Abschnitt 1

Wer nach Jahren an einen Ort zurückkehrt, der ihm einst Heimat war, wird sich schwerlich einer wehmütigen Empfindung erwehren können. Die Vergänglichkeit alles Irdischen, die Flüchtigkeit des eigenen Daseins drängt sich uns auf, indem uns die trauten Stätten, an denen wir jeden Baum, jeden Stein am Wege kannten, so verändert und fremd ans ehen, dass uns das Wort des Psalmisten: ,,und ihre Stätte kennet Sie nicht mehr“ handgreiflich entgegen tritt. In unserer Erinnerung bevölkerten wir diesen Ort immer noch mit den lieben Gestalten, die längst aus dem Leben geschieden sind. Wir konnten uns diese Umgebung gar nicht ohne sie denken. Jetzt aber sehen wir sie wie verödet. Fremde Gesichter scheinen uns verwundert anzusehen und zu fragen: „Was willst du hier noch?“ Und das Lied zieht durch unseren Sinn, in dem es heißt:

,,O wie liegt so weit, was mein,
Was mein, einst war.“


Ähnliche Eindrücke empfange ich, wenn ich wieder nach Neustrelitz komme, wo siebzehn Jahre lang mein Elternhaus stand. Darum muss ich um Entschuldigung bitten, wenn diese Stimmung bisweilen aus den Zeilen meiner Schilderung der trauten, alten Stätten spricht, die doch, besonders zur Sommerszeit, auf mich wie auf jeden Besucher einen eigenen stillen Zauber ausüben.

Ich erinnere mich noch wohl, dass man von Berlin aus nach Neustrelitz eine ganze Nacht hindurch mit der Schnellpost fuhr; an sich kein Vergnügen, aber für mich, die ich, zur Weihnachtszeit aus der Pension kommend, diese Reise machte, stets eine Quelle interessantester Freude. Heute braucht man 1 ½ Stunden mit der Eisenbahn.

In der Nähe des Bahnhofs, wo das neueste Neustrelitz seine Villen und stattlichen Häuserfronten erhebt, komme ich mir ganz fremd vor, aber wenn ich auf dem schräg abfallenden Marktplatz, der die obere Fläche des Stadthügels einnimmt, stehe, merke ich, dass die fünfzig Jahre, seit ich ihn kenne, ziemlich spurlos vorüber gegangen sind. Da steht noch oben die eigentümliche Stadtkirche, ein Fachwerkbau später von Schinkel entworfenen vierstöckigen Turm, dessen oberste Plattform mit einer Balustrade abschließt. Ein Chronist der Zopfzeit beschreibt das Innere des Gotteshauses wie folgt: „Die Kirche ist inwendig sehr geschmackvoll, hell und einförmig, größtenteils mit weißer Ölfarbe angestrichen und enthält zwei Stockwerke Chöre.“ Diesen Worten ist auch heute nichts hinzuzufügen, nur dass eine schöne Kopie nach dem berühmten Bilde von Raffael „Christus unter der Last seines Kreuzes erliegend“ jetzt den Schmuck der Kirche bildet. Sie stammt, wie viele Altarbilder im Strelitzer Lande, aus den geschickten Händen der talentvollen Großherzogin Marie geb. Prinzessin von Hessen-Kassel, Großmutter des jetzt regierenden Großherzogs.

Inmitten der gepflasterten Öde des weiten Platzes ist eine hübsche grüne Oase; Gruppen von Bäumen, Buschwerk und Springbrunnen umgeben die Statue Großherzog Georgs, des Gemahls der eben genannten Fürstin. Es ist ein treffliches Werk des Bildhauers Albert Wolf, eines Neustrelitzers von Geburt, der sich einst, wie viele seines gleichen, der Protektion des kunstsinnigen Herren erfreute. In einfacher bürgerlicher Kleidung mit segnender Gebärde ist der Großherzog dargestellt; und seine vierundvierzigjährige Regierung ist in der Tat für Stadt und Land Strelitz segensreich gewesen. Die Unterschrift auf dem Sockel gehört zu den wenigen ihresgleichen, die nicht lügen; sie lautet:

„Dem allgeliebten Landesvater
Seine dankbaren Untertanen.“

Auf dem Marktplatz sieht man sofort, dass man es hier mit keiner alten Stadt zu tun hat, vielmehr mit einer jener Anlagen, wie sie der absolute Fürstenwille des achtzehnten Jahrhunderts, da das Stadtgründen Mode war, entstehen ließ; Neustrelitz erhielt in der Tat erst 1733 das Stadtrecht.

Als in einer Herbstnacht, vom 24. auf den 25. Oktober, das Schloss in Altstrelitz binnen vier Stunden abbrannte, retteten der regierende Herzog Adolf Friedrich III. u nd seine Familie wenig mehr als das Leben. Da galt es einen Neubau. Der Grund und Boden in Altstrelitz war feucht und morastig, und die Bürger der Stadt weigerten sich, die nötigen Fuhren zu leisten; da gründete der Fürst seine neue Residenz, zwar nicht auf sieben Hügeln, wie die mächtige Roma, aber auf zwei Anhöhen, die sich, mit alten Eichen und Buchen bestanden, zwischen dem großen Zierker und dem kleinen Glambecker See erhoben. Auf der einen stand seit früheren Zeiten bei der Meierei Glieneke ein altes Wohngebäude, das der Herzog zu Jagdzwecken benutzt hatte. Ehedem hieß es das Komturherrenhaus; wahrscheinlich hatte es in irgendwelcher Verbindung mit der Johanniter-Komturei in Mirow oder Nemerow gestanden. Dies machte nun dem neuen Schlosse Platz. Aber dem Beispiele des französischen Ludwig und anderer großer Herren folgend, entwarf der Herzog für den anderen Hügel den Plan einer neuen Stadt. Vor mir liegt ein kleines vergilbtes Blatt. Es zeigt oben in großen, stark gedruckten Lettern, mit verzierten Anfangsbuchstaben, die Worte:

Von Gottes Gnaden
Adolph Friedrich
Herzog zu Mecklenburg, Fürst
zu Wenden, Schwerin und Ratzeburg
auch Graf zu Schwerin, der Lande
Rostock und Stargard
Herr usw.

und enthält auf zwölf Seiten die dreizehn Artikel der Gründung von Neustrelitz, in denen „die Conditiones für die daselbst Bauende“ festgestellt werden. Danach erhielten sie „erb- und eigenthümlich“ umsonst so viel Platz, als sie zum Wohnhaus, Stall, Hofraum und Garten brauchten, dazu das „benötigte“ Bauholz ebenfalls umsonst, sowie Kalk und Steine für den Preis, den die Arbeit bei der Anfertigung dieser Materialien gekostet hatte, auch Steuerfreiheit für zehn Jahre. Dann erst sollten sie verpflichtet sein, je nach der Größe des Hauses 1-2 Reichstaler (3-6 Mark) Grundsteuer zu entrichten. Vom 20. Mai 1733 ist das Schriftstück, das ein Abdruck der Urkunde zur bequemen Verbreitung ist, datiert.

Für 300-400 Reichstaler (etwa 9-1200 Mark) konnte schon „ein artiges mittelmäßiges Haus“ unter diesen Umständen erbaut werden.

Und wenn ich auf dem Marktplatze stehe, kann ich heute noch die acht Strahlen des Sternes, als der Neustrelitz am Städtehimmel aufging, in den acht Haupt-Straßen verfolgen, wie denn der ganze Ort noch von jener stillen und unbewegten Atmosphäre der Zopfzeit umwoben erscheint. Vom Markt aus sieht man nichts von den neuen Straßenanlagen, den modernen Häusern, Schaufenstern und Villen, die sich vom Bahnhofe her in das ältere Städtchen eingeschoben haben und den Stern Sr. Durchlaucht Adolf Friedrich III. mit der Dreistigkeit des zwanzigsten Jahrhunderts durchschneiden. Hier oben ist man noch loyal und still. Hier blicken uns die alten großen Häuser mit ihren nüchternen, vielfenstrigen Fronten und ihren mächtigen, gebrochenen Ziegeldächern an und erzählen von jener Zeit, da der ehrsame Bürger, ebenso wie der Hofbedienstete und der hohe Adel, genau nach Vorschrift von oben die neue Stadt bauten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg