Zur Geschichtlichen Stellung der Deutschen Renaissancekunst

Zu einem solchen Urteil kann man aber nur gelangen, wenn man, in der Anschauungsweise der Kunst der Italiener befangen, den Wert der deutschen Kunst nach der realen oder idealen Nähe oder Ferne dieses scheinbar alles überragenden Pols der Zeit bemisst, statt sie in ihrer nationalen Sonderexistenz und aus dieser heraus ihre weltgeschichtliche Bedeutung zu begreifen. Je mehr für uns gegenüber der italienischen Renaissance das Mittelalter auch in seiner künstlerischen Bedeutung gewinnt, steigt Interesse, Liebe und Bewunderung für die Eigenart dieser mit ihm so innig verwachsenen Kunst, die nicht nur ein völlig selbständiges nationales Gepräge zeigt, sondern auch in der nordischen Kunst des 16. Jahrhunderts ohne Nebenbuhler dasteht trotz des schon frühzeitig beginnenden Einflusses romanischen Geistes. Der Grad der äußeren Abhängigkeit der deutschen Kunst von der italienischen oder niederländischen Renaissance ist daher eine Angelegenheit von ungleich geringerer Bedeutung als die Frage nach dem Prinzip der persönlichen und nationalen Verarbeitung des Übernommenen und der inneren Selbständigkeit dieser künstlerischen Kultur. Deshalb darf über diesen Berührungen mit fremder Kunst nicht das eigentlich grundlegende Problem deutscher Renaissancekunst übersehen werden und das ist ihr Verhältnis zum Mittelalter.

Noch immer erblickt man so häufig in dem Mittelalter den großen Gedankenstrich, den die Geschichte zwischen Antike und Renaissance gemacht hat, übersieht seine positiven gewaltigen Leistungen und gewöhnt sich in der Renaissance das Erwachen aus Nacht und Grauen zu paradiesischer Herrlichkeit zu sehen. Damit ist aber jedem objektiven historischen wie kunstwissenschaftlichen Verständnis der Boden entzogen. Denn einerseits wird die tatsächliche wertschaffende Bedeutung des Mittelalters verkannt, anderseits gewöhnt man sich nach den Erkenntnisprinzipien und den Idealen der italienischen Renaissance zu urteilen. Es geht nicht an, dass man die deutsche Renaissance erst mit dem Zeitpunkt der Übernahme der italienischen Formen beginnen lässt und auf diese Weise den Begriff Renaissance so ganz ausschließlich mit dieser äußerlichen Folgeerscheinung identifiziert, statt die besondere Art ihrer Neuzeitlichkeit ins Auge zu fassen 1). Gewiss erstreckt sich der gegen Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts sich vollziehende Umschwung auf geistigem und künstlerischem Gebiete über Frankreich, Deutschland und Italien in gleicher Weise.


Aber man kann nicht sagen, diese Bewegung erhalte da oder dort ihre „klassische“ Gestaltung. Denn die hemmenden wie fördernden Elemente sind in jedem Falle positiv wirkende Kräfte, die sich in den künstlerischen und kulturellen Leistungen äußern. Diese Äußerung zu verstehen, nicht sie zu schulmeistern, ist Aufgabe des Historikers. Man darf daher vor allem nicht vergessen, dass im Süden das Mittelalter in der Kunst niemals eine solche durchaus selbständige und große, alle Teilgebiete der bildenden Kunst gleichmäßig umfassende Sondergestaltung wie im Norden in den Domen und Klöstern erhielt, wo das erwachende Volkstum sich seinem Geist aufs innigste verbunden hatte. Daher kam es, dass die Bewegung der Renaissance hier in Deutschland einen vom Süden sehr wesentlich verschiedenen Verlauf genommen hat, der eben in erster Linie Richtung und Ziel auch durch den mittelalterlichen Geist erhielt, um so mehr, als die Zeugnisse griechischer Kultur hier ferner als anderwärts lagen. Die weltgeschichtliche Bedeutung deutschen Geistes und deutscher Kunst liegt daher vielleicht weniger in der besonderen Art der Verarbeitung der italienischen Renaissance als in der Fortentwicklung und Vollendung der großen Gedanken des Mittelalters durch einen in seinem Wesen sich immer schärfer umreißenden nationalen Geist.

Die Rezeption der Antike steht hierbei ganz an zweiter Stelle. Gewiss ist auch die Renaissancezeit des Südens in ihren wichtigsten Lebensimpulsen mit dem Mittelalter innig verbunden. Denn in der Renaissance der romanischen Völker lebt der mittelalterliche Gedanke der Reinigung der Welt von ihrer schlechten Vielheit weiter, von der sie sich nur durch die Erhebung zum Allgemeinen, zur objektiven Einheit, zur Urwahrheit und Schönheit, dem Göttlichen, befreien zu können glaubte. In der „Renaissance“ des deutschen Geistes pflanzt sich die große Idee des Mittelalters vom Einswerden des Einzelnen mit dem All-Einen fort. Für sie ist das Göttliche nicht ein im Ideal realisierter schöner Zustand des Daseins, sondern die jedes Individuelle schaffende und immer unergründliche, lebendige Zaubermacht. Man wollte daher nicht so sehr das Ideal in einer objektiven Einheit verwirklichen, als die alles bestimmende Idee aus dem Wesendes Individuellen gewinnen. Die großen Klassiker der italienischen Renaissance suchen im Formalen die ordnende Regel im Dasein, die Deutschen den Urgrund des alles Einzelne bestimmenden Gesetzes. Die Italiener verwirklichen ihr sinnliches Ideal, die Deutschen suchen hinter die Idee des Individuellen zu schauen. Rafael führt uns die heitere Harmonie olympischen Daseins vor Augen, Dürer lässt uns einen Blick tun in die düsteren Rätsel des Daseins, Rafael wandert mit uns auf die stolzen Höhen des Lebens, Dürer und seine Zeitgenossen zeigen uns sein wildes Gedränge in dunkler Tiefe, seine brutale Energie ebenso wie die Erhabenheit seiner Macht.

Abb. 002. Albrecht Altdorfer, Der wilde Mann aus der Sammlung Lanna, z. Z. London (Privatbesitz).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1
Abb. 002. Albrecht Altdorfer, Der wilde Mann aus der Sammlung Lanna, z. Z. London (Privatbesitz).

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