Einführung in die Frauenfrage.

In den letzten Jahrzehnten unserer Entwickelung macht sich eine immer stärker hervortretende Bewegung und Unruhe der Geister in allen Gesellschaftsschichten bemerkbar und sind eine Menge von Fragen aufgetaucht, über deren Lösung für und wider gestritten wird. Eine der wichtigsten ist ohnstreitig die sogenannte Frauenfrage.

Eine Frage, deren Erörterung und Lösung sich damit zu beschäftigen hat, festzustellen, welche Stellung die Hälfte des Menschengeschlechts — die nicht Wenige, gestützt auf gewisse Erscheinungen und Zahlen, deren wahre Bedeutung ich später erörtern werde, für die größere Hälfte des Menschengeschlechts halten — gegenwärtig in unserem sozialen und politischen Organismus einnimmt, und künftig einnehmen soll, und muss, wenn eine gesunde und harmonische Entwickelung der Menschheit, d. h. also eine gesunde Kulturentwickelung überhaupt eintreten soll, diese Frage muss eine hochwichtige und wohl des ,,Schweißes der Edlen“ werte sein.




Natürlich gibt es in der Frauenfrage, wie in allen andern sozialen Fragen der Gegenwart, verschiedene Parteien, welche von ihrem jeweiligen allgemeinen sozialen und politischen Standpunkt aus die Frage ansehen und beurteilen und Mittel zu ihrer Lösung vorschlagen. Die Einen behaupten, ganz wie bei der großen sozialen Frage, welche die Arbeitermassen in Bewegung setzt, dass es keine Frauenfrage gebe, da die Stellung, welche die Frau jetzt und in Zukunft einzunehmen hat, derselben durch den bisherigen Verlauf der Kulturgeschichte, wie durch das, was sie die Natur der Frau und ihren natürlichen Beruf nennen, vorgezeichnet sei. Die Frau habe einfach die Hauswirtin des Mannes zu sein, als solche Kinder zu gebären und zu erziehen, die Häuslichkeit in Ordnung zu halten und sich im übrigen um nichts zu bekümmern, was jenseits ihrer vier Pfähle oder nicht im nächsten sichtbarsten Zusammenhang mit ihren häuslichen Pflichten vorgehe.

Die Anhänger dieser Ansicht sind, wie man sieht, rasch mit der Antwort bei der Hand und glauben die Sache damit abgetan. Dass Millionen von Frauen nicht in der Lage sind, den ihnen vindizirten ,,Naturberuf“ als Hauswirtinnen und Kindergebärerinnen zu erfüllen, aus Gründen, die später des ausführlichen entwickelt werden sollen, dass andere Millionen diesen Beruf zu einem guten Teil verfehlt haben, weil die Ehe für sie zum Joch und zur Sklaverei geworden ist und sie in Elend und Not ihr Leben dahin schleppen müssen, das alles kümmert diese Weisen nicht. Sie verschließen vor diesen unliebsamen Tatsachen ebenso gewaltsam die Augen und Ohren, wie vor der Not des Proletariers; achselzuckend sich und Andere damit tröstend, dass es ,,ewig“ so gewesen sei und ,,ewig“ so bleiben werde.

Andere vermögen vor den laut schreienden Tatsachen ihre Augen und Ohren allerdings nicht zu verschließen; sie müssen zugeben, dass kaum in einem Zeitalter zuvor die Frauen im allgemeinen sich im Vergleich zu dem Stande der gesammten Kulturentwickelung in so fühlbar schlimmer Lage befunden haben, wie gegenwärtig, und dass es darum notwendig sei, zu untersuchen, in welcher Weise ihre Lage verbessert und ihnen vor allen Dingen, so weit sie auf sich selbst für ihr Leben angewiesen bleiben, eine materiell möglichst unabhängige Stellung gesichert werden könne.

Zu diesem Zwecke verlangen sie, dass der Frau alle Arbeitsgebiete, für die ihre Kräfte und Fähigkeiten sich eignen, erschlossen werden, dass sie mit dem Manne in den Wettbewerb eintreten könne und — so fordern die Weitergehenden unter ihnen — dieser Wettbewerb solle sich nicht bloß auf das Gebiet der gewöhnlichen Handfertigkeiten und sogenannten niederen geistigen Beschäftigungs- und Berufsarten erstrecken, sondern auch auf die Gebiete der höheren Berufsarten, die Gebiete der Kunst und Wissenschaft, zu welchem Zwecke sie die Zulassung der Frauen zum Studium auf allen höheren Bildungsanstalten, namentlich auch auf den Universitäten verlangen, die bisher ausschließlich dem männlichen Geschlecht geöffnet waren. Insbesondere sind es die verschiedenen Lehrfächer, der medizinische Beruf und die Anstellungen im Staatsdienst (Post, Telegraphie, Eisenbahndienst), für welche sie die Frauen besonders geeignet halten, und zwar mit dem Hinweis auf die praktischen Resultate, welche in diesen Beziehungen, besonders in den Vereinigten Staaten, durch Frauenverwendung bereits erzielt wurden. Diese bis jetzt noch in der Minorität befindliche Partei stellt auch die Forderung gleicher politischer Rechte für die Frau auf, mit der Begründung, dass die Frau so gut Mensch und Staatsbürger sei, wie der Mann, und die bisherige ausschließliche Handhabung der Gesetzgebung durch die Männer beweise, dass dieselben das innehabende Privilegium nur zu ihren Gunsten ausgebeutet und die Frau in jeder Beziehung bevormundet hätten.

Diese zweite Partei hat mit der ersten das gemein, dass sie in ihren Forderungen nicht über dem Rahmen der heutigen Gesellschaft hinausgreift; sie wirft nicht ernsthaft die Frage auf: ob denn die von ihr zu erstrebenden Ziele auch wirklich ausreichend und gründlich die Lage und Stellung der Frau zu verbessern vermöchten. Sie scheint sich nicht vollkommen bewusst zu sein, dass ihr Ziel, soweit es die Zulassung der Frau zu den gewöhnlichen gewerblichen und industriellen Berufsarten betrifft, für die Frau aus dem Volke tatsächlich erreicht ist, aber unter den gegebenen sozialen Zuständen nichts anderes bedeutet, als dass der Konkurrenzkampf der Arbeitskräfte noch wilder wütet und die notwendige Folge davon ist: Verminderung des Einkommens für beide Geschlechter, handle es sich nun um Lohn, Gehalt oder Salair.



Indessen ist mit der Erreichung des weiteren Zieles der Minorität, dass einige hundert oder einige tausend Frauen aus den bedrängten mittleren Ständen in das höhere Lehrfach, die ärztliche Praxis und die Beamtenlaufbahn eindringen und dort leidliche oder auch auskömmliche Stellungen finden, die Lage für die große Mehrzahl der Frauen keine bessere und die Frage kann damit keineswegs als gelöst erscheinen. Für eine solche bruchstückweise Lösung wird sich, auch weder die Frauenwelt, noch die Männerwelt in ihrer Mehrzahl begeistern, denn kleine Ziele erwärmen nicht und reißen die Menge nicht mit fort. Am allerwenigsten aber werden für eine Lösung wie die letztere, sich jene einflussreichen Kreise der männlichen Gesellschaft erwärmen, welche in einem Eindringen der Frauen in die besser bezahlten und angeseheneren Stellen nur eine höchst unliebsame Konkurrenz für sich und ihre Söhne erblicken. Diese werden sich mit allen Mitteln, und wie die Erfahrung bereits gelehrt hat, keineswegs immer mit anständigen und ehrenwerten dagegen stemmen. Diese höheren Männerkreise haben zwar nicht das Geringste dagegen einzuwenden, wenn die Proletarierin alle sogenannten niederen Berufe überschwemmt; sie finden dies sogar in der Ordnung und begünstigen es. Aber die Frau darf nicht das Verlangen tragen in ihre, „der Männer, höhere soziale und amtliche Stellung eindringen zu wollen, dann schlägt die Stimmung in das Gegenteil um.

Auch dürfte der heutige Staat, nach den bereits gemachten Erfahrungen sehr wenig geneigt sein, die Frauen allgemein zum Staatsdienst zuzulassen und am allerwenigsten zu höheren Stellen, möchten auch ihre Fähigkeiten sie vollkommen dazu geeignet machen.

Der Staat, in Verbindung mit den höheren Klassen, hat alle Schranken gegen die Konkurrenz für die niederen Klassen, den Gewerbe- und den Arbeiterstand niedergerissen, aber in Bezug auf die höheren Berufsarten ist er eher bestrebt die Schranken zu erhöhen als zu erniedrigen. Es macht dem unbeteiligten Zuschauer einen gar seltsamen Eindruck, wenn er sieht, mit welcher Entschiedenheit sich Gelehrten- und höhere Beamtenkreise, Ärzte und Juristen dagegen wehren, wenn nach ihrer Ansicht ,,Unberufene“ es wagen, an den gezogenen Schranken zu rütteln. Als die Unberufensten von Allen werden aber namentlich in diesen Kreisen die Frauen angesehen. Diese Kreise sehen sich als besonders von ,,Gott Begnadete“ an, indem das geistige Fassungsvermögen, das sie allein zu besitzen glauben, nach ihrer Meinung nur ganz ausnahmsweise vorhanden ist, welches gewöhnliche Menschenkinder und am allerwenigsten die Frauen, sich nicht anzueignen vermöchten.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.