Gleichberechtigung mit dem Mann.

Es wird nach diesen Ausführungen schon jetzt klar, dass, wenn es sich in dieser Schrift um nichts weiter handeln sollte, als die Notwendigkeit der vollen Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne auf sozialem und politischem Gebiete auf dem Boden der heutigen Gesellschaft darzutun, ich besser täte diese Arbeit zu unterlassen, weil sie nur Stückwerk bliebe und eine wirkliche Lösung der Frage nicht herbeiführen könnte. Eine volle und ganze Lösung der Frauenfrage — worunter ich verstehe, dass die Frau dem Manne gegenüber nicht nur von Gesetzes wegen gleich steht, sondern auch ökonomisch frei und unabhängig von ihm und in geistiger Ausbildung ihm möglichst ebenbürtig sei — ist unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen ebenso unmöglich wie die Lösung der Arbeiterfrage.

Die Aufstellung dieses Satzes nötigt mich zu einer Erklärung.


Meine Gesinnungsgenossen, die Sozialisten, werden zum überwiegendsten Teil mit diesem Satze in seiner Totalität einverstanden sein, ich kann dies aber vorläufig nicht erklären von der Art und Weise wie ich mir seine Verwirklichung denke. Ich ersuche daher die Leser, und insbesondere meine Gegner, diese Ausführungen als meine persönlichen Ansichten betrachten zu wollen und ihre etwaigen Angriffe also auch gegen meine Person allein zu richten, wobei ich nur den einzigen Wunsch ausspreche, im Angriff ehrlich zu sein, meine Worte nicht zu verdrehen und das Verleumden zu unterlassen. Die meisten Leser werden das Letztere eigentlich für selbstverständlich halten, allein ich weiß auf Grund vieljähriger Erfahrungen wie es mit der Ehrlichkeit vieler meiner Herren Gegner bestellt ist, ich bezweifle sogar stark, dass trotz meiner hier deutlich ausgesprochenen Aufforderung dieselbe von einem gewissen Teile derselben befolgt wird. Mögen sie tun was ihre Natur sie zu tun zwingt. Ich werde in diesen Ausführungen alle Konsequenzen, auch die äußersten, ziehen, welche die nach Prüfung der Tatsachen erlangten Resultate erfordern.



Die Frau und der Arbeiter haben beide das gemein, dass sie seit uralter Zeit die Unterdrückten sind, dass trotz aller Änderung in den Formen der Unterdrückung die Unterdrückung selbst stets vorhanden war und geblieben ist; dass Frau wie Arbeiter im langen Laufe der Geschichte nur selten zum klaren Bewusstsein ihrer Knechtschaftsstellung kamen, und zwar die Frau noch weit weniger als der Arbeiter, weil sie im Ganzen noch tiefer stand, als dieser, und von ihm selbst als inferior (unterbürtig) angesehen und behandelt wurde und wird. Diese viele Jahrtausende lange Unterdrückung hat, gemäss der hauptsächlich durch Darwin entdeckten Vererbungs- und Anpassungsgesetze, natürlich für die Frau die gleichen Folgen haben müssen,, die eine ähnliche Unterdrückung bei anderen Naturwesen in ähnlicher Lage auch gehabt haben würde. Die Frau nimmt gewohnheitsmäßig ihre untergeordnete Stellung als etwas so selbstverständliches und naturgemäßes hin, dass es nicht wenig Mühe kostet, ihr zu beweisen, dass diese Stellung eine ihrer unwürdige ist und sie dahin streben muss, ein dem Manne gleichberechtigtes und in jeder Beziehung ebenbürtiges Mitglied der Gesellschaft zu werden.

Für den unterdrückten Mann hat es im Laufe der Geschichte immer höher stehende Männer gegeben, die für seine Freiheit und Gleichberechtigung eintraten, und alle Revolutionen sind im Namen der Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen — worunter man aber stets nur die Männer verstand — unternommen worden, wenn auch diese Versprechen nie gehalten wurden und nach Lage des Kulturzustandes bis jetzt nicht erfüllt werden konnten. Wo ist aber bisher in einer Revolution ernsthaft auch von der Gleichberechtigung der Frauen die Rede gewesen? Und doch ist bis heute keine große bedeutungsvolle Bewegung in der Welt vor sich gegangen, in der nicht die Frauen als Kämpferinnen und Märtyrerinnen hervorragend tätig waren. Diejenigen, welche es lieben, das Christentum als eine große Kulturerrungenschaft zu preisen, sollten zuletzt vergessen, dass es gerade die Frau war, der es einen großen Teil seiner Erfolge zu danken hat. Ihr Bekehrungseifer spielte in der ersten Zeit des Christentums im Römerreiche, wie unter den barbarischen Völkern des frühen Mittelalters, eine sehr gewichtige Rolle und die Mächtigsten wurden durch sie bekehrt. So war es unter Anderen Chlotilde, welche Chlodwig, den Frankenkönig, zur Annahme des Christentums bewog; Bertha, Königin von Gent, und Gisela, Königin von Ungarn, welche das Christentum in ihren Ländern einführten; Fraueneinfluss ist ferner die Bekehrung des Herzogs von Polen und des Czars Jarislaus und vieler anderer Hochgestellter zu danken.

Aber das Christentum lohnte der Frau nicht dafür. Es trägt in seinen Lehren dieselbe Verachtung der Frau zur Schau, wie alle alten Religionen des Orients; es degradiert sie zur gehorsamen Dienerin des Mannes, und das Gelöbnis des Gehorsams muss sie ihm selbst heute noch vor dem Altare ablegen.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.