Eigenart der künstlerischen Weltanschauung

Die deutsche Kunst fand den Ausdruck für Ideen, die man in der italienischen Kunst der Renaissance vergeblich suchen wird. In der Fahnenträgerzeichnung des Urs Graf, eines Schweizer Künstlers des 16. Jahrhunderts (Abb. 3), ist das Schreiten zum Ausdruck eines starken Willens geworden, der beide Figuren gleichmäßig beherrscht, als unsichtbare Macht sie vorwärts treibt, in dem ihrem Zuge folgenden, so energisch sich biegenden Gedenkstein lebt, am Boden seine festen Kurven gräbt, die riesenhafte Fahne wie eine Wolke in der herben Luft des Morgens erzittern macht und sie hineinzwingt in diese Gewalten, deren wohldiszipliniertes Leben so eigensinnig und unerschütterlich an unserem Auge vorüberzieht, wie der eherne Gang des Schicksals selbst.

Man sieht das Gesetz in der Geschichte, hört nichts von Geschichten der handelnden Persönlichkeiten, denkt nicht an ihr Tun als vielmehr an die Macht des überpersönlichen Willens, das Geschick in der Geschichte. Man sieht deshalb keine Sonderprobleme des Raumes, denn der Raum ist geformt aus dem Gestaltmotiv der Figuren, Äußerung desselben Willens, der jene bildet und leitet. Bei Hans von Kulmbach (Abb. 4) kommt der Gedanke im Sinne der italienischen Renaissance zum Ausdruck: die imponierende, wohlberechnete Haltung des Körpers, der Raum ein stilles Begleitmotiv für die Fahnensilhouette, sonst tote Bühne für diese stolze Persönlichkeit, die mit prahlerischer Selbstgefälligkeit durch ihr bloßes Dasein wirken will. Der Bildgedanke erschöpft sich in der sachgemäßen Wiedergabe des Körpers der Figur und ihrem Für-sich-sein, das die Idee eines Überpersönlichen nirgends in Erscheinung treten und den Willen allein zur Charakteristik der Persönlichkeit sich äußern lässt.


Abb. 003. Urs Graf, Fahnenträger. Handzeichnung in Basel.
Abb. 004. Hans von Kulmbach, Fahnenträger, Frankfurt, Städelsches Institut.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1
Abb. 003. Urs Graf, Fahnenträger. Handzeichnung in Basel.

Abb. 003. Urs Graf, Fahnenträger. Handzeichnung in Basel.

Abb. 004. Hans von Kulmbach, Fahnenträger, Frankfurt, Städelsches Institut.

Abb. 004. Hans von Kulmbach, Fahnenträger, Frankfurt, Städelsches Institut.

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