Kapitel 15 - Aurora.

Es war dunkel geworden, aber keiner unter den Zuhörern wünschte das Licht einer Lampe. Von den unteren Räumen herauf, – sie befanden sich in einem Zimmer des ersten Stockwerks, das an Franziskas Schlafgemach stieß, – schallte die gemessene, doch wie es schien, ziemlich erregte Stimme Emils. Lamberg erhob sich, um ihm Ruhe zu gebieten, da trat er schon herein und wollte sprechen. „Der Affe“, war sein monomanisch erstes Wort, aber Lamberg unterbrach ihn und verwies ihn zum Schweigen. Er machte Licht, und trotz ihrer inneren Benommenheit und der Blendung ihrer Augen durch die jähe Helle fiel den Freunden das verlegene und unruhige Gehaben des Mannes auf. Emil wagte nichts mehr zu sagen, und leisetreterisch, wie es seine Art war, denn er trieb die Rücksicht bis an die Grenze der Untugend, verließ er das Zimmer.

Fürst Siegmund hatte sich erhoben; merklich erregt wanderte er einige Male auf und ab; seine sonst etwas schlaffen Züge hatten einen gespannteren Ausdruck, die Augen unter den lässig schweren Lidern funkelten bisweilen hastig ins Unbestimmte hinein, und etwas leidenschaftlich Verhaltenes drückte sich auch in seinen Händen aus, die auf dem Rücken lagen, und deren Finger nervös und fest ineinander verflochten waren. Borsati saß ganz in sich geduckt auf seinem Stuhl. Die Teilnahme auf seiner Miene hatte etwas Rührendes, weil kindlich Befangenes; er gehörte zu jenen Naturen, denen das Mitleid für eine ihnen teure Person unbehaglich, fast demütigend ist, und die daher dieses Mitleid auf irgend eine Weise in Trotz, in Zorn, in Empörung gegen die Welt umsetzen. Eine solche Verwandlung war hier gehemmt durch das Gefühl eines kaum zu besiegenden Erstaunens, eines Erstaunens, das von Wißbegier entfacht war. Denn was bedeuteten die Worte, die Ereignisse? was erklärten sie? eines höchstens: daß die Möglichkeiten des menschlichen Herzens ohne Grenzen seien. Und diese Franziska, die aus den kleinen Umständen eines kleinen Bürgerhauses mutig und heiter ihren vergnüglichen Gang in die Welt angetreten hatte, die zu genießen und zu vergessen wußte, weil Genuß ihr Element und der beflügelte Wechsel, dessen anderer Name Treulosigkeit heißt, ihre Kraft war, diese Frau hatte im schall- und lichtlosen Bezirk eines Geisterspiels verbluten müssen? Was hatte sie so verfeinert? was so entherzt? was so in die Tiefe gezerrt? was so geadelt? Leben allein? Leben und Liebe? Todesgewißheit?


Von ähnlichen Gedanken war sicherlich auch Lamberg bewegt, dessen Gesicht eine ruhige und stolze Würde nie entbehrte, wo es sich darum handelte, Schicksal und Menschheit vom einsamen Beobachterposten aus aneinander zu messen. Cajetan starrte mit seinen dumpfen Augen sonderbar abwesend vor sich hin. Ihm war, als habe er eine Dichtung vernommen. Das Geschehene war so weit, Schmerz nur eine Kunde, die Hingeschleuderte ergreifende Figur, Bericht von alledem Rhythmus und Melodie; wie schön zu wissen, im Verborgenen und Offenbaren das unerbittliche Gesetz zu verehren, und Wege zu schauen, auf denen die Duldenden und die Geopferten schritten, und andere Wege, wo die Priester und die Richter gingen! Sein beschäftigter Blick streifte mehrmals das Gesicht Hadwigers, der die Hand an der Stirn, die Lippen gepreßt, sehr bleich und gleichsam im Innersten verstummt, den Freunden und sich selbst entzogen war, und immer wieder kehrte er dann den Blick ein wenig erschrocken zur Erde. Franziska mochte nicht mehr länger unter dem Druck des Schweigens bleiben. Sie richtete sich empor, und wie sie plötzlich zu lächeln imstande war, erinnerte daran, daß sie eine Schauspielerin gewesen. Cajetan sprang auf, ging rasch zu ihr hin und küßte ihr die Hand. Sie blickte ihn prüfend an und schüttelte den Kopf, halb verwundert, halb dankbar. „Jetzt, wo ich mich so sicher unter euch fühle“, sagte sie, „wo jeder Tag etwas so Wahres hat, jedes Wort etwas so Menschliches, kommt es mir vor, als hätt ich das Jahr garnicht wirklich gelebt; ich spür es bloß, denken kann ichs nicht, freilich, glauben muß ich es. Aber wir wollen nicht darüber sprechen“, fuhr sie lebhafter fort, „ihr habt es hingenommen, und nun laßt es wegziehen wie eine Wolke.“

Die Freunde erwiderten nichts. Fürst Siegmund nickte, atmete tief auf, vermied es aber, Franziska anzuschauen. Diese wandte den Blick gegen Hadwiger, und ihre Stimme hatte einen bittenden Klang, als sie sagte: „Heinrich, du weißt wohl nicht mehr, daß du mir einen Lohn schuldig geworden bist?“

Hadwiger zuckte zusammen. „Was für einen Lohn?“ stieß er kurz und heiser hervor.

„Soll ich dir dein Versprechen vorhalten?“ entgegnete sie mit erzwungener Leichtigkeit im Ton.

„Ich habe dir ein Versprechen gegeben, das ist wahr“, murmelte Hadwiger, indem er unwillig einen Nachdruck auf das Anredewort legte.

„Und doch bist du die Einlösung uns allen schuldig,“ beharrte Franziska, „denn du hast viel geschwiegen, während wir uns verschwenderisch mitgeteilt haben.“

„Ich habe ja nicht herausfordern, ich habe mich nur verstecken wollen,“ gab Hadwiger unruhig zurück.

„Als Herausforderung konnte es auch nicht aufgefaßt werden“, nahm Cajetan Partei, „aber in jeder Gesellschaft und Geselligkeit errichtet der Schweigende gewisse Schranken, auch genießt er dadurch, daß er sich niemals bloßstellt, einen Vorteil, den zu rechtfertigen seiner Einsicht und Courtoisie überlassen werden muß.“

„Na, so kritisch hab’ ich mir meine Situation nicht vorgestellt“, erwiderte Hadwiger mit humoristischem Anflug. „Ich begreife überhaupt nicht, wie ihr auf den Verdacht kommt, daß ich etwas zu erzählen haben könnte.“

„Jetzt windet er sich schon“, bemerkte Borsati lächelnd, „gebt acht, daß er nicht entschlüpft.“

„Daß etwas in deinem Leben ist, wovon du niemals sprichst, noch gesprochen hast, das weiß ich, Heinrich“, sagte Franziska sanft. „Du hast es oft angedeutet, und wider Willen, scheint mir. Wir verlangen ja nicht ein Abenteuer, nicht eine beliebige Geschichte, auch nicht eine Enthüllung. Wir, oder wenigstens ich, ich möchte wissen, was es ist, worüber du so stumm bist, daß es förmlich aus dir schreit. Sieh, wer weiß, wann und ob wir je wieder so aufgeschlossen beieinander sind. Mir kommt vor, heute ist ein Abend, wie sie selten sind im Leben. Sprich nur, du sprichst zu Freunden.“

„Ich hoffe nicht, daß Sie mich von dieser Bezeichnung ausschließen“, wandte sich der Fürst an Hadwiger; „als flüchtiger Gast habe ich allerdings keine Rechte, nicht einmal das Recht zu bitten, aber ich würde es zu schätzen verstehen, wenn Ihnen meine Anwesenheit nicht beengend oder störend erschiene.“

„Davon kann sicher nicht die Rede sein, Fürst“, sagte Lamberg, und etwas spöttisch fügte er hinzu: „er wird umworben wie der große Medizinmann; wäre er nicht er selbst, er müßte eifersüchtig werden.“

Franziska, die den Augenblick nicht günstig fand für Neckereien, schüttelte mit lebhaften kleinen Bewegungen den Kopf gegen ihn, und Lamberg verbeugte sich lächelnd, zum Beweis, daß er sie verstanden habe. Hadwiger bemerkte das Zwischenspiel nicht. Von allen Seiten in die Enge getrieben, kämpfte er noch. Während er die Lehne des Sessels mit beiden Händen umfaßt hielt, irrte sein Auge scheu, und die Muskeln seiner Wangen zuckten. Die alte Wanduhr schlug siebenmal mit kräftigen Schlägen. Er wartete, bis sie ausgeschlagen hatte, dann fing er an.

„Was ich mitzuteilen habe, ist im Grunde nur die Geschichte einer Nacht; freilich einer Nacht, die länger als drei Monate dauerte. Was vorher geschah, kann ich nicht übergehen, auch von meiner Jugend muß ich einiges berichten.

Ich wuchs im Kohlengebiet auf. Wenn ich zurückdenke, scheint es mir, als ob die Luft, die ich als Kind atmete, immer schwarz gewesen wäre. Wir waren neun Geschwister; sechs starben im Lauf von zwei Jahren. Meine Mutter überlebte dieses Morden nicht, und mein Vater nahm sich eine zweite Frau, die ihm und uns die Hölle heiß machte. Mein Vater war ein Mittelding zwischen einem Spekulanten und einem Fantasten; je nach seinen Projekten wechselte er seinen Beruf, und da sein praktischer Blick der Gewalt seiner Einbildungen mit der Zeit immer weniger standhalten konnte, litten wir große Not. Bei einem Streik der Kohlenarbeiter, wo er im Interesse der Grubenbesitzer zu wirken und zu vermitteln suchte, geriet er in ein Handgemenge und wurde von einem Schlag so unglücklich getroffen, daß er nicht mehr aufkam. Ich hatte einen Freiplatz in einer Ingenieur- und Maschinenbauschule. Ich sah, daß ich in der Heimat wenig Förderung erwarten konnte, und ich beschloß, nach England zu gehen, ein Vorhaben, das unerschütterlich war, obwohl ich nicht einmal die Mittel zur Überfahrt hatte. Ein Jahr lang arbeitete ich Tag und Nacht; ich kopierte Akten und Baupläne, war Austräger bei einer Zeitung und Gehilfe bei einem Photographen und legte Pfennig um Pfennig beiseite, bis ich im Besitz der Summe war, die ich zur Reise brauchte. Auch eine notdürftige Kenntnis der Sprache hatte ich mir angeeignet. Ich war achtzehn Jahre alt, als ich obdachlos in London herumirrte. Ein Bekannter meines Vaters hatte mir eine Empfehlung mitgegeben, auf diese hatte ich gebaut; sie war mir von keinem Nutzen.

Die Jugend muß ihren besonderen Gott haben, anders läßt es sich nicht erklären, daß ich damals nicht versunken bin. Aber es ist nicht entschieden, ob uns überstandene Not und Entbehrungen frommen. Manche behaupten, es sei so. Wollte ich ins Einzelne gehen, so wäre der Abend zu kurz für den Bericht, auch sträubt sich vieles gegen das Wort. Ich sehe mich in nebligen Gassen; ich bin müde und habe kein Bett. Mit verschlagener Freundlichkeit redet mich ein halbwüchsiger Bursche an; er führt mich zu einem Tor und fragt, ob ich Geld habe. Ich zeige ihm eine Münze, und er nickt: das sei genug. Ich komme durch ein übelriechendes Stiegenhaus in eine noch übler riechende Kammer; dort sind fünf oder sechs Lagerstätten und mehr als ein Dutzend Burschen und Mädchen, darunter auch Kinder. Ich höre nicht ihre lauten und rohen Stimmen, ich falle auf eins der schmutzigen Betten und sogleich schwindet mir im Schlaf das Bewußtsein. Ich bin in eine Diebsherberge geraten. Die fünf Schillinge, die ich noch in der Tasche gehabt, sind am Morgen fort. Ich sehe mich in einem Hof nächtigen, von dem Mauern emporsteigen wie in einem Felsental. Ich arbeite in einem Magazin, in dem Arzneimittel versandt werden, und ziehe mir durch Einatmen giftiger Stoffe eine Krankheit zu. Ich liege im Spital an einer feuchten Wand und muß die Gesellschaft eines delirierenden Mulatten und eines prahlenden Krüppels aus Südafrika ertragen. Ein deutscher Schneider nimmt mich auf; sein Weib ist eine Kupplerin. Eines Nachts vernehm’ ich im Halbschlaf ein Schluchzen; ich finde in der Küche ein junges Mädchen. Sie liegt auf dem Strohsack und weint sich ihr Elend aus den Augen. Sie ist aus Deutschland herübergekommen, weil man ihr eine Stelle als Gouvernante versprochen hat. Ich führe sie beim Tagesgrauen aus dem Haus. Sie nennt mir die Adresse einer Verwandten, die in Whitechapel wohnt, und von der sie daheim als von einer respektablen Person gehört hat. Es erweist sich, daß sie Soubrette an einem der gemeinen Tingeltangel ist, von denen die ungeheure Stadt wimmelt. Mein Schützling hat eine frische, hübsche Stimme; man will ihr ein Asyl gewähren, wenn sie aufzutreten und Lieder zu singen bereit ist. Ich, nicht wissend, wovon ich leben soll, werde Türsteher bei demselben Etablissement. Sieben Wochen lang defiliert der buntaufgeputzte Auswurf der Menschheit an mir vorüber, meine Augen sind voll von den Grimassen des lachenden Elends, meine Ohren voll von herztötendem Lärm, und die süßlichen Parfüms des Lasters, die ich einatmen muß, machen mich nach starken Spirituosen bedürftig. Hinweg treibt es mich erst, als ich das zarte und liebliche Mädchen, das ich hergeführt, verwelken und verkommen sehe.

Laßt mich nicht sagen, wo ich dann überall gewesen bin, um welch hohen Preis ich den jämmerlichen Bissen Brot erworben habe. Denk ich an die Türen, vor denen ich gestanden, die Stuben, in denen ich gewohnt, die Betten, in denen ich gelegen bin, oft schlaflos und oft glücklich eingesargt in einen Schlummer, von dem zu erwachen bitter war; denk ich daran, aus welchen Händen ich Lohn empfing, an die verzweifelte Plage, an die Müdigkeit, an das hoffnungslose Hinfließen der vielen Tage, an den nervenzerrüttenden Kampf gegen Schurkerei aller Art, gegen die Hinterlist, die sich am Armen bereichert, gegen die Taubheit, deren Opfer der Stumme wird, gegen die eigene Schwäche, die nicht so sehr Unvermögen ist als Fesselung und der Mangel rettender Zufälle; denk ich daran, daß ich zähneknirschend am Gitter eines festlich illuminierten Parks gelehnt, die Finger um die Stäbe geklammert wie ein Tier im Käfig tut, daß endlich Haß, unsagbarer Haß in mir aufwuchs und meine zwanzig Jahre gleich einem Aussatz zerstörte, – denk ich wieder daran, so will ich kaum glauben, daß ich noch der Mensch bin, der es gelebt hat, ich, der hier sitzt und es als etwas Fernes schildert.

Ja, ich haßte die Menschen mit einem aus Nihilismus und Furcht gemischten Gefühl. Diese Millionen, ihre Anstrengungen, ihre Eile, ihr Wetteifer, ihre rasenden Gelüste, – sie erdrückten mich. Mir schien, daß alle vorhandenen Wege besetzt seien und daß ich keinen Weg mehr finden könne. Es war mir, als ob für mich kein Platz in der Welt sei und als ob mich die Fülle der Dinge sozusagen bei lebendigem Leib begraben hätte. Ich hatte keinen Platz und keine Luft, ich kann es nicht anders ausdrücken, und so war ich nur unter dem Gesetz der Trägheit nach einer bestimmten Richtung hin tätig. Und nicht nur die Menschen haßte ich, sondern auch all ihre Einrichtungen, das Zwangvolle und mich Erdrosselnde der gesellschaftlichen Ordnung, den Staat, die Kirche, die Schule, die Zeitungen, sogar die Bücher. Dies klingt entsetzlich genug, es weiter auszumalen, wäre vom Übel, meine Bahn schien unabänderlich zur Tiefe zu führen, ich war ein verlorener Mensch, und was noch an Kraft und natürlichem Temperament in mir steckte, das faulte gleichsam ab, verpestet von dem Anhauch meiner unterirdischen Existenz.

Dies Wort ist nicht nur bildlich zu verstehen. Es war mir damals gelungen, mich wieder meinem eigentlichen Beruf zu nähern; ich hatte die Stelle eines zweiten Maschinisten auf einem der kleinen Themse-Dampfer. Der Dienst verhinderte mich, während des Tages das Licht der Oberwelt zu sehen, und den Abend wie den größten Teil der Nacht verbrachte ich in einer Taverne bei den East-India-Docks. Ich hatte um jene Zeit einen jungen Russen kennen gelernt und mich ihm angeschlossen. Sein Name war Rachotinsky. Er war Arzt gewesen und hatte fünf Jahre in der Verbannung am Baikalsee gelebt. Sein Vater war in der Schlüsselburg gestorben, zwei Schwestern und ein Bruder hatten den sibirischen Tod gefunden. Sein Gemüt war düster; sein Geist war von einer Rachsucht erfüllt, deren Übermaß ihn lähmte und deren Glut mich gleichfalls ergriff. Ich wußte nichts von seinen Plänen, er war trotz aller Beredsamkeit verschwiegen; hätte er mich zu einer Tat aufgefordert, ich hätte mich ohne Besinnen geopfert. In jener Taverne, wo wir uns trafen, kam er häufig mit einigen seiner Landsleute zusammen, und wenn sie miteinander russisch sprachen, merkte ich an ihren Mienen, daß sie nicht leeres Stroh, sondern volle Ähren droschen. Eines Abends geschah es, daß einer der russischen Flüchtlinge mit einer jungen Frau kam, deren vollendete Schönheit in dieser schmutzigen Spelunke so wirkte wie wenn ein glühender Körper durch eine tiefe Finsternis schwebt. Eine solche Mischung von bleich und schwarz, von Hoheit und Verzweiflung, von Kraft und atemlosem Gehetztsein hatte ich noch in keinem Gesicht gesehen. Ich kannte die Frau als Arbeitstier; ich kannte die Dirne; ich glaubte zu wissen, was eine Luxusdame sei, aber die Heldin und die Gefährtin der Helden, die Opferfrohe, die ihr Blut vergießt für eine Idee, von der wußte ich nichts. Es fiel mir auf, daß das herrliche Geschöpf tastend in den Raum trat. Wir erfuhren, daß sie blind war. Natalie Fedorowna war geblendet worden. Sie hatte einen der tückischen Machthaber und Bedrücker ihres Vaterlands durch einen Revolverschuß getötet. Im Gefängnis hatte man sie mißhandelt, ein betrunkener Offizier hatte sie zu schänden versucht und ihr rasender Widerstand hatte den Unhold so erbittert, daß er sie durch zwei seiner Kreaturen des Augenlichts berauben ließ. Das Verbrechen wurde in der kleinen Gouvermentsstadt ruchbar, eine allgemeine Revolte brach aus, ergebene Freunde befreiten das junge Mädchen, und es gelang, sie über die Grenze zu schaffen. Vor wenigen Stunden war sie in England angekommen, aber die Polizei war ihr auf den Versen, die russische Regierung forderte sie unter der Behauptung zurück, ihre Tat entbehre des politischen Motivs und sei nichts weiter als ein Akt der Eifersucht gewesen. Das alles erfuhr ich nur in Bruchstücken; die Russen waren höchst erregt, und während sie Natalie Fedorowna wie eine Schutzgarde umgaben, zeigten ihre Mienen äußerste Entschlossenheit. Rachotinsky, indem er auf einige verdächtige Gestalten hinwies, gebot ihnen Stillschweigen, jedoch es ereignete sich jetzt etwas sehr Sonderbares. In einem verräucherten Winkel der Taverne saßen zwei Männer, die durch ihr Aussehen und ihre Mienen meine Aufmerksamkeit schon längst erweckt hatten. Ihre Kleidung schien zwar verlumpt, auch in ihrem Gehaben unterschieden sie sich durch nichts von den Elendsgestalten, die man hier zu sehen gewohnt war, aber irgend etwas an ihnen, der Blick vielleicht, oder eine Geste und nicht zuletzt ein edler und geistiger Ausdruck der Züge verkündeten Menschen aus einer fremden Welt. Und so war es auch. Der eine von den beiden Männern begab sich in den Kreis um Natalie Fedorowna und redete Rachotinsky in französischer Sprache an. Ein tiefes Befremden und im Verfolg des Zwiegesprächs eine tiefe Überraschung malten sich im Gesicht des Russen. Er wandte sich an seine Leidensgenossen; diese verhielten sich gegen seine Worte stumm und sahen zur Erde. Natalie Fedorowna faltete die Hände und ließ den Kopf sinken. In diesem Augenblick erschien mir ihre Schönheit so hinreißend, ihr Leiden so über alles Maß erschütternd, daß ich mein Herz aufquellen fühlte, ja das Herz tat mir weh wie ein Geschwür. Ich sprang empor, ich trat an ihre Seite, alle schauten mich an, meine Empfindungen müssen derart gewesen sein, daß sie keinem verborgen bleiben konnten, denn ich bemerkte viel Wohlwollen in den besinnenden Mienen, und Rachotinsky legte den Arm um meine Schultern und sprach so mit dem Fremden weiter. Indessen hatte sich auch der Genosse dieses Unbekannten zu der Gruppe begeben, und als ich den näher ansah, gewahrte ich sofort, daß sein Anzug nur eine Verkleidung war, und daß durch diese Hülle der Armut eine angeborene Vornehmheit und gewisse unverkennbare Allüren des Mannes von Stand nicht verdeckt werden konnten.

Ich will ohne Umschweife berichten, was über diese beiden Männer zu sagen ist, die in meinem Leben eine so wichtige Rolle spielten. Sir Allan Mirmell und sein Freund Trevanion waren Leute von großem Reichtum und aus alten Familien. Beide waren inmitten eines verschwenderischen Luxus aufgewachsen, und ihre Bildung war mehr als weltmännisch, sie war von sublimer Art. Man findet ein so sensitives und zugleich erleuchtetes, so umfassendes und zugleich beflügeltes Wesen des Geistes fast nur bei jungen Engländern von Rang, als ob in dieser Nation, die als Ganzheit so starr, so begrenzt, so voll von Vorurteilen und so bar der Phantasie sich zeigt, die Einzelnen, Erwählten einen umso bewunderungswerteren Schwung nehmen könnten. Allan Mirmell, in der Mitte der Dreißig stehend, war um zwölf Jahre älter als Trevanion. Er war durch das Leben gestürmt mit einer Begier, die nichts verschmähte, nichts verachtete. Er hatte in allen Ausschweifungen geschwelgt, zu denen das Gold, der Wille und die Passion führen. Er hatte verschwendet, Mut verschwendet, Liebe verschwendet, seine Gaben verschwendet. Er hatte alle die Übeltaten begangen, die der Leichtsinn, die Gedanken- und Gewissenlosigkeit, Stolz, Raubgier, Eitelkeit und innere Anarchie zu begehen vermögen. Ihm war kein Glück fremd; auch kein Laster; kein Frieden heilig; Treue hatte er nie gekannt. Im Taumel war er plötzlich müde geworden. Aus der Müdigkeit ward Ekel; ein Ekel, den zu beschreiben ich kaum wage; der das Himmelreich bespie und in der Menschenwelt eine Kloake sah; der natürliche Bande mit Hohn zerriß, ursprüngliche Gefühle mit Kälte leugnete, jede Heiterkeit zersetzte, alles was brennen wollte, in Asche verwandelte, sich abkehrte vom Tag und die Nacht suchte, die Einsamkeit und das Grauen. In dieser Gemütsverfassung hatte er den jungen Trevanion gefunden; unglückselige Fügung, die den Freund am Freund zu vernichten gewillt ist. Trevanion war zart, beinahe ätherisch. Er war der Sohn eines Musikers, seine Mutter war eine Herzogin gewesen. Er hatte in einer dünnen Luft gelebt, ohne Windstoß. Fähig, jede Krankheit aufzunehmen, den Miasmen eine Beute, jeden Inhalt, denn seine Seele war ein leeres Gefäß, das auf den Träger wartete, war er für Mirmell nur der geleitende Schatten und das rührende Echo aller Anklagen und Verdammungen.

Seltsam wie diese beiden von der Höhe des Daseins kamen, zu uns herunter, die in ähnlichem Trotz, in ähnlichem Schmerz, in ähnlichem Haß, wenn schon aus anderer Ursache, gefangen waren. Dort Überfluß und Überdruß, hier Not und eine dumpfe Stimmung des Verzichts; die Endpunkte der sozialen Welt. Sensationskitzel und Lust an der Selbsterniedrigung treiben diese reichen und satten jungen Leute häufig zu den Schauplätzen des Lasters und des Elends; man findet sie in Opiumkneipen und in den Verbrecherasylen, und sie wissen wohl, daß sie in vielen Fällen ihr Leben riskieren, wenn sie nicht Meister in der Verkleidung und äußeren Verwandlung sind. Aber nur die Gefahr ist es, die sie berauscht. Durch einen Besuch in der Taverne zur roten Katze war Allan Mirmells Aufmerksamkeit auf Rachotinsky gelenkt worden, und er hatte Nachforschungen anstellen lassen, hatte später auch von ihm gelesen. Nächtelang beobachtete er ihn und seine Gefährten. Der Anblick dieser Erniedrigten und Ausgestoßenen, von denen Jeder Freiheit, Vermögen, Lebensgenuß und Zukunft für eine Idee hingegeben hatte, war ihm Vorwurf und Ansporn. Die frappante Erscheinung Natalie Fedorownas, die durch ihr Wesen wie durch die Aufnahme, die sie fand, alles Geschehene erraten ließ, bewog ihn, sich Rachotinsky zu erkennen zu geben und ihm das Anerbieten zu stellen, das verfolgte und leidende Mädchen in seinem Haus aufzunehmen, wo es Niemandem einfallen würde, sie zu suchen. Rachotinsky und seine Freunde überlegten den Vorschlag, der unter der Bedingung akzeptiert wurde, daß Rachotinsky selbst Natalie Fedorowna begleiten und zunächst bei ihr bleiben solle.

Über die unmittelbar folgenden Ereignisse bin ich nur schlecht unterrichtet; auf welche Weise sich der Selbstmord Natalie Fedorownas zutrug, kann ich nicht sagen. Rachotinsky hatte mich zwei oder dreimal nach dem Landhaus Mirmells mitgenommen, und ich hatte sie gesehen. Die Pracht und der Luxus jenes Hauses machten keinen Eindruck auf mich; ich gewahrte nur sie; Tag und Nacht war sie mein einziger Gedanke. Einer der Russen sagte, daß der junge Trevanion sie geliebt habe; Rachotinsky gestand mir, daß Trevanions Stimme einen unheilvollen Zauber auf sie geübt habe, ihr alles Vergangene, ihren Kummer, ihre Besudelung, ihre Blindheit quälend zu Bewußtsein gebracht. Aber was eigentlich vorgegangen war, habe ich nicht erfahren können. Sicher ist nur, daß nach der Katastrophe der Aufenthalt der jungen Russin im Hause Mirmells bekannt und daß dadurch seine gesellschaftliche Situation unhaltbar wurde. Auf mich wirkte Natalie Fedorownas Tod verheerend; ich gab meinen Dienst auf und ließ mich treiben wie ein Stück Holz im Wasser. Eines Tages kam Rachotinsky zu mir und fragte mich, ob ich außer Landes gehen wolle. Mirmell, Trevanion und er seien entschlossen, der Kulturwelt den Rücken zu kehren; wenn ich Lust hätte, meinem entwürdigenden Dasein zu entfliehen, brauche er nur mein Jawort. „Früher gingen die Weltmüden in ein Kloster“, sagte er, „wir wollen eine Abgeschiedenheit suchen, wo die Natur selbst ein Bollwerk gegen den zerstörenden, frechen und lärmenden Sohn dieser Erde errichtet hat. Wir wollen den Tod erleben, im Tode leben und das Leben erkennen, Gott aufbauen in unserer Seele und nie mehr nach den Menschen Verlangen hegen. Unsere Entsagung wird dauernd sein, unser Vorsatz unverbrüchlicher als das Gelübde an einem Altar. Ich werbe dich für unsern Bund, dies Recht habe ich mir ausbedungen, und ich sehe nichts, was dich sonst retten könnte.“

Ich war derselben Meinung. Ohne Hilfsquellen, dem Verhungern nahe, eröffneten mir diese Worte, deren mysteriösen Sinn ich zunächst wenig beachtete, doch die Möglichkeit zu existieren. Mirmells Schiff, eine stattliche Yacht, lag im Hafen von Tilbury. Ich begab mich zu Fuß dorthin. Rachotinsky, der mich in einem Wirtshaus erwartet hatte, führte mich an Bord und zu Allan Mirmell. Dieser begrüßte mich schweigend und bemerkte dann gegen Rachotinsky, er möge Sorge tragen, daß ich an nichts Mangel leide. Am andern Tag lichtete das Schiff die Anker, und es begann unsere sonderbare Reise, deren Ziel mir unbekannt war. Von der Seekrankheit verschont, wurde ich in anderer Art krank, und ich weiß heute noch nicht, unter welcher Krankheit ich durch so viele Wochen litt. Vielleicht war die Ruhe schuld, deren ich genoß. Es kommt ja vor, daß Leute, die sich ein ganzes Leben hindurch abgearbeitet haben, plötzlich sterben, wenn Mühe und Sorgen aufhören. Ich lag und schaute in die Luft. Hin und wieder spürte ich, daß ich weinte. Oft saßen Rachotinsky und Mirmell neben mir, sei es nun, daß ich auf Deck in der Sonne gebettet war oder bei schlechtem Wetter im Raum. Kraft seines mystischen und durchdringenden Geistes hatte Rachotinsky unbegrenzten Einfluß über Mirmell gewonnen. Allan Mirmell hatte eines der interessantesten Männergesichter, die ich je gesehen. Seine Züge waren hager und von äußerster Feinheit; seine Haut war glatt und weiß wie Email; das Kinn stark, die Lippen dünn wie ausgepreßte Früchte; die allzuklaren Augen begegneten nie dem anschauenden Blick, obwohl sie nicht zur Seite wichen; sie empfingen den Blick und saugten ihn auf. Dies war beklemmend. Trevanion zeigte sich nur selten. Er war immer in seiner Kabine, las oder schrieb. Rachotinsky trieb mit ihm geologische Studien aus Büchern und Tiefseestudien mit Hilfe des Plankton-Netzes, das wir an Bord hatten. Einmal stand Trevanion bei Mondschein am Kompaßhäuschen und starrte unbeweglich aufs Meer. Seine Knabengestalt ergriff mich. Doch weder ihm noch Mirmell konnte ich mich ohne eine knechtische Regung nähern, und dieses Überbleibsel meiner proletarischen Vergangenheit schleppte ich noch lange. Erst gemeinsame Leiden erweckten kameradschaftliche Empfindungen.

Wir waren durch die Tropenmeere und durch den südlichen Teil des atlantischen Ozeans gefahren, dann westlich, lange westlich, dann wieder südwärts. Wir liefen die am Rande der Eisregion gelegene Macquarie-Insel an, aber Mirmells Absicht, dort eine Niederlassung zu errichten, wurde durch die Anwesenheit einiger Schiffe vereitelt, denn Mirmell und Rachotinsky waren gewillt, die Menschheit zu fliehen. Wir suchten die Nimrod-Insel, deren Existenz jedoch heute noch nicht sichergestellt ist, und als dies erfolglos war, steuerten wir in das Roß-Meer. Eisberge schwammen auf dem Wasser, und eines Tages war das Meer von Packeis bedeckt. Es öffneten sich schmale Straßen, in denen der Dampfer freie Fahrt hatte. Wir überquerten den fünfundsiebzigsten Grad und sahen bald auf allen Seiten Land, den geheimnisvollen Kontinent der Antarktis. Ich war um jene Zeit wieder gesund geworden. Ich wurde nicht müde, diese neue Welt zu betrachten; der immer bleibende Tag erstaunte mich, denn es war Mitte Dezember, der Sommer jener Breiten, und die Sonne ging nicht unter. Indessen begann die Mannschaft zu murren, und der Kapitän und der erste Maat wagten es, auf die Gefahren hinzuweisen, die einem Schiff, das für solche Exkursionen nicht geeignet war, vom Eise drohten. Mirmell blieb ihren Vorstellungen gegenüber taub. Es war in ihm ein Ingrimm und eine Lethargie, die alle praktischen Maßregeln mißachteten. Er glich dem Ritter der alten Sage, der sich stumm und trotzig zur Höllenfahrt anschickt. Daß er unbewußt dem hypnotisierenden Einfluß Rachotinskys unterlag, ist nicht zu bezweifeln; dieser lebte auf; sein Blick schien zu triumphieren, wenn er die Entfernung maß, die ihn von allem trennte, was ihn ehedem gefesselt hatte. Ich selbst war ihm verfallen. Ich dachte an seine Worte: wir wollen den Tod erleben, im Tode leben und Gott aufbauen in unserer Seele. Der Wille zum Untergang ließ mich schaudern, und mein Gemüt fing an, dem entgegenzustreben.

Wir steuerten in eine weite Bucht, in der uns das feste Eis halt gebot, und warteten, da wir der Küste näher zu kommen hofften. Am zweiten Tag sprengte der Sturm die gefrorene See, und wir fuhren nahe an die Küste heran. Mirmell und Rachotinsky begaben sich ans Land und suchten einen Platz für den Bau einer Hütte und eines Vorratshauses. Es erwies sich, daß das Schiff mit allen Bedürfnissen für einen jahrelangen Aufenthalt in unzugänglicher Eisöde befrachtet war. Unter vielen Mühseligkeiten transportierten die Matrosen Balken und Bretter an den Strand; darnach die Betten, die Tische, die Stühle, die Bücher, die Kleidungsstücke, die Hunderte von Kohlensäcken, die zahllosen Proviantkisten mit Konserven, Früchten, Tee, Salz, Mehl, Gläsern und Flaschen. Als die hölzernen Gebäude standen und gegen die schwersten Stürme durch Steinblöcke und Drahtseile befestigt waren, bat der Kapitän des Schiffes Sir Allan um eine Unterredung. Der wackere Mann zeigte sich sehr besorgt; er glaubte warnen zu müssen; ohne nach den Gründen unseres Vorhabens zu forschen die ja auch wissenschaftlicher Art sein konnten, malte er beredt die Schrecken einer Überwinterung. Es handle sich nicht um eine Überwinterung, antwortete Mirmell schroff; er erteile ihm den Auftrag, nicht früher als nach Verlauf von fünf Jahren wieder an diese Küste zu kommen, um sich zu überzeugen, ob die Ansiedler noch am Leben seien. Der Kapitän war sprachlos vor Entsetzen, aber Mirmell wiederholte diesen Entschluß noch einmal vor der ganzen Mannschaft und verpflichtete sie allesamt zum Stillschweigen; so lange keine Kunde in die Welt drang, sollten Kapitän und Schiffsvolk die Löhnung weiter beziehen, im andern Fall hatte der Vermögensverwalter Sir Allans die genaue Weisung, sie zu entlassen. In der zweiten Woche nach unserer Ankunft waren alle Arbeiten beendigt, und das Schiff verließ uns. Wir standen am Rand des Eises und blickten ihm nach, bis es unterm Horizont verschwunden war und seine Dampfsäule sich mit den Wolken vermischt hatte.

Hier war das Abenteuer zu Ende; das Gefühl des Unerwarteten in mir erloschen; alles das hörte auf, Verwunderung in mir zu erzeugen; die Gegenwart bändigte mich, das Unentrinnliche umschlang mich wie ein sichtbarer Kreis; es galt zu kämpfen, sich zu wehren, sich zu verantworten, zu leben. Unmöglich kann ich schildern, was in mir vorging, diesen Wirrwarr von Gedanken, diese Auflehnung gegen das Absurde, dieses Erwachen aus einem traumartigen Zustand; ich muß mich damit begnügen, die folgenden Ereignisse zu erzählen.

Rachotinsky hatte teils durch Spekulation, teils durch Forschungen die Überzeugung gewonnen, daß auf dem Kontinent der Antarktis ausgebreitete Kohlenlager vorhanden seien, und er hatte die etwas fantastische Absicht, diese noch verborgenen Reichtümer aufzufinden und sie für die unglücklichen, bedrückten Söhne seines Vaterlands nutzbar zu machen. Täglich unternahm er, mit seinem Hämmerchen versehen, lange Wanderungen und brachte allerlei Arten von Felsgestein mit. Derselbe Mann, der die Gefangenschaft in den sibirischen Einöden nur mit Aufbietung seiner ganzen Seelenkraft ertragen hatte, war hier, in der freiwillig gewählten Abgeschiedenheit und vollkommenen Loslösung von der menschlichen Gesellschaft auf eine wunderbare Weise erglüht, und ich fragte mich umsonst, was es wohl sein möge, das seine Augen oft so hoffnungstrunken erschimmern ließ. Eindringlich widerriet er mir, mich dem Müßiggang hinzugeben, und in der Tat war jede unausgefüllte Stunde erschöpfend für Körper und Geist. Jeder hatte einen Tag, an dem er Koch und Aufwärter war, für das Feuer sorgen und die Hütte rein erhalten mußte. Ich begleitete Mirmell zu den Pinguinen, deren Eier wir sammelten, und Erstaunlicheres sah ich nie als diese Menschenvögel, diese gravitätischen, tiefsinnigen, eitlen und neugierigen Wesen innerhalb der gebundenen Ordnung ihres Brutstaates. Wie sie uns mißbilligen, wie sie uns mit dem breiten weißen Rand um ihre Augen, der einer Brille glich, ernsthaft musterten und unsere Gesellschaft nur mit gröblichen Beschimpfungen duldeten; wie sich zwei der Vornehmsten mit zeremoniöser Ehrfurcht gegeneinander verneigten, ehe sie ihre wichtigen Verhandlungen pflogen! Sie glichen den verzauberten Geschöpfen in einem Märchen so sehr, daß sie der Landschaft einen geheimnisvollen Reiz von Verwandlung gaben, etwas von Bann und Schuld und Harren auf Erlösung. Nicht selten schloß ich mich auch dem schweigsamen Trevanion an, der Algen, Diatomeen, Polypen und Schwämme aus dem Meerwasser fischte, oder in die kleinen vereisten Binnenseen Bohrlöcher grub, oder Wolken und Felsen zeichnete oder mit der Spirituslampe in die stalaktitischen Eishöhlen hinabstieg. Noch lieber wanderte ich allein über Schnee und Eis und schaute zum bleichen Himmel empor, an dem eine bleiche Sonne stand, und über die bleiche weiße Erde. Die dauernde Helle stumpfte das Zeitgefühl ab und man ging wie in der Ewigkeit, die auch keinen Wechsel von Tag und Nacht hat. Ich vernahm das Seufzen der Eisschraubung auf dem Meer, und die Klagelaute der riesenhaften Gletscher, die sich gegen den Ozean schoben, um ihn mit schwimmenden Bergen zu bevölkern, und diese gedehnten Laute klangen wie das Stöhnen eines Tieres in den Wehen der Geburt. Fern über mir flackerte das Feuer eines Vulkans, erhob sich wie ein schwarzer Riesenpilz der Rauch aus seinem Schlund; die Nähe der mütterlichen Weltenglut, der schöpferischen Erdflamme ließ mich bisweilen vergessen, daß ich ein wollender und müssender Mensch war. Ich erblickte den mathematisch geraden Rand der Hunderte von Meilen langen Eisbarre, die grün schillerte wie eine ungeheure Smaragdplatte, und im Süden, gegen das Ende der Welt, sah ich viele Berggipfel, zahllose Kuppeln, die jungfräulichen Brüsten glichen, bedeckt von dem blauen, durchsichtigen Schleier der Atmosphäre. Die klarsten, zartesten und stärksten Gedanken stiegen empor wie selbständige Geschöpfe; Natur hörte auf, ein Wort zu sein, hörte auf, das Andere zu sein; sie sprach nicht, sie gab nicht, sie behütete nicht, sie handelte nicht, sie _war_ bloß.

In immer niedrigeren Kreisen rollte der Sonnenball um unser gefrorenes Reich; auch an dem Steigen der Kältegrade merkten wir, daß es Winter wurde. Es kam die Stunde, wo die rote bebende Scheibe den bebenden Horizont berührte. Die Wellen des Meeres erstarrten mitten in der Bewegung und sahen aus wie ein Haufen wild übereinander geworfener Purpurtücher. Das ganze Schneegefild hinter uns ward zum Spektrum, das in Billionen Eiskristallen glitzerte. Hoch in der Luft glühten die seltenen Iriswolken, Robben und Pinguine waren verschwunden, und wir standen vor der Hütte, frierend bis ins Mark, und warteten, bis die letzten Protuberanzen der Sonne erloschen waren, – und damit alles Leben. Es wurde Nacht. Bitter war es jetzt um uns bestellt. Mir ahnte schon Übles, als, da ich Licht anzündete, Trevanion unablässig in die Herdflamme starrte, und zwar mit einem Ausdruck, den ich nie vergessen werde, einem Ausdruck kindlicher Angst und seelenvoller Besorgnis.

Zweieinhalb Monate hatten wir in Eintracht gelebt. Ich darf sagen, daß wir einander lieb gewonnen hatten. Wir verstanden und achteten einander. Es wurde über vieles lebhaft und gut gesprochen, und ich verdanke dieser Zeit die reichsten Erfahrungen, die mannigfaltigsten Lehren und Aufschlüsse. Tag um Tag, Stunde für Stunde mit denselben Menschen dasselbe enge Haus teilen, Zeuge zu sein aller Lebensäußerungen, Beobachter jedes Schweigens und jeder Geberde, das heißt einander kennen lernen. Und schließlich kannten wir einander so genau, daß wir die Worte hörten, ehe sie gesagt wurden, daß wir auf dem noch unbewegten Gesicht die Stelle angeben konnten, wo ein Lächeln, eine Erinnerung, ein Unbehagen die stereotypen Falten einkerben mußten, ja, daß wir die Verschiedenheit in der Biegung und Länge einzelner Wimpernhaare gewahrten, und häufig richtete man während eines Gesprächs das Augenmerk gespannter auf gewisse Eigentümlichkeiten der Miene und Geste als auf Frage und Antwort. Jeder war dem Andern wie Glas. Der Mangel alles Neuen und Überraschenden weckte bisweilen Ungeduld, die sich langsam in stummen Hohn verwandelte. Noch bevor die große Nacht einbrach, herrschte oft ein bedrohliches Schweigen unter uns, aber wir konnten die verwundeten Nerven durch Tätigkeit im Freien beruhigen. Dies war jetzt unmöglich. Ohne eine Vermummung, die das Gehen sehr erschwerte, konnte man draußen nicht weilen, und wenn der Schneesturm wütete, war man in Gefahr zu ersticken, ehe man sich drei Schritte vom Haus entfernt hatte. Wir waren also gezwungen, ununterbrochen beisammen zu bleiben. Die dauernde Dunkelheit verdüsterte das Gemüt nachhaltig. Das matt schwelende Licht in unserm Wohnraum ward zu einem beständigen Druck auf das Auge und das Gehirn. Die Kälte war so fürchterlich, daß wir trotz unablässigen Heizens die Temperatur der Hütte nicht über drei Grad Reaumur brachten. Unsere Ausdünstungen und die Dämpfe der Speisen hatten sich an den Wänden als Eisverkleidung niedergeschlagen, und das oben erwärmte Eis, das in Zapfen hing, tropfte auf den Boden, der infolgedessen ein Morast wurde. Wenn die Fenster und Balken nicht unter dem Anprall des Orkans ächzten und klapperten und die auf das Dach geschleuderten kleinen Steine quälend und eintönig klopften, versetzte uns die Stille der Natur in einen Zustand, daß wir hätten schreien mögen, um sie zu bannen. O, diese Stille! Sie donnerte in den Ohren, sie ließ den eignen Herzschlag wie den Lärm aus einer Maschinenhalle erscheinen, sie brüllte aus der Finsternis, sie verscheuchte den Schlaf und verursachte angstvolle Einbildungen des Gehörs. Ich vermute, daß wir nur aus Furcht vor ihr zu streiten anfingen. Es waren vollständig sinnlose Streitereien, aus den albernsten Anlässen böswillig in die Breite gezerrt. Einmal wollte ich Frieden stiften, da hob Allan Mirmell grimmig die Faust gegen mich, Trevanion schluchzte, und Rachotinsky lief mit verschlungenen Händen und gefletschten Zähnen auf und ab. Und aus welchem Grund dies alles? Wir hatten uns nicht darüber einigen können, ob der Kapitän von Mirmells Schiff blaue oder graue Augen besaß. Wir konnten den Klang unserer Stimmen nicht mehr ertragen; ich selbst zitterte bei der gleichgültigsten Redewendung. Doch das wahre Inferno begann erst, als eines Abends, – es gab Abende, die letzten bleiernen Stunden verwachter Nacht-Tage, – als eines Abends Trevanion, der lesend am Tische saß, ein weißes Tuch über sein Gesicht hängte. Unser Anblick erregte ihm Ekel. Und wir andern hatten im Nu die gleiche Empfindung. Wir stierten wie Bestien, die sich anschickten, einander zu zerfleischen. Täglich um dieselbe Zeit derselbe Vorgang in gesteigerter Abscheulichkeit! In einer solchen Stunde wurde Trevanion von Grauen überwältigt, er hüllte Kopf und Rumpf in den Pelz und stürzte hinaus. Mich erfaßte Besorgnis um ihn und nachdem ich die nötige Schutzkleidung ebenfalls angelegt, folgte ich ihm. Die frische Spur vor der Hütte zeigte, daß er gegen den Gletscher hinaufgegangen war. Über dem Schnee lag eine schwache grünliche Helligkeit. Die Luft war ruhig, aber die Kälte fraß wie ein Brand.

Plötzlich flammte der Himmel vor mir auf. Dichte Wellen von Licht bewegten sich von Südost nach Südwest und schienen unablässig neue Lichtstärken von Südost zu holen. Sie warfen blendende Strahlen zur Erde, und die Farben wechselten von weiß zu grün und gelb. Ich spürte nichts mehr von der Beschwerde des Marsches, das herrliche Phänomen gab mir ein Gefühl des Schwebens. Da erblickte ich Trevanion. Er schaute regungslos in das glühende Firmament. Mich überrieselte es eigen, als ich den entgeisterten Ausdruck seines Gesichts bemerkte. Er ertastete meine Nähe mehr als daß er mich sah; er streckte den Arm gegen das Südlicht und fragte flüsternd, ob ich die Gestalt gewahre. Was für eine Gestalt? flüsterte ich zurück. Mit ungestümer Geberde deutete er. Ich folgte der Richtung. Es ist ein Eisblock, sagte ich. Er preßte die Hände zusammen und drückte sie auf seine Brust. Natalie, hauchte er, Natalie ist es. Wieder überlief es mich. Wir standen auf dem Kirchhof der Welt, und er sah die Gespenster des Lebens. Mit einer hingebenden und flehentlichen Stimme nannte er unaufhörlich den Namen Natalies. Der Gletscher begann im Schein der Aurora rötlich zu leuchten. Und nun war es mir selbst, als erblickte ich ein Weib. Sie winkte mir nicht, sie zog mich nur hin. In ihrem Körper rann durchsichtiges Blut. Aus dem bläulichen Gewand erhoben sich mädchenhafte Schultern. Ihre Hände, obwohl an schlaffen Armen, hatten eine Geste der Abwehr. Ihr Antlitz enthüllte sich nur allmählich wie ein Stern aus Nebeln. Die Züge waren leidend, aber voll von einer unerwarteten Sinnlichkeit. Wir können sie nicht erreichen, sagte Trevanion, und indes er einige Schritte tat, schwand die Lichterscheinung dahin. Eilen wir, ein Schneesturm zieht auf, drängte ich ihn und wies auf einen weißlichen Dunst, der im Süden lag und sich mit unheimlicher Schnelligkeit ausbreitete.

Man mag die übernatürlichen Kräfte skeptisch beurteilen; Man leugne oder erkläre sie; sicher ist, daß jeder Organismus unter bestimmten Voraussetzungen ihrer Einwirkung unterliegt und dann gleich einem Körper, der seinen Schwerpunkt verloren hat, der gewohnten Bahnen spottet. Wir hatten die Gemeinschaft der Menschen aufgekündigt, des Anrechts auf Liebe uns begeben; wir hatten nicht bedacht, daß dort, auch wenn sich das Geschick in Bitterkeit und Haß erfüllt, dennoch ein Strom schwebender Möglichkeiten den Einzelnen umgibt, Möglichkeiten der Liebe, und daß magnetische Berührungen seine Seele ungewußt mit dunkler Zuversicht nähren. Hier aber schuf ein tiefer Wille in uns das Phänomen der Liebe aus dem Nichts; die Verzweiflung gebar ein Schemen, das über uns Gericht hielt, die beleidigte Menschheit nahm Rache. Mirmell und Rachotinsky waren verhältnismäßig nüchterne Charaktere, und gerade sie wurden von der Frauengestalt im Feuerschein der Aurora australis am unwiderstehlichsten gepackt, denn sie sahen, was Trevanion und ich gesehen hatten, es brauchte kaum einen Hinweis, ihr Geist war vorbereitet, ihre Fantasie durch peinigende Wünsche, Wünsche des Schlafs, des Traums und des dumpfen Wachens, Wünsche, wie sie nur der kasteite Leib hegen kann, längst entschlossen, das Unfaßliche zu ergreifen. Es war ein erotischer Wahnsinn, der uns hintrieb. Mit Grauen gestehe ich, daß wir eifersüchtig aufeinander waren. Bei den folgenden Malen entfaltete sich der Glanz der Aurora immer glorioser. In einem mächtigen Bogen flammte das Licht bis zum Zenit und erreichte im Sternbild des Zentauren seine größte Intensität. In jeder Nacht gingen wir aus, um die Aurora zu sehen; schweigend und vermummt marschierte jeder seinen Weg. Aber allzuoft blieb das Firmament schwarz und nur das ferne Feuer des Vulkans lohte rauchverdüstert. Bisweilen stand in wolkenreiner Höhe der Mond wie eine Magnesiumlampe. Die ganze Landschaft glich einer Mondlandschaft. Ich fühlte mich so unirdisch, so außer mir, so nah den letzten Grenzen! Orion und der herrliche Sirius drehten sich in großem Kreis. In der siebenten Nacht erblickten wir die Aurora zum dritten mal. Es war milderes Wetter, und die Vision zeigte sich in starkem Kontur. Wir wanderten keuchend den Gletscher hinan, Trevanion allen voraus. Er schien mir das Wesen eines Somnambulen zu haben. Er war in dieser Zeit so verinnerlicht, daß sein Lächeln wie ein flüchtiger Aufenthalt zwischen Schlummer und Tod wirkte. In seinen Augen wohnten eine Anbetung, eine transzendente Leidenschaft, daß ihn zu betrachten schmerzlich war. Auch in den finstern Nächten suchte er weit draußen auf dem heimtückischen Rücken des Gletschers; einmal hörte ich ihn laut, mit erschütternden Tönen, schreien; er schrie nach ihr. Ihn verlangte nach der Umarmung der Eisjungfrau, und am Morgen sagte er zu mir: wenn sie nicht blind wäre, Henry, sie würde ein Mittel finden, daß ich zu ihr gelangen könnte. Allan Mirmell verfiel auf eine besorgniserregende Art, als ob ein Gift an ihm zehre. Er tappte wie ein Greis. Licht, Licht, murmelte er oft, wenn er aus dem Schlaf emporschrak. Die anstrengenden Märsche nach dem Wohnsitz der bleichen Aurora warfen ihn schließlich entkräftet aufs Lager. Zu meinem Entsetzen bemerkte ich auch an Rachotinsky alle Anzeigen einer krankhaften Melancholie. Stundenlang kauerte er betend auf den Knieen. Er wusch sich nicht mehr; Schmutz, Ruß und Unrat bedeckten ihn. Wodurch ich mich aufrecht erhielt, kann ich nur schwer sagen. Es war Hoffnung in mir. Diese Hoffnung wurde von Tag zu Tag stärker. Und es war noch etwas anderes als Hoffnung, es war Sehnsucht. Immer wenn ich die Aurora sah, schritt ich durch eine Halle aus Eissäulen, an deren Ende mich die belebte Erde grüßte. Die Blinde, die Unerreichbare, das zarte Gebild aus Strahlen und Kristall lehrte mich, daß ich mich selbst lieben solle, mich in den Menschen, mich in der Welt. Der Strahlenbogen, dessen eines Ende sie trug, erschien mir wie eine meisterlich geschwungene Brücke, die den Abgrund der Finsternis überwölbt. Da stand es fest in mir, daß ich Brücken über Abgründe bauen wollte, wirkliche, ja, wirkliche Brücken. Und während ich im Weglosen wanderte, dem blendenden Licht entgegen, wuchs in mir die Lust, Wege anzulegen, denn daß ich ehemals keine Wege mehr für mich gehabt, das lag daran, daß ich keine geschaffen. Das erkannte ich jetzt. Wege überwinden die Trägheit; je mehr Wege desto mehr Bewegung, desto mehr Wille, desto mehr Umwandlung. Auf den Wallfahrten zur Aurora habe ich den Gedanken an Brücken und Wege lieben gelernt, und dies bewahrte mich vor dem Verderben.

In der letzten Nacht vor dem Aufgang der Sonne sah ich Trevanion zum letztenmal. Dämmerung lag auf dem Eis. Der Gletscher zuckte, Krämpfe in seinem Innern zerbogen seine kalte Hülle. Auch der Vulkan grollte, und die Schwefelfumarolen auf dem Gipfel waren von gelben Dünsten umzogen. Trevanion war an meiner Seite, als das Südlicht aufflammte, nur in mattem Schein freilich, bloß wie zum Abschied. Noch ehe es verblaßt war, rief ich Trevanion zu, wir müßten hinunter laufen, der Blizzard sei im Anzug. Er schüttelte den Kopf und beachtete meine Warnung nicht. Er ging weiter. Ich wußte nicht, ob ich ihm folgen oder mich in Sicherheit bringen sollte, und blieb unentschieden stehen. Der Sturm fing an zu brausen, da sah ich, daß Trevanion, der schon ziemlich weit oben war, jählings verschwand. Offenbar war eine Schneebrücke geborsten, und er war in die Spalte gestürzt. Ich suchte die Stelle im Gedächtnis zu behalten, denn nacheilen konnte ich ihm nicht, die Atmosphäre verfinsterte sich rasch, ich warf mich flach auf den Boden, und um nicht fortgeschleudert zu werden, klammerte ich meine Arme um einen Eisblock. Es war eine Raserei in den Elementen, die das Herz zum Stocken brachte. Trotzdem waren meine Gedanken nur mit Trevanion beschäftigt; es war, als ob sich ein Tor im geheimnisvollen Haus der Aurora geöffnet hätte, um ihn einzulassen. Wie lange ich regungslos und mit Anspannung aller Kräfte so lag, weiß ich nicht; als die Heftigkeit des Orkans geringer wurde, kroch ich auf Händen und Füßen gegen die Hütte hinab, und erst als ich den Schutz einer Felswand erreicht hatte, wagte ich mich zu erheben.

Rachotinsky, von einem mechanischen und beinahe verbissenen Pflichtbewußtsein an das Lager Mirmells geschmiedet, der mit dem Tode rang, war nur mühsam zu überreden, mich auf den Gletscher zu begleiten. Wir warteten, bis der Sturm vorüber war, dann gingen wir, mit Stricken versehen, hinauf. Meine lauten Rufe blieben unbeantwortet. Das Schneetreiben hatte jede Spur verwischt. Wohl entdeckte ich in der Richtung, in der Trevanion verschwunden war, eine offene Spalte, aber sie war breit, ein bodenloser Schlund. Ich schrie hinab, ich warf den Strick hinab, umsonst. Da sagte Rachotinsky, der an einer mächtigen Eisplatte lehnte, mit heiserer Stimme: „Die Sonne“. Ein glühendes Segment tauchte über dem Horizont empor. Alles Land war von einem brennenden Scharlach übergossen.

Wie viele Tage vergingen, bis das Schiff in Sicht kam, dessen entsinne ich mich nicht mehr. Ich entsinne mich bloß, daß ich fest überzeugt war, es müsse kommen, fest überzeugt, mein Schicksal sei an der Wende angelangt. Eine zweite antarktische Nacht hätte ich nicht überlebt. Was sich an Bereitschaft in mir gesammelt hatte, durfte und konnte nicht betrogen werden. Das Geschick ist mir verschuldet, sagte ich mir, und ich trotzte ihm die Entscheidung ab. Allan Mirmell war schon längst unter die Erde gesenkt, als sein Schiff an der Küste anlegte. Der Kapitän, tief besorgt um unser Los und den Entschluß seines Herrn als eine traurige Verirrung betrachtend, hatte es einfach riskiert, den erhaltenen Befehlen zuwider zu handeln. Es war hohe Zeit, daß sie kamen; ich war nahe daran, in Gesellschaft des schwermütigen und schweigenden Rachotinsky verrückt zu werden. Als ich das Deck des Schiffes betrat, hatte ich das Gefühl von Auferstehung. Man fragte nach unseren Erlebnissen. Rachotinsky konnte nicht antworten; er hatte den Verstand verloren. Was mich betrifft, so war ich unfähig, etwas anderes mitzuteilen als die äußerlichsten Vorgänge, die sich in drei Sätzen wiedergeben lassen. Ich habe niemals und zu keinem Menschen darüber gesprochen bis auf den heutigen Tag. Ich bat den Kapitän, mich in Sydney in Australien ans Land zu setzen, und dort habe ich mein Leben von vorn angefangen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel