Abschnitt 2

Aber ich lasse nun die Altstrelitzer Straße mit ihren modernen Bestrebungen links, wie die etwas plebejisch anmutende Zierker Straße mit ihrem Verkehr des Landvolkes rechts liegen, denn drüben, jenseits der bergab führenden Schlossstraße, grüßt mich vom Schlosshügel ein großer Turm im Barockstil. Dort ist ein ganz Neues entstanden.

An wohlbekannten Häusern, aus deren Fenstern mich ehedem bekannte Gesichter grüßten, in deren Räumen ich einst mit den Genossen meiner Jugend fröhlich war, schreite ich vorüber; Fremde wohnen darin, und das eine hat gar dem stattlichen Bau der neuen Reichspost Platz machen müssen.


Noch zögere ich einen Augenblick vor dem Eckhause rechts am Ende der Straße. Es ist ein kleines Palais im nachahmenden Tudorstil erbaut, wie ihn das vorige Jahrhundert liebte. Die Vorhänge sind geschlossen, aus dem seitlichen, offen- stehenden Hoftore rauscht eben ein Automobil hervor, die großherzogliche Garage befindet sich vorläufig dort, sonst ist es jetzt unbewohnt.

Ursprünglich stand hier das Pfarrhaus, das in den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts von dem Hofprediger Leithäuser bewohnt wurde. Er war zugleich Hofpoet, und es spricht für die patriarchalischen Verhältnisse der Zeit und des Hofes, was ein Nachkomme dieses Seelsorgers über den Verkehr zwischen Schloss und Pfarre berichtet. Nicht nur half die Herzogin-Mutter Elisabeth Albertine, von der Friedrich der Große einmal schreibt: „Sie scheint eine gar gute Prinzessin zu sein“, dem Pastor in der Verwaltung seines Vermögens, sondern die fürstlichen Kinder, die seit dem Regierungsantritt ihres ältesten Bruders, Adolph Friedrich IV., mit der Mutter von Mirow nach Strelitz übergesiedelt waren, gingen häufig und zwanglos bei ihm aus und ein. Der geistliche Herr würzte den harmlosen Verkehr durch Witz oder Poesie. So lud er einmal, da eben das Dach seines Hauses ausgebessert wurde, in sein „durchlauchtigstes Haus“ ein, und Prinzessin Christel wandte sich ein andermal mit folgendem Briefchen an ihn:

„Wertgeschätzter Herr Pastor!

Künftigen Dienstag wollte gnädig Mama ein Fastnachts Tractament geben.

Georg August soll den Hausknecht dabei vorstellen, den Herzog willkommen heißen, ihn bitten mit einer schlechten Mlzeit oder Maigre chair fürlieb zu nehmen, sie bittet also den Herrn Pastor doch 4 oder 6 Zeilen den kleinen Hausknecht in Reimen zu setzen, worin der Willkomm und Einladung der Frau Wirtin enthalten. Der Bote muss, wo es möglich sie heute Abend mitbringen. Die Poesie kann wohl ein wenig lustig sein. Semtliche Angehörige mein Compliment, ich verbleibe dero Freundin

Christiane, P. d. M.“


Die beiden Prinzessinnen Christiane und Charlotte, nachmalige Königin von England, fanden oft Spaß daran, der Pfarrersfrau in der Küche zu helfen, wobei es einst geschah, dass die Spitzenmanschetten an den Ärmeln in die Kaffeemühle gerieten und mit gemahlen wurden.

Fast hundert Jahre später entstand an Stelle der Pfarrwohnung das kleine Palais, das in der Folge, als es der jetzige Großherzog bezog, noch erweitert wurde. Er wohnte hier, bis das neue Schloss fertig war.

Ursprünglich aber wurde es für die Herzogin Caroline erbaut. Manchem alten Strelitzer wird das Herz noch warm bei dem Namen. Eine selten gewordene Büste, deren Original sich im Schlosse befindet, stellt diese Tochter Großherzog Georgs, geboren am 10. Januar I82I, im ganzen Reiz eben entfalteter Schönheit dar, das Köpfchen mit dem lieblichen Oval und den regelmäßigen Zügen ein wenig unter einem leichten Kranze geneigt, der auf dem lose herabfallenden, etwas gelockten Haar liegt. Große Hoffnungen knüpfte man an diese reizende Prinzessin; eine Kaiser- oder Königskrone, meinte man, müsste dies Haupt schmücken, aber es sollte eine Dornenkrone tragen; der Kronprinz von Dänemark, nachmals Friedrich VI., stellte sich als Bewerber ein. Manche Bedenken drängten sich auf. Seine Erziehung war vernachlässigt, er war geistigen Getränken zugetan und von seiner ersten Gemahlin geschieden. Aber Königskronen haben einen eigenen Glanz, und er liebte die reizende Prinzessin wirklich, war auch im Grunde ein gutmütiger Herr. Eine Hochzeit in großem Stile wurde gefeiert. Man hielt es für ein böses Omen, dass ein Arbeiter beim Bau des Festsaales verunglückte. Auch bei dem im romantischen Geschmack der Zeit veranstalteten großartigen Turnier adliger Herren brach einer der Ritter ein Bein und starb an den Folgen. Bei der Trauung wollten viele Leute das „Ja!“ der bleichen Braut nicht gehört haben. So zog sie über das Meer, um schon nach wenigen Jahren, an Leib und Seele gebrochen, heimzukehren. Die Dänen wollten die holde Prinzessin gern behalten, aber die langen Verhandlungen endeten dennoch mit der Scheidung. Kinder, die sie hätten an die neue Heimat fesseln können, hatte sie nicht. Geknickt war ihr Leben, aber sie suchte und fand Halt in ihrem Gott und Heiland, der sie wieder aufrichtete. Sie wurde der gute Engel für Arme und Kranke.

Unfern des Seeufers gründete und erbaute sie das Diakonissenkrankenhaus, das Karolinenstift, das noch heute, zu sehr stattlicher Größe angewachsen, dem ganzen Lande eine Wohltat, den Armen und Kranken aller Stände eine Zufluchtsstätte ist. Wer die bis an ihr Ende anmutige Prinzessin gekannt hat, wird sich erinnern, wie ihre reine und aufrichtige Herzensgüte ihr die Liebe aller gewann, die sich ihr nähern durften. An ihrem Sarge hat ein kleiner Kranz, den ein armes Kind herzutrug, sie wohl mehr geehrt, als die kostbaren Blumenspenden gekrönter Häupter.

Mit dankbarer Erinnerung an die Güte, die auch mir einst dort zuteil wurde, lasse ich nun das Palais hinter mir. Ich schreite an einer Reihe antiker Statuen vorüber, die Großherzog Georg, in guten Zinkgußreproduktionen, hier an der zum Schloss ansteigenden Straße aufstellen ließ, die zwischen zwei mit Büschen und Bäumen geschmückten Plätzen hinführt. Teich und Graben, die einst in alten Zeiten die zwei Hügel trennten, sind verschwunden; die Stelle wird als Paradeplatz für die Garnision benutzt. Ein gutes Standbild Großherzog Friedrich Wilhelms schmückt sie.

Ich sende einen Gruß nach der hübschen kleinen Schlosskirche hinüber, einem hellen gotischen Ziegelbau, der 1856 bis 1859 erbaut ist, und wende mich dem Schlosse zu. Noch steht es, von dieser Seite wenig verändert, auf der Höhe vor mir. Bekannt sind mir die grünen Rasenflächen, die sich hinter dem Gitter des Schlossgartens hügelan ziehen, bekannt auch der vor etwa fünfundvierzig Jahren im Tudorstil umgestaltete Flügel, der nach dem Paradeplatz zu liegt. Aber der stolze, ganz Neustrelitz überragende neue Turm mit seinen großen, hellen Fenstern, seiner Kuppel und der zierlichen Laterne lässt mich die Größe des Neubaus ahnen. Ich wende mich, den Flügel umschreitend, zuerst dem Schlosshof zu. Auch hier finde ich noch den von einem Tempelchen gekrönten Mittelbau mit den beiden, den rechtwinkligen Hof umgebenden Flügeln, die je in einem Pavillon enden, wie ihn einst Adolf Friedrich IV. an Stelle der ersten Schlossanlage massiv erbauen ließ. Noch steht die Schildwache vor dem Mittelportale, das ein weit ausladender, von Säulen getragener Balkon überragt, der an der ganzen Front hinläuft. Wie manches liebe Mal bin ich da zu den Bällen oder Tafeln des gastfreien Hofes vorgefahren. Es wurde mir trotz der riesigen Krinoline doch leichter, aus dem Wagen zu kommen, als einst meiner Großmutter an derselben Stelle aus der Portechaise, da sie, ein blutjunges Mädchen, im mächtigen Reifrock des achtzehnten Jahrhunderts zum ersten Mal bei Hofe erschien. Sie erzählte mir, dass Herzog Adolf Friedrich IV. oben am Fenster beobachtet habe, wie das Fräulein wohl mit dem zusammenklappbaren Ungetüme von Reifrock das enge Gehäuse verlassen würde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg