Arbeitstag und Arbeitslohn
Die Streike haben aber nicht bloß den Arbeitstag zu reduzieren und den Arbeitslohn zu steigern verholfen, sondern auch die Regierung zur Regelung der Fabrikgesetzgebung gezwungen. Nach der Meinung Tugan Barnanowskis und Kolzews besteht die Eigentümlichkeit der russischen Fabrikgesetzgebung darin, dass bei der Ausarbeitung der Gesetze politische und polizeiliche Motive mitgespielt haben. Die hauptsächlichen Fabrikgesetze verdanken ihre Entstehung zwei Motiven — der Fürsorge für die Wahrung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, die durch die Fabrikunruhen und Streike gestört werden, und dann der Fürsorge für die Interessen des Fabrikanten, die man nach Kräften zu fördern suchte. Betrachten wir uns einmal diese Gesetzgebung.*) Nach dem Gesetze über die Verdingung der Arbeiter in Fabriken und Werkstätten (3. Juni 1886), das sich ursprünglich vollinhaltlich auf die 18 Gouvernements, die in industrieller Beziehung am höchsten standen, erstreckte, ist es verboten, den Arbeitern anstatt Geld in Coupons, Marken, Brot, Waren zu zahlen (das sogen. Trucksystem), ebenso von den Arbeitern für die ärztliche Behandlung, die Beleuchtung der Werkstätten, die Benutzung der Werkzeuge während der Arbeit in der Fabrik Geld zu verlangen. Die Fabrikgesetzgebung im engeren Sinne hat ihren Ursprung im Gesetze vom 1. Juni 1882, betreffend die Minderjährigen, die in den Fabriken arbeiten, genommen. Dieses Gesetz verbietet, Kinder unter 12 Jahren in die Fabrik aufzunehmen. Kinder von 12 — 15 Jahren dürfen nicht mehr als 8 Stunden im Tage arbeiten, außer der Zeit für Frühstück, Mittagessen und Schulbesuch. Die Arbeitszeit liegt zwischen 5 Uhr früh und 9 Uhr abends. Dasselbe Gesetz verbot die Arbeit der Minderjährigen an Feier- und hohen Festtagen, Es wurde den höheren Behörden aufgetragen, eine Liste der gesundheitsschädlichen Beschäftigungen aufzustellen und die Zulassung Minderjähriger zu diesen Beschäftigungen zu untersagen. Das Gesetz verpflichtete die Fabrikbesitzer, den minderjährigen Arbeitern, die kein Absolvierungszeugnis von mindestens einer einklassigen Volksschule besitzen, nicht weniger als 3 Stunden täglich für den Schulbesuch freizugeben. Das Gesetz vom 12. Juni 1884 betreffend den Schulunterricht der Minderjährigen, erörtert die Frage der zu eröffnenden Schulen und der dazu nötigen Mittel. Das Gesetz vom 3. Juni 1885 hat versuchsweise Frauen und Minderjährigen unter 17 Jahren die Nachtarbeit in den Baumwoll-, Leinwand- und Wollspinnereien verboten. Das Gesetz vom 24. April 1890 hat dies Verbot mit vielen Einschränkungen sanktioniert, und die Arbeit der Minderjährigen gewissermaßen geregelt. Behufs Kontrolle über die Ausführung dieser Fabrikgesetze wurde am 1. Juni 1882 die Einrichtung der Fabrikinspektion ins Leben gerufen. Das europäische Russland ist in 9 Fabrikrayons eingeteilt: Petersburg, Moskau, Wladimir, Kasan, Woronesch, Charkow, Kiew, Wilna. Jeder von diesen Rayons war von einem Fabrikinspektor und einem Gehilfen verwaltet. Der erstere musste in der Rayonhauptstadt, der zweite in einer anderen Stadt desselben Rayons wohnen. An der Spitze der Inspektionsbehörde stand der Generalfabrikinspektor. Alle diese Beamten unterstanden dem Finanzministerium und gehörten zum Departement für Manufaktur und Handel. Das Gesetz verpflichtete die Inspektoren, die Fabriken und Etablissements zu besichtigen, besonders diejenigen, in welchen Minderjährige arbeiten. Im Falle der Gesetzesübertretung seitens der Fabrikanten, waren die Inspektionsbeamten verpflichtet, sie zur gerichtlichen Verantwortlichkeit zu ziehen. Den Fabrikinspektoren liegt es gleichfalls ob, die für die Minderjährigen errichteten oder ihnen akkommodierten Schulen zu inspizieren. Durch das Gesetz vom 14. März 1894 stieg die Zahl der Fabrikinspektoren auf 143, im Jahre 1903 erreichte sie 258. Außer diesen Obliegenheiten wurden sie noch mit der Inspizierung der Dampfkessel betraut. Dieser erste Schritt der russischen Regierung in der Gesetzgebung zur Wahrung der Interessen der Fabrikarbeiter bedeutete einen Schritt nach vorwärts. Aber die Vergleichung der russischen Fabrikgesetze mit den westeuropäischen zeigt uns, dass wir noch sehr viel in dieser Beziehung tun müssen, um das Niveau der westeuropäischen Staaten zu erreichen. Der Arbeitstag der Männer war ursprünglich vom Gesetze nicht beschränkt. Es gibt bei uns auch keine Gesetze, analog den westeuropäischen, die die Frauen während der letzten Wochen ihrer Schwangerschaft und der ersten Wochen nach der Entbindung in Schutz nehmen. Das Verbot der Nachtarbeit der Frauen und Kinder ist bloß auf wenige Branchen ausgedehnt.
*) Es hat sich durch das deutsche Buch von Rosenberg über die russische Gesetzgebung in Westeuropa eine falsche übertriebene Meinung gebildet, die jedoch von Sachkennern, wie P. Struve und A. Issajew, widerlegt worden ist.
In Westeuropa bietet uns die Fabrikgesetzgebung das Bild einer unaufhörlichen Vorwärtsbewegung. Bei uns dagegen hat das Gesetz vom 24. April 1890 viel ungünstigere Verhältnisse für Frauen und Jugendliche geschaffen, als es diejenigen waren, welche durch die Gesetze von 1882 und 1885 eingeführt wurden. Hierher gehören auch die zahlreichen Einschränkungen des Verbotes der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche. Das Gesetz vom 24. April gestattet diesen Personen die Nachtarbeit in „besonders wichtigen Fällen“. Diese Einschränkungen gewähren der Frauen- und Kinderarbeit so viel Raum, dass nur ein kleiner Teil von diesen sich in solchen Verhältnissen befinden kann, in denen dem Buchstaben des Gesetzes gemäß, die Nachtarbeit ihnen verboten wäre. Wir wollen auch die ungünstige Änderung, die das Gesetz von 1890 für die Manufakturen und Fabriken, in denen die Bestimmungen über die ununterbrochene i8stündige Arbeitszeit zu zwei Arbeitsschichten in Kraft getreten sind, eingeführt hat, hier verzeichnen. In solchen Etablissements dürfen die Minderjährigen nunmehr nicht bloß 8 Stunden täglich, wie es nach dem Gesetze von 1882 bestimmt wurde, beschäftigt sein, sondern 9 Stunden; die Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche wird nicht von 9 Uhr abends bis 5 Uhr früh gerechnet, sondern von 10 bis 4. Somit wird der gesetzlich bestimmte Arbeitstag um 1 Stunde für die Minderjährigen und um 2 Stunden für Frauen und Jugendliche verlängert. Das Gesetz vom 8. Juni 1893, das das Regulativ der Beziehungen der Arbeitsgeber und der Arbeitnehmer ergänzt, ist ein fernerer und sehr bedeutender Schritt nach rückwärts. Der Paragraph 109 ist zu Ungunsten der Arbeiter umgestaltet worden. Nach der früheren Bestimmungen wurde der Arbeitsvertrag ungültig, wenn die Arbeit infolge eines Brandes, einer Überschwemmung, einer Dampfkesselexplosion und ähnlicher Unglücksfälle für eine „längere Zeit“ eingestellt werden musste. In der neuen Fassung des Gesetzes wird von der Auflösung des Vertrages durch die „Arbeitseinstellung auf mehr als 7 Tage“ infolge eines Unglücksfalles gesprochen. Das Gesetz hat offenbar ursprünglich eine längere Frist als die von 7 Tagen im Auge gehabt, da es keine näheren Angaben über die zur Auflösung des Kontrakts erforderliche Dauer der Arbeitseinstellung enthielt. Man muss noch bemerken, dass der Paragraph 109 in seiner neuen Redaktion mit sich selbst im Widerspruche steht. Ein Brand, eine Überschwemmung, eine Dampfkesselexplosion fügen den Fabrikgebäuden einen so großen Schaden zu, dass von einer Reparierung im Laufe eines Monats keine Rede sein kann, geschweige denn in einer Woche. Der Paragraph 109 in der alten Redaktion hatte auch nur solche Brände, Überschwemmungen und Explosionen gemeint, die die Arbeit für eine längere Zeit unmöglich machen, dem Eigentümer großen Schaden zufügen und deshalb die Auflösung des Arbeitsvertrages rechtfertigen. In seiner neuen Fassung hätte der Paragraph überhaupt von Unglücksfällen nichts erwähnen sollen, da er von solchen leicht reparablen Beschädigungen spricht. Denn in diesem Falle wäre der Brand, von dem im Gesetz die Rede ist, ein solcher, der bloß einen kleinen Teil des Fabrikgebäudes tangieren würde, oder die Überschwemmung hieße bloß eine kleine Beschädigung des Fabrikdamms durch einen Wasserschwall. Die neue Fassung des Gesetzesparagraphen kann nur zur Verschlechterung der Arbeiterlage führen, denn sobald der Arbeitslohn die Tendenz des Sinkens aufweisen wird, werden auch die Fabrikbesitzer den geringsten Brand oder die unbedeutendste Überschwemmung benützen, um die Arbeit behufs Reparatur der Beschädigungen einzustellen, den Arbeitsvertrag zu brechen, und dann die Arbeiter für einen billigeren Lohn wieder aufzunehmen. Im §110 finden wir auch eine für die Arbeiter sehr schwere, neuhinzugefügte Bestimmung. Es heißt nämlich, dass der Arbeitsvertrag vom Leiter der Fabrik oder der Manufaktur gelöst werden könne „infolge des Ausbleibens des Arbeiters zwei Wochen hindurch aus triftigen Gründen“. Betrachten wir nun die Umstände, die als „triftige Gründe“ gelten können, bedenken wir, dass die Ursachen des Ausbleibens des Arbeiters eine schwere Krankheit, der Tod der Frau oder der Kinder in der Fremde, was mit einer längeren Abwesenheit verbunden ist, ein Brand, der die ganze Wirtschaft des Fabrikarbeiters ruinierte, sein können, bedenken wir ferner, dass die Regierung eine mehrere Monate dauernde Krankheit eines Beamten keineswegs als Grund zur Entlassung betrachtet, und wir werden uns dann überzeugen, dass der §110, in seiner neuen Fassung, allzu streng gegen die Fabrikarbeiter ist. Die neue Redaktion des § 145 bestimmt präziser die Strafen, denen die Arbeiter für „Versäumnisse“ unterliegen. Früher durfte diese Strafe den dreitägigen Lohn des Arbeiters nicht übersteigen, wobei es nicht genau bestimmt war, wie oft eigentlich der Fabrikbesitzer diese Strafe in dem angegebenen Umfange auferlegen könne. Nach dem buchstäblichen Sinne des § 145 war es nicht ausgeschlossen, dass diese Strafe zweimal wöchentlich auferlegt werde, wenn der Arbeiter zweimal im Laufe der Woche sich ein Versäumnis zu schulden kommen ließe. Die neuen Vorschriften präzisieren die Summe, die den sechstägigen Lohn, als das Höchstmaß der Strafgebühr im Laufe eines Monats, nicht übersteigen darf. Die neuen Vorschriften mildern die Strafe, die den Leitern der Fabriken und Manufakturen nach dem § 1359 des Strafkodex drohte, falls diese durch ihre gesetzwidrige Handlungen (Trucksystem, willkürliche Lohnreduzierung) einen Arbeiterausstand heraufbeschworen, der durch außerordentliche Maßnahmen unterdrückt werden musste. Früher unterlagen sie einer Arreststrafe bis zu 3 Monaten und konnten für immer das Recht verlieren, eine Fabrik oder ein Gewerbeetablissement zu leiten; jetzt kann ihnen dieses Recht nur für 2 Jahre entzogen werden. Es ist ja eine empfindliche Strafe, aber andrerseits ist zu bedenken, dass Arbeiterausstände, die durch außerordentliche Maßnahmen, wie durch die Militärgewalt usw., unterdrückt wurden. Tote und Verwundete zur Folge haben; dass die Verurteilung der Rädelsführer der Unruhen zur Zwangsarbeit für viele von den Beteiligten den gänzlichen Ruin bedeuten. Wenn wir nun die Schuld dieser Leute mit der des Leiters, der durch sein gesetzwidriges und oft unmenschliches Vorgehen die Unruhen provoziert hat, vergleichen, so werden wir der früheren Redaktion des § 1359 den Vorzug geben. Die Schuld des Fabrikleiters kann manchmal so groß und die Folgen der Unruhen können so schwerwiegend sein, dass die Entziehung des Rechtes, jemals wieder eine Fabrik oder eine Manufaktur zu leiten, vollkommen gerechtfertigt erscheint. Die Gesetzesparagraphen zählen die Personen und die Behörden auf, an die sich die Inspektion und die lokale Schulbehörde wenden müssen, um die Eröffnung neuer Schulen für jugendliche Arbeiter oder die Akkommodierung der bereits existierenden zu erwirken; aber das Gesetz verpflichtet niemand, derartige Schulen zu gründen. Gar vieles ist dort erwünscht, aber nichts ist vorgeschrieben.
Die russischen Fabrikgesetze litten auch früher, wie Prof. Issajew sagt, an der unzureichenden Zahl des Personals der Fabrikinspektion, — es gab deren 34 für das ganze europäische Russland. Auf jeden Beamten der Fabrikinspektion entfielen 1112 — 1465 Fabriken, außer den kleineren Betrieben. Bei der schlechten Einrichtung des Verkehrs in Russland kann ein Mensch unmöglich mehr als 200 — 240 Etablissements jährlich inspizieren. Das Gesetz vom 24. April 1890 schreibt vor, die Regeln betreffend die Arbeit und den Unterricht der Minderjährigen auch auf die Betriebe der Handwerker auszudehnen. Aber diese Gesetzesbestimmung bleibt ein toter Buchstabe, und zwar schon aus dem Grunde, weil die Fabrikinspektoren nicht einmal die großen Betriebe genau beobachten können. Mit der Vergrößerung der Zahl der Fabrikinspektoren wird die wirkliche Kontrolle über die Beachtung der Fabrikgesetze viel wirksamer sein, als sie es bisher war.
Durch das Gesetz vom 2. Juni und den Erlaß des Finanzministers vom 20. September 1897 ist die längste Dauer des Arbeitstages an Wochentagen auf 11 ½ St., am Samstag und am Vorabende der hohen Feiertage auf 10 St. festgesetzt worden. Wenn die Arbeiter auch zuweilen des Nachts beschäftigt sind, so darf ihre Arbeitszeit nicht 10 St. täglich überschreiten. Bei 18stündiger Arbeit des Etablissements, bei zwei Arbeitsschichten, kann die Zahl der Arbeitsstunden bis zu 12 erhöht werden, jedoch mit der Bedingung, dass durchschnittlich nach der zweiwöchentlichen Abrechnung die Arbeitszeit eines jeden Arbeiters nicht mehr als 9 Stunden täglich betrage. Für Arbeiter, deren Arbeit keine Unterbrechungen zuläßt, sind Ausnahmen gemacht worden, jedoch darf die Zahl der Arbeitsstunden in zwei aufeinanderfolgenden Tagen nicht größer als 24 sein. Diese Gesetzesvorschriften werden durch zwei Ministerverordnungen entkräftet. Am 14. März 1898 gestattete das Finanzministerium den Fabrikleitern, mit den Arbeitern, unabhängig vom Arbeitsvertrag, Übereinkommen betreffs der Sonntagsarbeit zu treffen. Die zweite Verordnung des Ministeriums (vom 2. Juni 1903) behandelt die Produktion der unobligaten Extraarbeiten. Wenn diese sämtlichen Arbeitern des Etablissements oder einer großen Zahl von ihnen aufgetragen werden, dann muss eine spezielle Erlaubnis der Fabrik- und Bergwerkbehörde eingeholt werden, die auch nur in seltenen Fällen erfolgt. Wenn aber diese Extraarbeiten einzelnen Arbeitern oder einer kleinen Zahl aufgetragen werden, so kann der Fabrikleiter ohne weiteres an die Arbeit gehen, wobei er jedoch sofort dem Fabrikinspektor Bericht darüber erstatten muss. Die erste Verordnung bedeutet bei dem niedrigen Arbeitslohn in Russland eine Erleichterung der Vertragschließung für die Sonntagsarbeit. Die Sonntagsarbeit vergrößert zwar den Verdienst der Arbeiter, führt aber im Endresultate zu einer Reduktion des Arbeitslohnes. Wenn der Arbeiter bei Wahrung der Sonntagsruhe 300 Rubel jährlich verdient, so wird ein Jahresverdienst von 75 Rubel für die Sonntagsarbeit die erste Ziffer auf 275 reduzieren, d. h. seine normale Werktagsarbeit entwerten. Das Jahreseinkommen der Familie wird durch die Sonntagsarbeit um 50 Rubel größer, wird aber durch einen teuren Preis erkauft, nämlich durch den Verlust der freien Zeit, die der Arbeiter zur Erholung und Selbstbildung nötig hat. Die zweite Verordnung spricht von einer „geringen“ Arbeiterzahl. Dieses Wort läßt eine sehr dehnbare Deutung zu. Man kann ja immer darauf bestehen, dass 20 — 25% der Gesamtzahl der Arbeiter einen geringen Bruchteil des Ganzen bilden. Und dieser Bruchteil macht in den größten Etablissements Russlands 200 — 500 Menschen oder noch mehr aus.
Das Versicherungswesen ist in Russland bloß in vereinzelten Industriebranchen bekannt. Die Arbeiter lassen sich gegen Unfall versichern in den Handels- und Assekuranzgesellschaften, die von den Industriellen selbst in Riga, Odessa, Iwanowo-Wosnessensk errichtet worden sind. Die Gesetze vom 15. Mai 1901 und 2. Juni 1903 werden die weitere Entwicklung dieses Geschäftszweiges fördern. Das erstere von diesen Gesetzen erstreckt sich auf die Arbeiter der Staatsbergwerke und -Gruben. Laut den Bestimmungen dieses Gesetzes erhalten die Arbeiter, die ihre Arbeitsfähigkeit in dem Montanwerk infolge einer Verletzung oder sonstiger körperlicher Beschädigung verloren haben, Pension aus der Staatskasse. Im Todesfalle der betreffenden Arbeiter wird die Pension ihren resp. Familien ausgezahlt. Die Höhe der Pension wird nach dem durchschnittlichen Jahresgehalt der Beschädigten bemessen. Falls nach der Verletzung oder der Krankheit vollständige Arbeitsunfähigkeit erfolgte, wurde die Pension auf 2/3 des Gehaltes festgesetzt. Das Gesetz vom 2. Juni 1903 bestimmt die Verantwortlichkeit der Unternehmer der Fabrik-, Manufakturen- und Bergwerkindustrien. Im Falle der Einbuße der Arbeitsfähigkeit für mehr als 3 Tage seitens des Arbeiters, ungeachtet des Alters und des Geschlechtes, durch eine körperliche Beschädigung während der Arbeit, muss der Arbeitgeber Schadenersatz zahlen. Wenn nach dem Unglücksfall der Tod des Arbeiters eintrat, so haben die Mitglieder seiner Familie Anspruch auf Schadenersatz. Der Eigentümer eines Unternehmens ist nur dann der Pflicht enthoben, die Arbeiter und deren Familien zu entschädigen, wenn er nachweisen kann, dass die Ursache des Unglücksfalles eine böse Absicht oder eine grobe Unvorsichtigkeit des Beschädigten war, die durch die Arbeitsbedingungen absolut nicht gerechtfertigt werden konnte. Das Gesetz erklärt alle Verträge, die vor dem Unglücksfalle abgeschlossen waren und zur Einschränkung der Rechte der Arbeiter tendierten, für ungültig und anerkennt bloß zwei Entschädigungsformen: Unterstützung und Pension. Erstere wird vom Tage des Unglücksfalles bis zum Tage der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, letztere im Falle des vollständigen Verlustes der Arbeitsfähigkeit festgesetzt. Wenn der Arbeiter jede Arbeitsmöglichkeit überhaupt verloren hat, so wird ihm eine Pension im Ausmaße von 2/3 seines Jahreseinkommens ausgezahlt. Außer der Unterstützung oder der Pension muss der Arbeitgeber dem Beschädigten auch die Heilungskosten ersetzen. Im Falle des Todes des verunglückten Arbeiters muss der Arbeitgeber die Begräbniskosten tragen und Pension zahlen. Auf Pension haben Anspruch die Witwe, die Kinder — die ehelichen, wie die unehelichen — gleichfalls die Verwandten in der aszendenten oder deszendenten Linie, die Brüder und Schwestern, wenn sie vom Verstorbenen ernährt waren. Alle diese Rechte genießen auch die Techniker, Meister, Unternehmungsleiter, wenn ihr Jahresgehalt nicht höher als 1.500 Rubel war. Das Gesetz dehnt die Wirksamkeit dieser Bestimmungen auch auf die Unternehmungen der Semstwos und der Munizipien aus. Das hier erörterte Gesetz wird eine große Bedeutung erlangen, wenn die einheitliche Ordnung in allen Unternehmungen der Staatsbehörden, der Eisenbahnund Schiffahrtsgesellschaften und in der Landwirtschaft eingeführt werden wird. Die Statistik der Unglücksfälle weist hinlänglich darauf hin, wie notwendig ein im modernen, nicht bureaukratischen Sinne verfaßtes Versicherungsgesetz wäre. Trotz der primitiven Zustandes dieser offiziellen Statistik, die erst jüngsten Datums ist, hat sie in der der Fabrikinspektion unterstehenden Industrie für das Jahr 1901: 27.135 Unglücksfälle, in der Gruben- und Bergwerkindustrie (1899) 13.321 Fälle ermittelt, ohne einige Manufakturen mitzurechnen, die in die Verwaltungssphäre des Finanzministeriums übergingen und die bloß in den zwei Etablissements, dem Putilowschen und dem Newaer, im Laufe des Jahres 1898: 7.693 Unglücksfälle aufweisen konnten. Das sind die Daten der offiziellen Statistik. In der Wirklichkeit aber beträgt die Zahl der jährlichen Unglücksfälle mindestens 150.000.
*) Es hat sich durch das deutsche Buch von Rosenberg über die russische Gesetzgebung in Westeuropa eine falsche übertriebene Meinung gebildet, die jedoch von Sachkennern, wie P. Struve und A. Issajew, widerlegt worden ist.
In Westeuropa bietet uns die Fabrikgesetzgebung das Bild einer unaufhörlichen Vorwärtsbewegung. Bei uns dagegen hat das Gesetz vom 24. April 1890 viel ungünstigere Verhältnisse für Frauen und Jugendliche geschaffen, als es diejenigen waren, welche durch die Gesetze von 1882 und 1885 eingeführt wurden. Hierher gehören auch die zahlreichen Einschränkungen des Verbotes der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche. Das Gesetz vom 24. April gestattet diesen Personen die Nachtarbeit in „besonders wichtigen Fällen“. Diese Einschränkungen gewähren der Frauen- und Kinderarbeit so viel Raum, dass nur ein kleiner Teil von diesen sich in solchen Verhältnissen befinden kann, in denen dem Buchstaben des Gesetzes gemäß, die Nachtarbeit ihnen verboten wäre. Wir wollen auch die ungünstige Änderung, die das Gesetz von 1890 für die Manufakturen und Fabriken, in denen die Bestimmungen über die ununterbrochene i8stündige Arbeitszeit zu zwei Arbeitsschichten in Kraft getreten sind, eingeführt hat, hier verzeichnen. In solchen Etablissements dürfen die Minderjährigen nunmehr nicht bloß 8 Stunden täglich, wie es nach dem Gesetze von 1882 bestimmt wurde, beschäftigt sein, sondern 9 Stunden; die Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche wird nicht von 9 Uhr abends bis 5 Uhr früh gerechnet, sondern von 10 bis 4. Somit wird der gesetzlich bestimmte Arbeitstag um 1 Stunde für die Minderjährigen und um 2 Stunden für Frauen und Jugendliche verlängert. Das Gesetz vom 8. Juni 1893, das das Regulativ der Beziehungen der Arbeitsgeber und der Arbeitnehmer ergänzt, ist ein fernerer und sehr bedeutender Schritt nach rückwärts. Der Paragraph 109 ist zu Ungunsten der Arbeiter umgestaltet worden. Nach der früheren Bestimmungen wurde der Arbeitsvertrag ungültig, wenn die Arbeit infolge eines Brandes, einer Überschwemmung, einer Dampfkesselexplosion und ähnlicher Unglücksfälle für eine „längere Zeit“ eingestellt werden musste. In der neuen Fassung des Gesetzes wird von der Auflösung des Vertrages durch die „Arbeitseinstellung auf mehr als 7 Tage“ infolge eines Unglücksfalles gesprochen. Das Gesetz hat offenbar ursprünglich eine längere Frist als die von 7 Tagen im Auge gehabt, da es keine näheren Angaben über die zur Auflösung des Kontrakts erforderliche Dauer der Arbeitseinstellung enthielt. Man muss noch bemerken, dass der Paragraph 109 in seiner neuen Redaktion mit sich selbst im Widerspruche steht. Ein Brand, eine Überschwemmung, eine Dampfkesselexplosion fügen den Fabrikgebäuden einen so großen Schaden zu, dass von einer Reparierung im Laufe eines Monats keine Rede sein kann, geschweige denn in einer Woche. Der Paragraph 109 in der alten Redaktion hatte auch nur solche Brände, Überschwemmungen und Explosionen gemeint, die die Arbeit für eine längere Zeit unmöglich machen, dem Eigentümer großen Schaden zufügen und deshalb die Auflösung des Arbeitsvertrages rechtfertigen. In seiner neuen Fassung hätte der Paragraph überhaupt von Unglücksfällen nichts erwähnen sollen, da er von solchen leicht reparablen Beschädigungen spricht. Denn in diesem Falle wäre der Brand, von dem im Gesetz die Rede ist, ein solcher, der bloß einen kleinen Teil des Fabrikgebäudes tangieren würde, oder die Überschwemmung hieße bloß eine kleine Beschädigung des Fabrikdamms durch einen Wasserschwall. Die neue Fassung des Gesetzesparagraphen kann nur zur Verschlechterung der Arbeiterlage führen, denn sobald der Arbeitslohn die Tendenz des Sinkens aufweisen wird, werden auch die Fabrikbesitzer den geringsten Brand oder die unbedeutendste Überschwemmung benützen, um die Arbeit behufs Reparatur der Beschädigungen einzustellen, den Arbeitsvertrag zu brechen, und dann die Arbeiter für einen billigeren Lohn wieder aufzunehmen. Im §110 finden wir auch eine für die Arbeiter sehr schwere, neuhinzugefügte Bestimmung. Es heißt nämlich, dass der Arbeitsvertrag vom Leiter der Fabrik oder der Manufaktur gelöst werden könne „infolge des Ausbleibens des Arbeiters zwei Wochen hindurch aus triftigen Gründen“. Betrachten wir nun die Umstände, die als „triftige Gründe“ gelten können, bedenken wir, dass die Ursachen des Ausbleibens des Arbeiters eine schwere Krankheit, der Tod der Frau oder der Kinder in der Fremde, was mit einer längeren Abwesenheit verbunden ist, ein Brand, der die ganze Wirtschaft des Fabrikarbeiters ruinierte, sein können, bedenken wir ferner, dass die Regierung eine mehrere Monate dauernde Krankheit eines Beamten keineswegs als Grund zur Entlassung betrachtet, und wir werden uns dann überzeugen, dass der §110, in seiner neuen Fassung, allzu streng gegen die Fabrikarbeiter ist. Die neue Redaktion des § 145 bestimmt präziser die Strafen, denen die Arbeiter für „Versäumnisse“ unterliegen. Früher durfte diese Strafe den dreitägigen Lohn des Arbeiters nicht übersteigen, wobei es nicht genau bestimmt war, wie oft eigentlich der Fabrikbesitzer diese Strafe in dem angegebenen Umfange auferlegen könne. Nach dem buchstäblichen Sinne des § 145 war es nicht ausgeschlossen, dass diese Strafe zweimal wöchentlich auferlegt werde, wenn der Arbeiter zweimal im Laufe der Woche sich ein Versäumnis zu schulden kommen ließe. Die neuen Vorschriften präzisieren die Summe, die den sechstägigen Lohn, als das Höchstmaß der Strafgebühr im Laufe eines Monats, nicht übersteigen darf. Die neuen Vorschriften mildern die Strafe, die den Leitern der Fabriken und Manufakturen nach dem § 1359 des Strafkodex drohte, falls diese durch ihre gesetzwidrige Handlungen (Trucksystem, willkürliche Lohnreduzierung) einen Arbeiterausstand heraufbeschworen, der durch außerordentliche Maßnahmen unterdrückt werden musste. Früher unterlagen sie einer Arreststrafe bis zu 3 Monaten und konnten für immer das Recht verlieren, eine Fabrik oder ein Gewerbeetablissement zu leiten; jetzt kann ihnen dieses Recht nur für 2 Jahre entzogen werden. Es ist ja eine empfindliche Strafe, aber andrerseits ist zu bedenken, dass Arbeiterausstände, die durch außerordentliche Maßnahmen, wie durch die Militärgewalt usw., unterdrückt wurden. Tote und Verwundete zur Folge haben; dass die Verurteilung der Rädelsführer der Unruhen zur Zwangsarbeit für viele von den Beteiligten den gänzlichen Ruin bedeuten. Wenn wir nun die Schuld dieser Leute mit der des Leiters, der durch sein gesetzwidriges und oft unmenschliches Vorgehen die Unruhen provoziert hat, vergleichen, so werden wir der früheren Redaktion des § 1359 den Vorzug geben. Die Schuld des Fabrikleiters kann manchmal so groß und die Folgen der Unruhen können so schwerwiegend sein, dass die Entziehung des Rechtes, jemals wieder eine Fabrik oder eine Manufaktur zu leiten, vollkommen gerechtfertigt erscheint. Die Gesetzesparagraphen zählen die Personen und die Behörden auf, an die sich die Inspektion und die lokale Schulbehörde wenden müssen, um die Eröffnung neuer Schulen für jugendliche Arbeiter oder die Akkommodierung der bereits existierenden zu erwirken; aber das Gesetz verpflichtet niemand, derartige Schulen zu gründen. Gar vieles ist dort erwünscht, aber nichts ist vorgeschrieben.
Die russischen Fabrikgesetze litten auch früher, wie Prof. Issajew sagt, an der unzureichenden Zahl des Personals der Fabrikinspektion, — es gab deren 34 für das ganze europäische Russland. Auf jeden Beamten der Fabrikinspektion entfielen 1112 — 1465 Fabriken, außer den kleineren Betrieben. Bei der schlechten Einrichtung des Verkehrs in Russland kann ein Mensch unmöglich mehr als 200 — 240 Etablissements jährlich inspizieren. Das Gesetz vom 24. April 1890 schreibt vor, die Regeln betreffend die Arbeit und den Unterricht der Minderjährigen auch auf die Betriebe der Handwerker auszudehnen. Aber diese Gesetzesbestimmung bleibt ein toter Buchstabe, und zwar schon aus dem Grunde, weil die Fabrikinspektoren nicht einmal die großen Betriebe genau beobachten können. Mit der Vergrößerung der Zahl der Fabrikinspektoren wird die wirkliche Kontrolle über die Beachtung der Fabrikgesetze viel wirksamer sein, als sie es bisher war.
Durch das Gesetz vom 2. Juni und den Erlaß des Finanzministers vom 20. September 1897 ist die längste Dauer des Arbeitstages an Wochentagen auf 11 ½ St., am Samstag und am Vorabende der hohen Feiertage auf 10 St. festgesetzt worden. Wenn die Arbeiter auch zuweilen des Nachts beschäftigt sind, so darf ihre Arbeitszeit nicht 10 St. täglich überschreiten. Bei 18stündiger Arbeit des Etablissements, bei zwei Arbeitsschichten, kann die Zahl der Arbeitsstunden bis zu 12 erhöht werden, jedoch mit der Bedingung, dass durchschnittlich nach der zweiwöchentlichen Abrechnung die Arbeitszeit eines jeden Arbeiters nicht mehr als 9 Stunden täglich betrage. Für Arbeiter, deren Arbeit keine Unterbrechungen zuläßt, sind Ausnahmen gemacht worden, jedoch darf die Zahl der Arbeitsstunden in zwei aufeinanderfolgenden Tagen nicht größer als 24 sein. Diese Gesetzesvorschriften werden durch zwei Ministerverordnungen entkräftet. Am 14. März 1898 gestattete das Finanzministerium den Fabrikleitern, mit den Arbeitern, unabhängig vom Arbeitsvertrag, Übereinkommen betreffs der Sonntagsarbeit zu treffen. Die zweite Verordnung des Ministeriums (vom 2. Juni 1903) behandelt die Produktion der unobligaten Extraarbeiten. Wenn diese sämtlichen Arbeitern des Etablissements oder einer großen Zahl von ihnen aufgetragen werden, dann muss eine spezielle Erlaubnis der Fabrik- und Bergwerkbehörde eingeholt werden, die auch nur in seltenen Fällen erfolgt. Wenn aber diese Extraarbeiten einzelnen Arbeitern oder einer kleinen Zahl aufgetragen werden, so kann der Fabrikleiter ohne weiteres an die Arbeit gehen, wobei er jedoch sofort dem Fabrikinspektor Bericht darüber erstatten muss. Die erste Verordnung bedeutet bei dem niedrigen Arbeitslohn in Russland eine Erleichterung der Vertragschließung für die Sonntagsarbeit. Die Sonntagsarbeit vergrößert zwar den Verdienst der Arbeiter, führt aber im Endresultate zu einer Reduktion des Arbeitslohnes. Wenn der Arbeiter bei Wahrung der Sonntagsruhe 300 Rubel jährlich verdient, so wird ein Jahresverdienst von 75 Rubel für die Sonntagsarbeit die erste Ziffer auf 275 reduzieren, d. h. seine normale Werktagsarbeit entwerten. Das Jahreseinkommen der Familie wird durch die Sonntagsarbeit um 50 Rubel größer, wird aber durch einen teuren Preis erkauft, nämlich durch den Verlust der freien Zeit, die der Arbeiter zur Erholung und Selbstbildung nötig hat. Die zweite Verordnung spricht von einer „geringen“ Arbeiterzahl. Dieses Wort läßt eine sehr dehnbare Deutung zu. Man kann ja immer darauf bestehen, dass 20 — 25% der Gesamtzahl der Arbeiter einen geringen Bruchteil des Ganzen bilden. Und dieser Bruchteil macht in den größten Etablissements Russlands 200 — 500 Menschen oder noch mehr aus.
Das Versicherungswesen ist in Russland bloß in vereinzelten Industriebranchen bekannt. Die Arbeiter lassen sich gegen Unfall versichern in den Handels- und Assekuranzgesellschaften, die von den Industriellen selbst in Riga, Odessa, Iwanowo-Wosnessensk errichtet worden sind. Die Gesetze vom 15. Mai 1901 und 2. Juni 1903 werden die weitere Entwicklung dieses Geschäftszweiges fördern. Das erstere von diesen Gesetzen erstreckt sich auf die Arbeiter der Staatsbergwerke und -Gruben. Laut den Bestimmungen dieses Gesetzes erhalten die Arbeiter, die ihre Arbeitsfähigkeit in dem Montanwerk infolge einer Verletzung oder sonstiger körperlicher Beschädigung verloren haben, Pension aus der Staatskasse. Im Todesfalle der betreffenden Arbeiter wird die Pension ihren resp. Familien ausgezahlt. Die Höhe der Pension wird nach dem durchschnittlichen Jahresgehalt der Beschädigten bemessen. Falls nach der Verletzung oder der Krankheit vollständige Arbeitsunfähigkeit erfolgte, wurde die Pension auf 2/3 des Gehaltes festgesetzt. Das Gesetz vom 2. Juni 1903 bestimmt die Verantwortlichkeit der Unternehmer der Fabrik-, Manufakturen- und Bergwerkindustrien. Im Falle der Einbuße der Arbeitsfähigkeit für mehr als 3 Tage seitens des Arbeiters, ungeachtet des Alters und des Geschlechtes, durch eine körperliche Beschädigung während der Arbeit, muss der Arbeitgeber Schadenersatz zahlen. Wenn nach dem Unglücksfall der Tod des Arbeiters eintrat, so haben die Mitglieder seiner Familie Anspruch auf Schadenersatz. Der Eigentümer eines Unternehmens ist nur dann der Pflicht enthoben, die Arbeiter und deren Familien zu entschädigen, wenn er nachweisen kann, dass die Ursache des Unglücksfalles eine böse Absicht oder eine grobe Unvorsichtigkeit des Beschädigten war, die durch die Arbeitsbedingungen absolut nicht gerechtfertigt werden konnte. Das Gesetz erklärt alle Verträge, die vor dem Unglücksfalle abgeschlossen waren und zur Einschränkung der Rechte der Arbeiter tendierten, für ungültig und anerkennt bloß zwei Entschädigungsformen: Unterstützung und Pension. Erstere wird vom Tage des Unglücksfalles bis zum Tage der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, letztere im Falle des vollständigen Verlustes der Arbeitsfähigkeit festgesetzt. Wenn der Arbeiter jede Arbeitsmöglichkeit überhaupt verloren hat, so wird ihm eine Pension im Ausmaße von 2/3 seines Jahreseinkommens ausgezahlt. Außer der Unterstützung oder der Pension muss der Arbeitgeber dem Beschädigten auch die Heilungskosten ersetzen. Im Falle des Todes des verunglückten Arbeiters muss der Arbeitgeber die Begräbniskosten tragen und Pension zahlen. Auf Pension haben Anspruch die Witwe, die Kinder — die ehelichen, wie die unehelichen — gleichfalls die Verwandten in der aszendenten oder deszendenten Linie, die Brüder und Schwestern, wenn sie vom Verstorbenen ernährt waren. Alle diese Rechte genießen auch die Techniker, Meister, Unternehmungsleiter, wenn ihr Jahresgehalt nicht höher als 1.500 Rubel war. Das Gesetz dehnt die Wirksamkeit dieser Bestimmungen auch auf die Unternehmungen der Semstwos und der Munizipien aus. Das hier erörterte Gesetz wird eine große Bedeutung erlangen, wenn die einheitliche Ordnung in allen Unternehmungen der Staatsbehörden, der Eisenbahnund Schiffahrtsgesellschaften und in der Landwirtschaft eingeführt werden wird. Die Statistik der Unglücksfälle weist hinlänglich darauf hin, wie notwendig ein im modernen, nicht bureaukratischen Sinne verfaßtes Versicherungsgesetz wäre. Trotz der primitiven Zustandes dieser offiziellen Statistik, die erst jüngsten Datums ist, hat sie in der der Fabrikinspektion unterstehenden Industrie für das Jahr 1901: 27.135 Unglücksfälle, in der Gruben- und Bergwerkindustrie (1899) 13.321 Fälle ermittelt, ohne einige Manufakturen mitzurechnen, die in die Verwaltungssphäre des Finanzministeriums übergingen und die bloß in den zwei Etablissements, dem Putilowschen und dem Newaer, im Laufe des Jahres 1898: 7.693 Unglücksfälle aufweisen konnten. Das sind die Daten der offiziellen Statistik. In der Wirklichkeit aber beträgt die Zahl der jährlichen Unglücksfälle mindestens 150.000.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Arbeiterfrage