, ihrer Ehre muß die Ergänzung sein. Die Arbeit selbst müssen sie häufig damit bezahlen. Am günstigsten noch gestaltet sich ihre Lage, wenn sie ein festes Verhältnis haben, wie jene arme Mutter, die erklärte, sie habe sich dazu entschließen müssen, sonst wäre sie zu Grunde gegangen.683 Ein Liebhaber aus den eigenen Kreisen wird vielleicht einmal ein Ehemann. In den weitaus meisten Fällen jedoch fallen die hausindustriellen Arbeiterinnen der gelegentlichen Prostitution anheim.684 Hunger und Lebenslust sind stärker als alle Moral, und die Moralpredigt oder gar die moralische Entrüstung wird angesichts dieses Elends zu einer ekelhaften Farce.

Die ganze Stufenleiter der Not haben wir durchlaufen bis zu ihrer letzten Konsequenz. Wo ist ein Lichtblick, der eine Besserung der Zustände verheißt? Kann die Hausindustrie ihren Arbeitern, wie der Fabrikbetrieb nach und nach eine höhere Lebenshaltung ermöglichen? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, sich die Ursachen des herrschenden Elends klar zu machen.

Dort, wo Arbeitskraft billig zu haben ist, hat die Hausindustrie sich festgesetzt: in den Großstädten, wo eine große Arbeiterbevölkerung sich vorfindet.685 Hier strömen in wachsender Zahl die Proletarier zusammen, ihre Frauen und Töchter schaffen ein übermäßiges Angebot von Arbeitskraft, das durch die starke Einwanderung von Landmädchen und durch die wachsende Konkurrenz der Frauen und Mädchen aus den Kreisen des Bürgertums ständig gesteigert wird. Diese Arbeitskräfte können aber nur von Industrien ausgenutzt werden, die an ihre Ausbildung keine Anspr?che machen und deren technische Entwicklung noch in den Anfängen stecken geblieben ist; das sind die Hausindustrien aller Art, in erster Linie diejenigen, die an alte hauswirtschaftliche Frauenarbeit anknüpfen, wie die Näherei und Schneiderei. Sie sind auch besonders geeignet, alle diejenigen Frauen heranzuziehen, die zur Ergänzung des männlichen Einkommens einen Nebenerwerb suchen, der sie im Hause beschäftigt. All diese zusammentreffenden Umstände nun: die Konzentrierung proletarischer Elemente in den Großstädten, das starke Angebot weiblicher Arbeitskräfte, die zum Teil durch ihre Leistungen nicht ihren ganzen Lebensunterhalt zu bestreiten brauchen, die Tendenz der Industrie, möglichst billig zu produzieren, sind die Ursachen der großstädtischen Hausindustrie, mit ihrem Gefolge an physischem und sittlichem Elend. Für England und Amerika gilt dasselbe, nur daß dort die billigen Arbeitskräfte durch die armen Einwanderer gestellt werden.

Aber nicht nur in den Großstädten findet die Hausindustrie die Voraussetzungen für ihre Existenz. Sie findet sie in gleichem Maße in den Gebirgen, wo infolge der schlechten Transportverhältnisse der Fabrikbetrieb nicht Fuß fassen kann,686 und in den Landorten des Flachlands, wo der kleine Bauer nicht mehr im stande ist, von der Landwirtschaft allein seine Familie zu ernähren. Da die Hausindustrie einerseits mit Frauen, andererseits mit Männern und Frauen zu thun hat, die von der modernen Arbeiterbewegung nicht erreicht werden, weil sie abgeschnitten sind vom Verkehr mit der Welt, so hat sie neben einem billigen auch ein außerordentlich fügsames Material in der Hand. Trotz alledem hat sie mit der Konkurrenz des Fabrikbetriebs zu kämpfen. Ihre Kampfmittel sind neben den niedrigen Löhnen, der langen Arbeitszeit und dem Trucksystem die Ausbeutung der Lehrlinge. Die hausindustriellen Werkstätten beschäftigen sie wochenlang unentgeltlich oder womöglich gegen Lehrgeld, sparen dadurch bezahlte Arbeitskräfte und entlassen sie, sobald die "Ausbildung" vollendet ist und eine Anstellung erwartet wird.687

Es kommt nun darauf an, festzustellen, ob die Existenzbedingungen der Hausindustrie fernerhin vorhanden sein werden, und ob ihre Arbeitsbedingungen Aussicht haben, sich zum Vorteil der Arbeiter zu verändern.

Es giebt Industrien, z.B., um gleich die für unseren Zweck wichtigste zu nennen, die Textilindustrie, die durch große technische Vervollkommnungen der Hausindustrie auf ihrem Gebiet den Todesstoß versetzen. Sie kann die Konkurrenz nicht mehr aushalten, sie wird gewissermaßen ausgehungert. In England hat sich dieser Prozeß bereits vollzogen, in anderen Ländern wird er denselben Verlauf nehmen. Andere dagegen—und hier kommt im wesentlichen die Bekleidungsindustrie in Betracht—bedürfen in der Hauptsache der menschlichen Hand; selbst ihre Maschinen, die Nähmaschine, die Knopflochmaschine, ja sogar die neue Zuschneidemaschine, haben den Fabrikbetrieb nicht zur notwendigen Voraussetzung. Und sie werden durch äußere Umstände auf absehbare Zeit hinaus nicht dazu gezwungen werden, weil die Bevölkerungsverhältnisse sich in der selben und nicht in der entgegengesetzten Richtung weiterentwickeln. Die proletarische Bevölkerung wächst ebenso aus sich heraus, wie durch Zuwanderung und durch ein allmähliches Hinabsinken des Kleinbürgertums. Dazu kommt, daß die Höhe der männlichen Arbeitslöhne immer mehr durch den Frauenerwerb, der als Ergänzung hinzugedacht wird, beeinflußt wird, und ihrerseits das Arbeitsangebot weiblicher Hände steigern hilft. Auch die Erwerbsarbeit der Frauen des Bürgerstandes hat eine steigende Tendenz, weil die Einnahmen der Männer weder den erhöhten Bedürfnissen, noch der allgemeinen Preissteigerung entsprechen. Allein das riesige Indiehöheschnellen der Mieten macht den Nebenerwerb der Frauen zur Notwendigkeit688, der andererseits auch vielfach, infolge des Zusammenschrumpfens der Hauswirtschaft, der Langenweile entspringen mag. Es kommt aber noch eins hinzu, um die Weiterentwicklung der Hausindustrie in ihrer modernen Form zu sichern: die Tendenz zur Dezentralisation des Großbetriebs. Die Ausdehnung und schärfere Handhabung der Arbeiterschutzgesetzgebung läßt den Unternehmer nach einem Ausweg suchen, um ihr aus dem Wege zu gehen, er findet ihn in der Hausindustrie. Die Tabakindustrie bietet dafür ein besonders drastisches Beispiel. Die Bedingungen zur Erhaltung und zur Ausbreitung der Hausindustrie, und zwar grade dort, wo Frauenarbeit eine bedeutende Rolle spielt, sind demnach gegeben. Dabei ist aber auch die Frage nach der Möglichkeit der Hebung der hausindustriellen Arbeitsbedingungen zum Teil mit beantwortet. Es ist ein Zirkel, aus dem ein Ausweg zunächst unmöglich erscheint: die schlechten Arbeitsbedingungen sind zugleich Ursache und Folge der Hausindustrie. Ihr Sieg über den Fabrikbetrieb beruht eben auf der Ausnutzung und Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft bis an die Grenze des Möglichen. Ein Rückgang der Löhne, im Gegensatz zu ihrer Zunahme im Fabrikbetrieb, zeigt sich überall.689 Die Ursachen liegen auf den verschiedensten Gebieten. Wie wir wissen, ist es die Notlage der Familie, die die verheiratete Frau zur Erwerbsarbeit zwingt. In den weitaus meisten Fällen wählt sie, in der Ansicht befangen, dadurch ihren Kindern mehr nützen zu können, die Heimarbeit. Der größte Teil der Heimarbeiterinnnen sind überall Frauen mit Kindern.690 Von der Not getrieben, nehmen sie Arbeit um jeden Preis. Ihre Helfershelfer im Lohndruck und der Aufrechterhaltung der schlimmsten Form der Hausindustrie, der Heimarbeit, sind die Frauen und Töchter der Bourgeoisie, jene "verschämten" Armen, die ihre Erwerbsarbeit als nicht standesgemäß möglichst geheim zu halten suchen691, und die an primitive Lebensverhältnisse gewöhnte, daher billig arbeitende Landbevölkerung. Die Näherinnen im Vogtland z.B., die viel für Berlin arbeiten, verdienen 25 % weniger als die Berliner Arbeiterinnen.692 Und diese gefährliche Konkurrenz wird teils durch den Staat, der Webe- und Korbflechtschulen u. dergl. m. errichtet, teils durch kurzsichtige Privatwohlthätigkeit, die im Gebirge und auf dem Lande den sogenannten "Gewerbefleiß" einführt, unterstützt693, auch noch künstlich großgezogen. Die Frauen, die Landbewohner und schließlich auch die Völker mit niedriger Lebenshaltung,—der Einfluß der fabelhaft billigen Erzeugnisse der japanischen und chinesischen Heimarbeit beginnt bereits fühlbar zu werden,—bilden das riesige Reservoir, aus dem die Hausindustrie stets neue Nahrung schöpft, und die sie gegeneinander ausspielt. Sie ist wie ein ungeheuerer Sumpf, der nie austrocknet, weil er aus trüben unterirdischen Quellen immer wieder gespeist wird, und der mit seinen Miasmen die ganze Luft verpestet. Nichts Gesundes und Lebenskräftiges kann er jemals hervorbringen, er kann sich nicht aus sich selbst heraus in einen klaren See verwandeln. Um seine Wirkungen zu beseitigen, giebt es nur ein Mittel: er selbst muß verschwinden.