Abschnitt 6

Es ist ein Hauptreiz von Neustrelitz, dass der Freund stiller Naturschönheit, auch wenn er die weiten Wege in die Umgegend mit ihren Wäldern und Landseen scheut, in der Schlosskoppel und im Tiergarten ganz in der Nähe lockende Waldeinsamkeit finden kann. Ein schönes, großes Gittertor, gerade gegenüber dem alten Mittelbau des Schlosses, führt in den letzteren. Auf den gemauerten Pfeilern zu beiden Seiten des Einganges ruhen zwei mächtige Hirsche in Bronze, von Rauchs Meisterhand gebildet. Auf hügeligem Gelände zieht sich das eingehegte Wäldchen mit seinem gemischten Bestande von alten Eichen, Buchen und Kiefern dicht hinter den Häusern und Gärten der Stadt hin. Es ist wohl noch der letzte Rest des alten Waldes, der einst die Stätte, auf der Neustrelitz steht, ringsum bedeckte. Abgesehen von einigen alten Eichen wird freilich auch hier kein Baum mehr stehen, der die Axtschläge der ersten Rodung hörte oder gar das Getümmel der großen Wendenschlacht, die einst auf der Stelle der heutigen Stadt tobte. Viel umstritten, waren diese Landstriche bald in märkischem, bald in pommerschem, bald in mecklenburgischem Besitz und lange noch, nachdem „da draußen im Reich“, wie der partikularistische Mecklenburger zu sagen pflegte, Städte erblühten, Handel und Wandel, Gelehrsamkeit und Kunst ihre Stätte gefunden hatten, hauste hier der Leutizierstamm der wendischen Redarier, diente seinen heidnischen Götzen und wehrte sich zäh gegen die deutschen Eindringlinge von Süden, Westen und Osten her. Wahrscheinlich stand hier eine jener alten Wendenfesten, deren Spuren man da und dort im Lande begegnet. Noch bis zum Jahre 1720 gab es auf dem Schlosshügel einige Häuser und eine Meierei, die den Namen Glieneke führte, der wahrscheinlich identisch mit Lienke ist. Als Kaiser Heinrich der Vogler 927 das Markgrafentum Brandenburg gründete, verbündeten sich die noch freien Stämme der Ucharen (Uckermärker) und der Redarier zum Widerstand gegen ihn. Herzog Bernhard von Sachsen und Markgraf Dittmar zogen gegen die feste Burg Lienke zu Felde, die ein Hauptstützpunkt der Wenden war. Nach fünftägiger vergeblicher Belagerung gerieten die Deutschen in große Bedrängnis, denn ein zahlreiches Heer eilte zum Entsatz herbei, aber nach tapferem Kampfe erlitten die Heiden eine furchtbare Niederlage. Was dem Schwerte entrann, wurde in den nahen See getrieben. Lienke aber wurde bis auf den Grund zerstört.

Festes Mauerwerk, die Fundamente eines großen, runden Turmes, ein breiter Graben, den man bei Gründung der Stadt fand, und die für eine feste Burg so günstige Lage, umgeben von Seen und Morästen, lassen es sehr glaubhaft erscheinen, dass dieser heiße Kampf zwischen Christenglauben und Heidentum, zwischen Deutschen und Wenden hier stattgefunden hat. Aber noch lange blieb das Land ringsum eine mit weiten Waldungen bedeckte, spärlich bevölkerte Einöde. Erst 1349 entstand die Stadt Strelitz, die Mutter von Neustrelitz, das, sozusagen, noch ein Kind unter den Städten ist.


Heute dringt kein Getöse von Kampf und Waffen, aber auch kein Straßenlärm, kein Surren von Fabrikrädern oder Keuchen von Dampfmaschinen in die Stille des Waldes, nur die Vogelwelt belebt mit ihren vielfältigen Stimmen und Stimmchen die grüne, sonnendurchzitterte Einsamkeit, die ich am liebsten an einem schönen Sommermorgen aufsuche, wenn noch die ganze unberührte Frische des jungen Tages über dem tauigen Gras und den kleinen blauen Glockenblumen zu meinen Füßen und oben über den leise rauschenden Kronen der Bäume liegt. Wie ich mich in die immer erfrischende Quelle der freien Gottesnatur versenke, dringt ein ferner, dumpfer Ton an mein Ohr. Ich muss lächeln, denn ich erkenne ihn sogleich, es ist die Rohrdommel (Botaurus), „de Rodum“, sagt der Mecklenburger, und Reuter erzählt in seinem ,,Durchläuchting“ sehr spaßhaft, wie das sonderbare, wenig bekannte Geräusch für Spuk gehalten wurde. An warmen Sommertagen klingt es geheimnisvoll herüber aus der Ferne, denn der schöne, selten gewordene Vogel haust in Sumpf und Röhricht und meidet die Nähe des Menschen.

Hier unter den alten Bäumen scheint mir die Zeit spurlos vorübergegangen, hier ist noch alles wie einst. Und dort, am Fuße eines kleinen Hügels, liegt hinter dem wohlbekannten Holzstaket ein Garten, der das Haus umgibt, das einst mein Elternhaus war. Das Ziegeldach, die helle Wand, ein Fenster schimmern durch die Bäume. Da ist es mir, als wenn alles, was zwischen dem Damals und dem Jetzt liegt, nur ein Traum gewesen sei, als müsse ich, wenn ich durch das Gartenpförtchen dort unten treten würde, wieder in der Welt meiner Jugend sein und würde alles so finden, wie es noch so farbig und lebhaft in meiner Erinnerung steht, von der schlanken, vornehmen Gestalt meines Vaters bis herab zu dem gelben Hündchen und zu dem blühenden Kirschbaume vor meinem Fenster. Lange stehe ich und blicke hinab auf die traute Stätte und denke der Lieben, die einst dort auf mich warteten.

Ein Geräusch lässt mich umblicken, ein Stück Damwild äugt aus dem Gebüsch neugierig zu mir herüber, und da und dort und weiterhin sind der weißen und bunt gefleckten Tiere noch mehr unter den Bäumen; ganz vertraut scheinen sie. Und im Weitergehen sehe ich das graue Türmchen durch die Stämme schimmern, das mir immer wie ein Hexenturm aus der Märchenwelt vorkam, in Wirklichkeit aber ein alter Pulverturm ist. Auch die Försterei mit den Teichen und dem Futterschuppen für das Wild fand ich wieder und hätte meinen Spaziergang noch lange ausdehnen können, wenn ich durch die untere Gitterpforte den Tiergarten verlassen und einen breiten Fahrweg durch die Wiesen verfolgt hätte, der zu einem anderen Walde, der so genannten Bürgerhorst, führt, wo alljährlich das originelle Vogelschießen mit Karussell und Buden für kurze Zeit buntes Leben in die Waldeinsamkeit zaubert. -

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg